Читать книгу Integrative Medizin und Gesundheit - Группа авторов - Страница 79

7.2 Integrierte Medizin in der hausärztlichen Praxis auf dem Land: Utopie oder Chance auf Umsetzung?

Оглавление

Das Academic Consortium for Integrative Medicine and Health (www.imconsortium.org) definiert Integrative Medizin wie folgt:

„Integrative Medicine […] reaffirms the importance of the relationship between practitioner and patient, focuses on the whole person, is informed by evidence, and makes use of all appropriate therapeutic and lifestyle approaches, healthcare professionals and disciplines to achieve optimal health and healing.“

Wie könnte eine Versorgung der Zukunft aussehen, die im Dorf der alten Dame im Nordschwarzwald diesen Anspruch umsetzt, aber zugleich den Makrotrend der Digitalisierung, der Abwendung junger Ärzte vom Lebensmodell der hausärztlichen Einzelpraxis auf dem Land und den Wunsch nach vielen Fachberufen im Gesundheitswesen nach stärkerer Integration, Verantwortung und fachlicher Kompetenz aufgreift?

Nach dem Zweiten Weltkrieg – Digitalisierung, DRG und digitale Gesundheitsanwendungen noch unvorstellbar weit in der Zukunft – bot eine von einem meist männlichen Inhaber geführte Einzelpraxis auf dem Land ein vielversprechendes, attraktives Arbeits- und Lebensumfeld für junge Ärzte und deren Familien. Häufig konnte die Lebenspartnerin in die Gestaltung und Führung der Praxis einbezogen werden. Die Vergütungssysteme boten ein gutes Auskommen, neben Bürgermeister, Pfarrer und Schuldirektor war der Arzt im Dorf eine sozial hoch geachtete Respektsperson. Die Notizen erfolgten mangels PC in der händisch geführten Akte. Die Basis war die gelehrte Schulmedizin, allerdings in hoher individueller ärztlicher Variabilität und Auslegung. Der frühere Hausarzt der Mutter der alten Dame kannte die Familie, hatte eine innere Repräsentation der Gestalt der Erkrankungsgeschichten aller Beteiligten, wusste um den individuellen sozialen Kontext und seine Wechselbeziehungen in der Gemeinde.

Doch die Rahmenbedingungen sind zwei Generationen später grundsätzlich andere geworden und vielfach ausführlich und hinlänglich beschrieben. Junge Menschen wünschen sich heute Gleichberechtigung in Beruf und Familie und benötigen entsprechende infrastrukturelle Unterstützung um zwei Berufe, Familie und soziales Leben miteinander vereinbaren zu können. Junge Ärztinnen und Ärzte zeigen zudem wenig Interesse an der unternehmerischen Verantwortung in der klassischen Einzelpraxis in der heute viel stärker regulierten Versorgungsrealität. Dazu bedürfen heutige Patienten aufgrund der demografischen Veränderungen und der damit verbundenen komplexeren Erkrankungsmuster ein erhöhtes Maß an Betreuung und Fürsorge. In viel stärkerem Maße müssen andere nicht-ärztliche Ressourcen der Zivilgesellschaft miteinbezogen werden (Machta 2019; Annis et al. 2016; Coombs et al. 2011). Darüber hinaus sind komplementäre Behandlungsansätze weiterhin in der Bevölkerung erwünscht, nachgefragt und akzeptiert. Ob die universitäre Schulmedizin das als Habakuk abtut, sich vorsichtig öffnet oder wie in den USA Institute und Lehrstühle einrichtet, welche das Zusammenwirken von klassischer Schulmedizin und ergänzenden „alternativen“ Heilmethoden systematisch untersuchen – die alte Dame im Dorf im Nordschwarzwald kümmert das wenig. Sie sucht für bestimmte Anliegen wie etwa ihr periodisch wiederkehrendes quälendes Hautjucken oder ihren Abgeschiedenheitskummer an Novembertagen schon immer die Tochter des früheren Handauflegers auf, ihre Heilpraktikerin. Die hört geduldig zu und nimmt sich Zeit.

Kann Integrierte Medizin oder Patientenzentrierte Medizin hier einen Zukunftsweg weisen – oder sind das nur neue Worthülsen für alte Schläuche (Esch u. Brinkhaus 2020; McMillan et al. 2013)? Aus der Perspektive des ländlichen Raums ist der Mangel an Hausärzten das Problem – ob Integrierte Medizin oder einfach nur schulmedizinische Grundversorgung ist zunächst nachrangig. Wird die Herausforderung über eine Hausarztquote mit Verpflichtung zu lösen sein? Oder besser über innovative neue Versorgungsmodelle in multiprofessionellen Teams (Coombs et al. 2011; Chiang et al. 2018; Everett et al. 2016; Society of Teachers of Family Medicine 2012)? Wir an der Medizinischen Fakultät Mannheim haben uns für den zweiten Weg entschieden, und gemeinsam mit Studierenden, Patientenvertretern, nicht-ärztlichen Fachkräften ein Konzept für eine Neugestaltung einer patientenzentrierten, primärärztlichen Versorgung im ländlichen Raum entworfen. Ob sich das Konzept mit dem sperrigen Titel „Ambulante Integrierte Gesundheitszentren zur Optimierung der ärztlichen Versorgung und Pflege im ländlichen Raum“, aber griffigeren Kürzel AMBIGOAL tatsächlich in die Praxis wird umsetzen lassen, ist noch offen. Ein ganzes Bündel an Fragen soll in den nächsten zwei Jahren geklärt und in praktische, auch betriebswirtschaftlich nachhaltige Prozesse übersetzt werden. Im Kern orientiert sich das Vorhaben an den Grundideen der Person- and People-centered Integrated Care (PPCIC). Die Grundidee von AMBIGOAL ist die Zusammenarbeit von Ärzten und (auch akademisch) weitergebildeten medizinischen Fachpersonen in einem Team rund um die Anliegen des Patienten und unter Nutzung digitaler Lösungen im Gesundheitswesen zur Unterstützung der Prozesse.

Im Vordergrund steht die Entwicklung neuer Prozessabläufe, welche die horizontale Integration mit anderen Beteiligten in der Kommune aber auch in der Familie und im Kreis der Angehörigen einschließt – von Pflege bis hin zu zivilgesellschaftlichen Ressourcen wie des bürgerlichen Engagements (Machta 2019; McMillan et al. 2013; Larson u. Frogner 2019; Park et al. 2018; Rathert et al. 2013; van Vught et al. 2014). Die Grundidee ist ein Primärversorgungszentrum in dem Ärzte Teile ihrer heutigen Aufgaben an entsprechend qualifizierte nicht-ärztliche Fachberufe delegieren (z.B. Hausbesuch bei chronisch kranken Patienten) und vor allem bei komplexen Situationen, in denen Versorgung, Unterstützung und Gesundheitsförderung sowie soziale Aspekte bedeutsam sind, die horizontale Vernetzung mit anderen in der Kommune vorhandenen Ressourcen zu schaffen – von Pflegedienst über Sozialstation bis zu nachbarschaftlicher Hilfe. Vorbilder dafür gibt es in Deutschland, nur die Finanzierung ist bislang nicht gelöst. Der zweite Pfeiler betrifft die vertikale Vernetzung, d.h. das Einbinden spezialisierter Versorgung, seien es Fachärzte, regionale Krankenhäuser bis hin zu universitärer Spitzenmedizin. Digitalisierung ermöglicht, dass vieles, das früher eine Reise des Patienten zum Ort des Spezialwissens erforderte, heute digital im Primärversorgungszentrum angebunden werden kann.

Das Konzept muss von vornherein zwei sich diametral widersprechende Trends berücksichtigen: Einerseits werden in der näheren Zukunft nur etwa die Hälfte der heutigen ärztlichen Versorgungsstunden für den persönlichen Kontakt in einer ländlichen Region zur Verfügung stehen, andererseits erwarten Patienten und Betroffene eine intensivere direkte persönlichen Zuwendung im unmittelbaren Kontakt – also mehr Zeit statt weniger.

Der Kern des Konzepts ist eine funktionierende, arbeitsteilige, multiprofessionelle Zusammenarbeit – horizontal und vertikal sowie über Sektorengrenzen hinweg verbunden mit der Organisation der Prozesse nicht primär nach betriebswirtschaftlichen Optimierungsmöglichkeiten der Anbieter, sondern, soweit wie möglich, nach dem Primat der Patientenzentriertheit. Dies wird nur durch den geschickten Einsatz neuer Berufsfelder und digitaler Lösungen, von denen viele erst noch für diesen Zweck entwickelt werden müssen, gelingen (Azzopardi-Muscat et al. 2019; Blandford et al. 2018; Lennon et al. 2017; O’Connor et al. 2016). Zukunftsfähig ist eher, ein solches Konzept dort zu verwirklichen, wo mangels Nachfolge die primärärztliche Versorgung unmittelbar zusammenzubrechen droht. Die Herausforderung für das AMBIGOAL-Konzept ist, wie die eher überlappenden und allgemeinen Grundforderungen der PPCIC Geneva Convention über die in der Convention benannten zehn Handlungsfelder in die konkrete Praxis umgesetzt werden.

Die Grundforderungen sind:

1. Eine integrierte Beziehung zwischen den Personen, die Hilfe suchen und den Personen der Heilberufe durch ein Miteingehen auf die körperlichen, geistigen, sozialen und spirituellen Bedürfnisse der ganzen Person, einschließlich ihrer Stärken und Schwächen. Ergänzt durch konsequentes Miteinbeziehen der jeweiligen Gesundheits- und Lebensziele

2. Umsetzung der PPCIC unter Einbezug des gesamten sozialen (und familiären) Kontextes

3. Koordination der Gesundheitsfürsorge über den gesamten Lebensweg eines Menschen mit Fokus darauf, durch Förderung von Gesundheit, die Krankheitslast der Menschen in den Gemeinschaften zu verringern

4. Förderung der vertikalen Integration innerhalb des Gesundheitswesens

5. Horizontale Integration der Gesundheitsversorgung durch die koordinierte Planung der gemeindenahen Leistungserbringung in den Gemeinden und Regionen über mehrere gesellschaftlichen Sektoren hinweg

Wie kann die erste Forderung, die Integration und das Eingehen auf den ganzen Menschen in einem multiprofessionellen Team, das sich um Anna Zimmer kümmert, bewältigt werden? Ihr „alter“ Hausarzt kannte noch alle Facetten seiner Patienten aus der jahrzehntelangen Betreuung, den Hausbesuchen, den Geschichten auf dem Dorffest, den Begräbnissen, den Hochzeiten, den Geburten, den Taufen oder etwa den Berichten seiner Kinder über ihre Lehrerin Anna Zimmer. Diese Facetten fügten sich für den alten Hausarzt zu einer fluiden, sich entlang des Lebenswegs entwickelten inneren Repräsentanz zusammen. Dann reichte im Einzelfall auch eine ganz kurze Konsultation für das Beziehungsupdate. Wer aber hat in einem multiprofessionellen Team der Zukunft die Zeit, diese Facetten zu erfragen, diese „fluide Gestalt“ zu pflegen und für die anderen im Team verfügbar zu machen? In der Hochschulambulanz in Witten nehmen sich ein Arzt und eine nichtärztliche Fachperson jeweils mindestens eine halbe Stunde Zeit für die Erstkonsultation und reflektieren anschießend im Team die Bedarfslage des Patienten – im Hinblick auf die Chancen der Krankheitsbehandlung und im Hinblick auf die Förderung der Gesundheit (Machta et al. 2019; Esch et al. 2013). Der aktuelle Vergütungskontext macht wenig Hoffnung auf eine dafür ausreichend dotierte ärztliche EBM-Ziffer für diese Herangehensweise im Alltag.

Was aber, wenn, wie bei AMBIGOAL geplant, aufbauend auf die Forschung zu Patient Reported Outcome Measures digitale Lösungen, etwa computeradaptive Fragebogen auf einem Tablet vor der Konsultation oder im Wartezimmer eingesetzt werden? Wenn diese ersten Ergebnisse aus der Perspektive des Patienten dann so aufbereitet und visualisiert werden, dass darauf aufbauend eine fachkundige Person mit Anna Zimmer die Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Erfüllung der eigenen Gesundheits- und Lebensziele bespricht (Hudon et al. 2011; Rosenzveig et al. 2014; Winn et al. 2015)? Was, wenn Anna Zimmer oder ihre Vertrauensperson wie im Open-Notes-Ansatz auch Zugang, Zugriff und Möglichkeit zur Änderung und Aktualisierung bekommen (Esch et al. 2016; Goldzweig 2017)?

Die zweite Forderung erkennt an, dass „die Gesundheit der Menschen von untrennbaren Beziehungen zu anderen Menschen mit unterschiedlichen Zielen, Traditionen und Werten abhängt.“ Es ist notwendig, aber nicht hinreichend, nur die Betroffenen an Entscheidungen über die eigene Gesundheit zu beteiligen. Vielmehr müssten die Wechselwirkung und Rückwirkung auf die Gemeinschaft mitberücksichtigt werden (Annis et al. 2016; Society of Teachers of Family Medicine 2015). In ganz besonderem Maße sind hier Angehörige in die Versorgung und Pflege insbesondere älterer Menschen im ländlichen Raum eingebunden. Was aber, wenn, wie bei Anna Zimmer, Angehörige weit entfernt wohnen? Wie können andere Menschen im Beziehungssystem, im Quartierssystem, im sozioökonomischen System einbezogen werden? Wer kann in einem multiprofessionellen Team solche Prozesse unterstützen, wer führt die erforderlichen Gespräche? Könnten diese Prozesse digital sinnvoll unterstützt werden? Was lässt sich von hochstrukturierten und digitalisiert ineinandergreifenden Wertschöpfungsketten, wie z.B. in der Automobilindustrie, lernen? Wie werden im System die notwendigen Anreize geschaffen, das größere Bild und den gesamten Kontext zu berücksichtigen?

Die dritte Forderung der Geneva Declaration ist Gesundheitsfürsorge über den gesamten Lebensweg mit dem Ziel, die Krankheitslast in der Bevölkerung zu senken. Hier besteht weniger ein Wissensproblem als ein Umsetzungsproblem. Auf der individuellen Ebene bieten heute schon Krankenkassen wie auch zahlreiche Betriebe umfassende und zum Teil sorgfältig abgestimmte Programme zur Gesundheitsförderung an, aber die Inanspruchnahme ist noch immer überschaubar. Welche Rolle können hier kombiniert digitale-analoge Lösungen spielen? Wie lassen sich auch ältere Menschen in die Gesundheitsförderung einbinden? Welche Ausbildung benötigen die darin tätigen nicht-ärztlichen Fachpersonen? Gerade die horizontale kommunale Integration aus dem Gesundheitssektor hinaus eröffnet Chancen auf Umsetzung in den Lebenswelten.

Wie aber wird die konkrete Quervernetzung mit anderen gesundheitsrelevanten Bereichen der Gesellschaft wie Bildung, Sozialfürsorge, Beschäftigung, Wohnen, Transport, Justiz, Finanzen und ökologischem Management verwirklicht? Dies ist eine weitere Forderung der Geneva Declaration. Eine kleine Gemeinde, Michelfeld im Landkreis Schwäbisch-Hall, hat dies aus eigenen Ressourcen im Rahmen eines familienpolitischen Gesamtkonzepts für ihre Kinder seit 2009 mit überragendem Erfolg nachhaltig umgesetzt. Von verbesserter Bewegungskompetenz über geringere Fördernotwendigkeit beim Schuleintritt bis zu den Fähigkeitstests in der dritten Klasse verbesserten sich Schlüsselkennziffern. Unser Versuch, das neue „Normal“ aus Michelfeld auf eine gut achtmal größere Kommune ohne Einbindung des Gesundheitswesens zu skalieren, verlief im Sand.

Diese Arbeiten mündeten darin, die primärärztliche Versorgung aus der Systemtheorie heraus als für reine Gesundheitsförderung nicht zwingend notwendigen (Michelfeld, Kinder), aber – sobald auch Behandlungsoptionen dazukommen – unverzichtbar wichtigen Netzwerkknoten im sozialen System einer Kommune zu verstehen. Daraus resultiert als Teilprojekt des AMBIGOAL-Vorhabens, explizit die horizontale Vernetzung in die zivilgesellschaftlichen Ressourcen voranzubringen und von bestehenden erfolgreichen oder partiell erfolgreichen Projekten gerade zur Gesundheitsförderung oder Pflege in Kommunen zu lernen. Wer sind dann im multiprofessionellen Team die dafür tatsächlich handelnden Personen? Welche Befähigung brauchen sie für den qualifizierten, sektorenübergreifenden Austausch, welchen Mehrwert müssen welche gesellschaftlichen Sektoren erwarten dürfen, welche Prozesse müssen abgebildet und eingebettet werden, damit es nicht nur beim Austausch über die Idee bleibt (Davies 2008; van Vught et al. 2014; Esch et al. 2011)? Das werden wir in geförderten Modellprojekten für eine sektorenübergreifende Integration am Beispiel etwa von Kindern im Vorschulalter mit drohender Entwicklungsverzögerung in einer Gemeinde bei Heidelberg untersuchen oder am Beispiel einer verbesserten Integration von ambulanter Pflege in die primärärztliche Versorgung im Landkreis Konstanz, u.a. unter Nutzung digitaler Unterstützungsmaßnahmen.

Die letzte Forderung der Geneva Declaration zielt auf eine bessere vertikale Integration im Gesundheitswesen von Primärversorgern und Spezialisten. Aus Sicht von Anna Zimmer wäre es überaus wünschenswert, wenn ihr zukünftiges primärärztliches Versorgungszentrum die notwendigen Konsultationen mit Spezialisten telemedizinisch durchführen könnte. Sie hat gar nicht den Anspruch, dass ein Arzt den Ultraschallkopf führt. Viel wichtiger wäre ihr, dass eine fachkundige Person an einem Ort erklärt, was zu tun ist und die verschiedenen Informationen zusammenfügt. Ihr Alltag heute ist, mit Überweisung selbst einen Termin beim Kardiologen und beim Neurologen zu organisieren, wegen des unzureichenden öffentlichen Nahverkehrs – die nächste Bushaltestelle ist viel weiter entfernt, als ihre Beine ohne längeres Verschnaufen tragen – möglicherweise selbst ins Auto zu steigen oder sich von der Nachbarin fahren zu lassen. Wie oft schon hat sie ihre Krankengeschichte wiederholt und dabei manches vergessen zu berichten.

Dies wäre gleichwohl bei vernünftigem Redesign der Prozesse und Neuverteilung der Kompetenzen leistbar. Längst führen in anderen Ländern qualifizierte nicht-ärztliche Fachpersonen die Ultraschall-Untersuchungen durch, durchaus auch Echokardiografien. In Kombination mit neuen Ausbildungsinitiativen für nicht-ärztliche Fachkräfte, erweiterter Delegation von Leistungen, und konsequenter Nutzung digitaler Datenaustauschformate könnte ein bedeutsamer Anteil der Versorgung unmittelbar im primärärztlichen AMBIGOAL-Team verbleiben und müsste nur bei Bedarf eine fachärztliche persönliche Konsultation erfolgen.

Mehr noch, bei entsprechender Qualifikation des nicht-ärztlichen medizinischen Fachpersonals ist häufig nicht einmal das unmittelbare Mitwirken des Primärarztes im AMBIGOAL-Team erforderlich. Auf Seite der Spezialisten könnte eine solche differenzierte Arbeitsteilung aus der langjährigen Routinebetreuung Ressourcen freisetzen, die den Patienten mit akutem intensivem persönlichen Behandlungs- und Beratungsbedarf zugutekommen. Wie dies praktisch abgebildet wird, welche Prozesse und welche Kompetenzen auf beiden Seiten für die Umsetzung in realen Vergütungsstrukturen erforderlich sind, ist ein weiteres Teilprojekt in AMBIGOAL.

Auch den Autoren der Geneva Declaration war die Gefahr bewusst, beim allgemein Wünschenswerten zu bleiben. Sie benannten daher zehn konkrete Handlungsfelder:

1. Bewusstsein: AMBIGOAL sieht ein Arbeitspaket vor, das früh und gezielt Gesundheitskommunikation als Aufgabe wahrnimmt. Wie wird eine Erwartungshaltung gefördert, in welcher die Hilfesuchenden eine personenzentrierte und menschenzentrierte, aber nicht zwingend arztzentrierte Versorgung erfahren, wie wird die Evidenz integriert? Wie werden Hilfesuchende darin unterstützt, sich an diesem Prozess selbst aktiv zu beteiligen? Welche Chance bieten hier alternsgerechte digitale Lösungen?

2. Bildung eines Bündnisses: Wie integrieren in der Zukunft nicht-ärztliche Fachpersonen und Ärzte ihr Zusammenwirken zu einer gesamtheitlichen Entscheidungsfindung? Können digitale Lösungen dies erleichtern? Wer ist in einem solchen Bündnis die Bezugsperson zum Patienten? Ist dies notwendigerweise immer der Arzt?

3. Intersektorale und interdisziplinäre Zusammenarbeit: Ein Teilprojekt aus AMBIGOAL beinhaltet die Integration zivilgesellschaftlicher Ressourcen in die zukünftigen Behandlungsprozesse. Dies geschieht in Co-Produktion mit verantwortlichen Stakeholdern, Bürgerinnen, Bürgern und Patientenvertretern. Die Herausforderung ist das Wie im konkreten kommunalen und Versorgungsalltag. Wie könnten bei Anna Zimmer Sozialstation, ärztliche Expertise und nachbarschaftliche Hilfe besser vernetzt werden?

4. Gesundheitsförderung: Gesundheitsförderung orientiert sich an messbaren Zielen, beispielsweise der Erfolgsrate in der Tabakprävention. Vorzusehen ist die Ausdehnung auf Sektoren außerhalb des Gesundheitswesens, insbesondere auf die Betriebe der Region. Dieser Prozess soll ausdrücklich die Angebote der gesetzlichen Krankenkassen und der Rentenversicherung integrieren.

5. Forschung: Eine der Kernkomponenten von AMBIGOAL ist die Erfassung von Patienteninformation und patientenrelevanten Outcomes in strukturierter Weise (Alguren et al. 2020; Saigle et al. 2019; Wiering et al. 2017). Anonymisiert werden über FIHR-Schnittstellen Daten in eine Forschungsdatenbank übertragen und auf regional aggregierter Basis mit Referenzdaten einer großen gesetzlichen Krankenkasse verglichen (Methode der synthetischen Kontrollgruppe). Innovative Forschungsdesigns wie etwa Regressions-Diskontinuität tragen im Versorgungsalltag neue Erkenntnisse über klinische Wirksamkeit, Effizienz, Zugänglichkeit, Praktikabilität und Ressourcenverbrauch bei.

6. Qualitätssicherung: Die Voraussetzung für eine Qualitätssicherung ist, relevante Patientenoutcomes konsequent und strukturiert zu erfassen (Rosenzveig et al. 2014). Kaum eine Arztpraxis weiß heute wirklich, wie es ihren Patienten geht. Das Nichtwiederkommen wird gleichgesetzt mit Besserung. Anna Zimmers Hausarzt erfuhr erst Wochen später von der sich anbahnenden Verschlechterung und der Krise. Wie dies unter Einbezug der Patientenpräferenzen möglichst effizient erreicht werden kann, wird in einer multiprofessionellen Station zunächst an der Universitätsmedizin Mannheim exemplarisch entwickelt. In einem Open-Source Ansatz sollen die Erkenntnisse fortlaufend einer größeren Allgemeinheit zugänglich sein.

7. Bildung und Ausbildung: Die Initiatoren von AMBIGOAL haben auf die Curricula verschiedener Ausbildungsinstitutionen für Physician Assistants eingewirkt bzw. waren daran maßgeblich beteiligt. Aufbauend auf existierende Formate, wie die noch für die klassische Hausarztpraxis entwickelte VERAH-Weiterbildung für medizinische Fachangestellte, werden über die VERAH hinausführende Formate unter Ausnutzung akademischer Aus- und Weiterbildung entwickelt und an die die erforderlichen Kompetenzen für die neuen Prozesse sowie Arbeits- und Verantwortungsaufteilungen angepasst werden. Zudem werden Ausbildungsmodule in digitaler Kompetenz für nicht ärztliche Fachberufe im Gesundheitswesen neu konzipiert und eingebunden vermittelt.

8. Wissensaustausch: Neben der populärwissenschaftlichen Darstellung und Dissemination über klassische und soziale digitale Medien ist es unabdingbar, die Ergebnisse im Sinne wissenschaftlicher Evidenz, bei dem auch die zu erwartenden negativen Resultate dargestellt werden, nachhaltig für Fachkreise zu publizieren. Durch die Publikation in englischsprachigen, in PubMed gelisteten Open-Source-Fachartikeln in Zeitschriften mit Impact Factor wird ein qualitätsgesicherter Zugang zu den Ergebnissen für alle Interessierten sichergestellt.

9. Finanzierung: Patientenzentrierte und Integrative Medizin bleiben Wunschdenken ohne adäquate Finanzierung. Wesentlich ist darum die Entwicklung von vertraglichen Vereinbarungen zur Ergänzung existierender Vergütungsformate oder Sonderverträge (z.B. § 140a SGB V). Diese müssen eine kostendeckende Vergütung der Mehraufwände sichern, bzw. ggf. durch sektorübergreifende kommunale Beteiligung Maßnahmen abdecken, die vor allem externen positiven Nutzen aufweisen. Ansatzpunkte für solche Innovation bietet etwa die Verordnung zur Aufnahme Digitaler Gesundheitsanwendungen in die Vergütung, bei welcher ausdrücklich auch Verbesserungen der Versorgung benannt sind. Schließlich gehört dazu auch eine Organisationsform, die den Arbeitsvorstellungen jüngerer Ärztinnen und Ärzte mehr entspricht, etwa als Medizinisches Versorgungszentrum in Eigentum einer größeren regionalen Genossenschaft.

10. Politik: Wesentlich für die frühe Umsetzung solcher Innovation ist die frühe Einbindung der Politik. Bei AMBIGOAL haben wir dies früh auf Landesebene der Ministerien (Sozialministerium, Wirtschaftsministerium, Ministerium für den Ländlichen Raum, Ministerium für Wissenschaft und Kultur), der Körperschaften wie Ärztekammern, der Kassenärztliche Vereinigung, und der gesetzlichen Krankenkassen vorangetrieben. Auf regionaler Ebene ist ein unerlässlicher Partner der Regionalverband Nordschwarzwald, der das Vorhaben mit einer eigenen, mehrere Kommunen umfassenden Digitalisierungsinitiative verknüpft hat („Digital Black Forest“) und darüber den Zugang zu den Verantwortlichen für die kommunalen Gesundheitskonferenzen und den Landräten eröffnete sowie zu den Bürgermeistern der Region. Durch die Förderung im Rahmen des Forums Gesundheitsstandort Baden-Württemberg und die Einbindung der Koordinierungsstelle Telemedizin des Landes Baden-Württemberg soll die Wechselwirkung mit der Weiterentwicklung des Gesundheitswesens in Baden-Württemberg gesichert werden.

Noch ist das Vorhaben AMBIGOAL eine geförderte Absichtserklärung mit Potenzial für die Zukunft. Wie rasch es sich im Nordschwarzwald umsetzen lassen wird, muss der Projektverlauf über die nächsten zwei Jahre zeigen. Hoffnung macht, dass beispielsweise in der Hochschulambulanz Witten bereits viele der genannten Komponenten in der Praxis verwirklicht sind. Hoffnung macht auch, dass der Landkreis Calw unabhängig von AMBIGOAL den Neubau eines medizinischen Campus vorantreibt, auf welchem auf einem Gelände die horizontale und vertikale Integration einschließlich Gesundheitsförderung abgebildet werden sollen.

Hoffnung bleibt also, dass das, was Anna Zimmer in ihrem Einzelschicksal wiederfuhr, gängige Alltagspraxis wird. Nach Rücksprache mit den Söhnen entschieden sich die Ärzte entgegen der Patientenverfügung und in Abweichung von den Leitlinien zu einer versuchsweisen, begrenzten Intensivbehandlung mit einer kontrollierten Infusion von Noradrenalin zur Stabilisierung der Herzfunktion. Zur Überraschung aller erholte sich die alte Dame rasch und konnte nach sechs Tagen in private Rehabilitation bei dem in einem medizinischen Fachberuf tätigen Sohn entlassen werden. Inzwischen ist das soziale Netz der Kommune aktiviert. Sozialstation, Gärtner, Einkaufshilfe, Haushilfe, Nachbarn, alle unterstützen die alte Dame. Anna Zimmer ist dankbar für das Geschenk eines wunderbaren Frühlings, die Chance noch einmal ein paar Wochen, Monate oder vielleicht auch noch etwas länger in ihrem Haus leben zu können. Ein afrikanisches Sprichwort sagt: „Es braucht ein Dorf um ein Kind groß zu ziehen.“ Es braucht offensichtlich auch heute noch ein ganzes Dorf und mehr, um einem sehr alten Menschen einen würdigen Lebensabend zu ermöglichen.

Integrative Medizin und Gesundheit

Подняться наверх