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Ich hatte mir die Wochen vor dem Beginn meines Praktikums endlich mal wieder Urlaub gegönnt und temporär zu verdrängen versucht, dass ich in einer Psychiatrie arbeiten werden muss – vielleicht gleichermaßen der Angst vor der Anstalt als auch dem Unwillen geschuldet, ein weiteres Mal zum Praktikumsprekariat zu gehören und unentgeltlich arbeiten gehen zu müssen. Eine letzte Belohnung und den krönenden Abschluss dieser Ferien stellt ein Festivalbesuch dar und eng geplant, wie es sich ergeben hatte, bin ich erst morgens halb zwei wieder daheim angekommen.

Schon auf der siebenstündigen Rückreise befinde ich mich in einem unwirklichen Zustand, psychiatrisch ausgedrückt: in einem Zustand der Derealisation und Depersonalisation. Gerade war ich noch in einer ausgelassenen und glücklichen Stimmung, habe viel getanzt und gelacht, habe alte Freund*innen getroffen und neue gemacht. Ich war eingetaucht in die Atmosphäre befreit feiernder Menschen, die sich ein paar Tage einer bunten, liebesüberströmten Heilen-Welt-Illusion hingeben. Hier waren die Menschen geschminkt und verkleidet. Sie waren so, wie sie sein wollten oder gerne wären, zwanglos und unkontrolliert, empathisch und solidarisch, hatten gedopte Körper, die nicht müde wurden, und Gedanken und Gefühle, die kurzzeitig wahrnehmen konnten, was Anderen verborgen blieb. Es war die Zelebration des kollektiven Ausnahmezustands. Es war ein Festival der Sinne und der Sinnlichkeit, mit vielerlei Unsinn und noch mehr Bedeutung. Doch nun sitze ich im Bus, auf dem Weg ins Praktikum, auf dem Weg in die Psychiatrie. Ich habe Angst vor der Psychiatrie, da sie mir wie eine Inversion des Festivals erscheint, eine schrecklichere Heterotopie22: ein einfarbiger, klinischer Ort, ein Ort mit viel Leid, Trauer und Gewalt, ein Ort mit geschlossenen Türen, klaren Regeln und einer hierarchischen Ordnung, ein Ort an dem die Andersartigkeit und der Ausnahmezustand Anzeichen von individuellen Krankheiten sind, ein Ort in dem ebenfalls viele Drogen konsumiert werden, aber aus ganz anderen Gründen und mit ganz anderen Folgen, ein Ort an dem auch die zwischenmenschlichen Beziehungen so zentral scheinen und doch häufig gerade durch einen Mangel, durch Machtverhältnisse und Abhängigkeiten gekennzeichnet sind.

Doch neben dieser zugrundeliegenden surrealen Stimmungslage läuft eigentlich alles nach Plan. Ich stehe um 7 Uhr auf, frühstücke, verkleide mich mit meinem Hemd, suche mir ein Notizbuch aus dem Schrank, um meine Feldnotizen machen zu können und radele pünktlich los. In der Klinik angekommen erhalte ich im Sekretariat einen Schlüssel für die Offenheit ausstrahlenden, aber stets abgeschlossenen Milchglastüren der Klinik. Ich werde gebeten, draußen Platz zu nehmen und einen kurzen Moment auf die morgendliche Klinikkonferenz zu warten. Dort soll auch entschieden werden, zu welcher Station ich zugeteilt werde. Das erhöhte meine Aufregung, da ich lieber in einem eins-zu-eins-Gespräch erfahren hätte, ›sie werden der Station XY zugeteilt‹, als in einer Gruppe über mich reden zu lassen. Damit erfahre ich mehr als einen psychiatrischen Initiationsritus, denn das Reden in Gruppen, über andere und über sich selbst, ist ein weiteres zentrales Ritual in der Klinik. Auf Seiten der Professionellen werden so Informationen ausgetauscht, Einschätzungen validiert und mehr oder weniger kollektiv Entscheidungen getroffen, auf Seiten der Patient*innen ist die Gruppe währenddessen immer ein Art ›Versuchsraum‹, in der die Interaktion mit Anderen für die ›richtige‹ Welt geübt werden kann und auch ein Korrektiv, das durch beständige Rückmeldungen die Wahrnehmung der Patient*innen korrigiert, lenkt und formt (die Gruppe, die Klausner 2015: 142, als »das Rückgrat der modernen Psychiatrie-Reform« bezeichnet). Als die Psychologin, die auch das Bewerbungsgespräch vor einem Jahr geführt hat, in den Gang kommt, begrüßt sie mich mit den Worten »Hallo Herr Iltzsche. Sie können sich doch noch an mich erinnern? Gut. Kommen sie rein. Setzen sie sich irgendwo hin.« Ich setze mich natürlich nicht irgendwo hin, sondern begebe mich hinter die U-Form der Konferenztische, da ich sehe, dass hinter den Tischen, an der Wand, noch eine weitere Reihe aus Plastikstühlen und Hockern steht, auf denen auch schon ein paar jüngere Personen sitzen, die zum Teil auch keinen Kittel tragen. Die Sitzung geht für mich viel zu schnell, um mehr zu verstehen, als dass hier anscheinend alle Neuzugänge und Entlassungen besprochen werden, die über das Wochenende stattgefunden haben. Kurz vor Abschluss der Sitzung werde ich als »neues Mitglied des Teams auf Station XY« vorgestellt, wozu ich unbeholfen aufstehe und in die Runde lächele.

Nach der Klinikkonferenz folge ich den Ärzt*innen auf meine neue Station. Im Stützpunkt erhalte ich einen weißen Kittel (das sei so »besser, da man dich dann sofort einordnen kann«) und meine äußerliche Metamorphose gab mir auch einen innerlichen Kraftzuwachs. Der Kittel gab mir Selbstvertrauen, im Kittel war ich sicher. Ich war plötzlich ein Arzt, männlich, weise und sehr weiß.

Doch diese Sicherheit war fragil und kurzlebig. So beschlich mich besonders an diesem ersten Tag, wahrscheinlich unterstützt durch die kurzen und unregelmäßigen Schlafphasen der letzten Tage, mehrfach das skurrile Gefühl in einem Film zu sein. Ich erschrak dabei besonders in der Visite mit einem ›cannabisabhängigen‹ und ›depressiven‹ Patienten in meinem Alter, der ein paar Karrierezufälle weiter vielleicht auch ich hätte sein können.

Gegendiagnose II

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