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7.1 Die Versorgung im Spannungsfeld von Akutmedizin und Unterstützungsbedarf bei älteren Patienten

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Anna Zimmer lebt allein in einem großen Haus in einem Dorf unweit eines größeren Zentrums in Baden-Württemberg. Sie ist 91. Ihr Mann ist nach langer Pflege vor 5 Jahren gestorben. Es ist Samstag nach Ostern. Sie fährt – weil die Beine nicht mehr so gut tragen – noch immer selbst mit dem Auto zum Einkaufen, auch weil der ÖPNV auf dem Land nicht so gut ausgebaut ist. Heute fällt es ihr noch schwerer, die Einkaufstasche ins Haus zu tragen. „Das Japsen ist schlimmer“, wie sie sagt. Sie legt sich ins Bett. Das Handblutdruckmessgerät, das oft merkwürdige Werte anzeigt, behauptet: Blutdruck 70 zu 40, Puls 144. Sie ruft ihre Freundin, eine Nachbarin an. Diese findet Frau Zimmer kränkelnd und blass. Ihr Hausarzt ist in Osterferien. Der ärztliche Notdienst wird gerufen. Dieser lässt auf sich warten, muss dreimal gebeten werden. Schließlich wird Anna Zimmer ins nächstgelegene Kreiskrankenhaus eingewiesen.

Stunden später, inzwischen ist es früher Abend: Frau Zimmer liegt auf der Intensivstation mit Verdacht auf Lungenembolie, manifestes prärenales Nierenversagen und kardiogenen Schock. Ihr mittlerer arterieller Blutdruck beträgt 60 mmHg, sie hat eine schwere Laktatazidose. Die Patientenverfügung besagt: keine Intensivtherapie. Frau Zimmer spricht mit schwacher Stimme am Telefon mit ihren Söhnen, verabschiedet sich.

Der Einstieg in die Fallvignette zeigt, wie rasch sich aus einer gesundheitsförderlich orientierten hausärztlichen Versorgung mit leitliniengerechter Behandlung einer alten Dame eine auf den ersten Blick zwingend pathogenetisch orientierte Versorgung eines medizinischen Notfalls entwickelt. Dem erfahrenen Intensivmediziner ist die Situation klar: Aus einer unbemerkt entstandenen tiefen Beinvenenthrombose hat sich ein Thrombus gelöst und einen bedeutsamen Teil des Lungengefäßbettes verlegt. Weil die Herzklappen der alten Dame allesamt nicht mehr richtig schließen, ist die rechte Herzkammer überfordert. Damit strömt gerade noch genug Blut durch die Lunge zurück zur linken Herzkammer, um das Gehirn zu versorgen und auch das Herz, aber schon nicht mehr die Nieren. Pathogenetisch ist klar, was zu tun ist: den Thrombus möglichst schnell auflösen, das Herz intensivmedizinisch per Katecholamin-Dauerinfusion vorübergehend anzupeitschen und so, fein dosiert und engmaschig kontrolliert, den Kreislauf der Patientin und die Blutversorgung lebenswichtiger Organe wieder zu stabilisieren.

Aber schon in diesem Stadium stellen sich dem behandelnden Intensivmediziner eher salutogenetische Fragen: Wird sich die Niere erholen? Wie wird sich die Niere erholen? Wird sich das Herz erholen? Was kann die Erholung maximal unterstützen? Wird sich die alte Dame insgesamt wieder erholen? Wird sie noch einmal nach Hause gehen können? Wird sie ein Pflegefall? Was wünscht die alte Dame? Ist die Patientenverfügung, „keine intensivmedizinischen Maßnahmen“, strikt einzuhalten? Sie war sich bewusst, dass sie im jetzigen Zustand nur noch Stunden zu leben hätte und verabschiedete sich am Telefon von ihren Kindern. Ist das unbedingt zu respektieren, oder ist nicht ein Versuch, den Kreislauf mit begrenzter Intensivmedizin zu stabilisieren, gerechtfertigt? Wer autorisiert das Vorgehen? Und welche Risiken einer Verschlimmerung und Schwächung Selbstheilungskräfte der 91-Jährigen würde die rein pathogenetisch folgerichtige Behandlung in sich bergen? Angenommen, es gelänge, die alte Dame zu stabilisieren: Wer kümmert sich um sie? Wie ginge es nach der Entlassung weiter? All diese Fragen schwirrten dem Intensivmediziner an diesem Abend durch den Kopf, während er mit den Söhnen der alten Dame, einer davon zufällig aus einem Gesundheitsberuf, telefonierte. Wie oft in solchen Situationen hatte der behandelnde Intensivmediziner außer der Patientenverfügung und der aktuellen Sachlage keine weitere Information zur Entscheidungsfindung über die weitere Behandlung. Lediglich den Medikamentenplan, den die alte Dame mitgebracht hatte und eine Kopie eines Arztberichts vom kardiologischen Kollegen aus dem Vorjahr, die der Patientenverfügung beilag.

Integrative Medizin als Gesundheitsversorgung der Zukunft tritt mit dem Leistungsversprechen an, auch in solchen Situationen Orientierung und bessere Zusammenarbeit der verschiedenen Berufsgruppen zu erleichtern (Esch u. Brinkhaus 2020; Mezzich 2014). Sie stellt die Salutogenese, also das Wissen um die Gesundheit fördernde oder erhaltende Prozesse gleichberechtigt neben die Pathogenese (Lindstrom u. Eriksson 2005). Letztere beschreibt das Wissen um die Ursachen von Krankheiten, die Risikofaktoren für Ursachen und die Möglichkeiten, solche Risiken früh zu erkennen und das Entstehen von Krankheit risikogeleitet zu vermeiden. Integrative Medizin bezieht sich in ihrem Ansatz auf die Bewegung der Patientenzentrierten Medizin und deren Grundannahmen (Davies 2008; Klancnik Gruden et al. 2020; Machta et al. 2019). In einer Konsensus-Konferenz stellte das International College of Person-Centered Medicine (ICPCM) im Mai 2014 Grundprinzipien auf und forderte, damit es nicht bei Absichtserklärungen bleibt, konkrete Aktion in 10 Handlungsfeldern (Mezzich 2014).

Das Kapitel beschreibt darum in aller Kürze zuerst die Ausgangssituation der Gesundheitsversorgung auf dem Land sowie die zu erwartenden und damit die Rahmenbedingungen setzenden, kontextuellen und gesellschaftlichen Makrotrends. Das Kapitel geht dann kurz ein auf ein vom Forum Gesundheitsstandort Baden-Württemberg und dem Ministerium für Wissenschaft und Kultur gefördertes Modellvorhaben zur Sicherung der hausärztlichen Versorgung im ländlichen Raum in Baden-Württemberg. Es zeigt auf, wie dieses neue Versorgungskonzept unter Würdigung der entsprechenden Rahmenbedingungen auf die erwähnten Grundprinzipien und die 10 Handlungsfelder der Patientenzentrierten Medizin eingeht.

Das Dorf der alten Dame liegt in der Region Nordschwarzwald. Auf der Landkarte sieht das nicht besonders abgeschieden aus: nicht weit von Stuttgart, im Norden die Großstadt Pforzheim, im Osten die Universitätsstadt Tübingen, im Süden ein Zentrum für Medizintechnik, Tuttlingen, im Westen die Rheinebene von Karlsruhe bis Freiburg, alles verkehrstechnisch gut angebunden über den von Stuttgart nach Singen ziehenden Strang der A 81 oder die Gäubahn von Stuttgart nach Zürich. Wer im Flugzeug auf der Anflugroute nach Zürich darüber fliegt, sieht einen hübschen Wechsel von Wald, Wiesen und Dörfern. Berühmte Menschen und Produkte kommen aus dieser Region, etwa Jürgen Klopp und der Fischer-Dübel. Wer aber hineinfährt in die tief in die Bergzüge eingeschnittenen Täler des Nordschwarzwalds, spürt die Abgeschiedenheit. Stuttgart, Karlsruhe, Sindelfingen oder Tübingen – das ist weit weg.

Es wundert deshalb nicht, dass von über 100 Hausärzten in der Region in den nächsten 5 Jahren die Hälfte altersbedingt ausscheiden wird. Nachwuchs bleibt aus. Von 100 Medizinstudierenden träumt vielleicht einer von einer Einzelpraxis in einer ländlichen Region. Um die Zukunft der kleinen und mittleren Krankenhäuser in solchen Regionen ist es nicht besser bestellt. Trotz geschickter und umsichtiger kaufmännischer Geschäftsführung schreiben sie rote Zahlen. Die Behandlung von Fällen wie dem der alten Dame rechnet sich im DRG-System nicht.

Wie sieht die Zukunft vor Ort dann aus? Eine rein telemedizinische Versorgung? Eine Arztpraxis ohne Arzt, bedient durch ein Call-Center aus Bangalore, unternehmerisch geleitet von einem deutschen Krankenhauskonzern? Rezepte, die vom Call Center elektronisch ausgestellt und Medikamente, die im Schließfach bei der örtlichen Sparkasse wie bei einer DHL Packstation abgeholt werden? Falls die alte Dame ein Tablet bedienen kann, erklärt ein freundlicher, sogar schwäbisch sprechender junger Arzt über das Internet, wie sie die Medikamente einnehmen muss und bei welchen Anzeichen von Veränderung sie das Call-Center anrufen soll? Informationen über individuell zu erwartende Nebenwirkungen finden sich nach Auslesen des QR-Codes in einem gesicherten Video-Kanal, sowie Tipps der Digitalapotheke für naturheilkundlich basierte Nahrungsergänzung? Ist das die Integrative Medizin der Zukunft auf dem Land in der realen betriebswirtschaftlichen Umsetzung des zukünftigen Gesundheitssystems (Azzopardi-Muscat 2019; Blandford 2018; Gordon et al. 2020)?

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