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Geleitwort

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Auch ein Hirnforscher hat bisweilen mit etwas Glück einmal eine Erleuchtung. Ich hatte zwei nacheinander, vor etwa zwei Jahrzehnten, nachdem ich vorher ebenfalls für etwa zwei Jahrzehnte herauszufinden versuchte, wie unser Gehirn funktioniert, weshalb es manchmal nicht funktioniert und wie es wieder besser funktionsfähig gemacht werden kann.

Meine erste Erleuchtung bestand in der Erkenntnis, dass das Gehirn untrennbar mit dem Rest des Körpers verbunden ist und alles, was im Gehirn geschieht, Auswirkungen auf körperlicher Ebene hat – aber auch umgekehrt. Die zweite ergab sich daraus, dass ich zu verstehen begann, wie sehr jeder Mensch mit seinem Gehirn in ein soziales System eingebunden ist. Die dort gemachten Erfahrungen sind ausschlaggebend dafür, wie und wofür der Mensch sein Gehirn benutzt und wie es sich deshalb strukturiert. Für einen experimentellen Hirnforscher wie mich war das alles andere als banal, hieß es doch, dass es mir fortan nicht mehr möglich sein sollte, irgendetwas im Gehirn zu untersuchen oder gar verändern zu wollen, ohne gleichzeitig zu berücksichtigen, was sich im Körper und in der Beziehung der betreffenden Person zu anderen, eng mit ihr verbundenen Menschen abspielte. Das war zwar das Ende meiner Karriere als experimenteller Hirnforscher, dafür aber ebenso der Aufbruch in eine Welt der wachsenden Einsicht in bisher ungeahnte Zusammenhänge.

Die Entdeckung der schier unbegrenzten nutzungsabhängigen Neuroplastizität war der Schlüssel zum Verständnis der im Gehirn ablaufenden Selbstorganisationsprozesse. Sie machte die Strukturierung neuronaler Netzwerke und Verschaltungsmuster anhand der aus dem eigenen Körper und aus sozialen Interaktionserfahrungen zum Gehirn weitergeleiteten Signalmuster erklärbar. Aus diesem Grund »passt« das Gehirn eines jeden Menschen – auch wenn es für Außenstehende nicht so aussieht – immer optimal zu dessen Körper und seinen Erfordernissen und zu dem sozialen Umfeld, in das sie oder er hineinwächst, und damit auch zu den dort vorgefundenen Erfordernissen. Jede länger anhaltende Veränderung auf körperlicher oder sozialer Ebene führt zu einem Umbau im Sinne einer Nachjustierung der herausgeformten, das Denken, Fühlen und Handeln einer Person bestimmenden Verschaltungsmuster in ihrem Gehirn.

Die mit Abstand stärkste, das Gehirn eines Menschen strukturierende Kraft erwächst aus seinem subjektiven Erleben, aus den gemachten Erfahrungen in der Beziehung zu ihm besonders bedeutsamen und nahestehenden Personen. Sehr häufig kommt es in diesen Beziehungen zu tiefgreifenden Verletzungen, die den gesamten weiteren Lebensweg bestimmen können. Besonders fest im Gehirn verankert werden dabei allerdings nicht die Verletzungen, Übergriffe oder Missbrauchserfahrungen, sondern die jeweiligen Lösungen, die das betreffende Kind, der Jugendliche oder später der Erwachsene zu deren Überwindung oder Bewältigung bereits gefunden hat. Einmal gemachte, ungünstige Erfahrungen können nur durch neue, günstigere Erfahrungen überlagert werden. Und einmal gefundene, in der aktuellen Situation brauchbare, aber langfristig ungünstige Bewältigungsstrategien können erst dann durch neue, günstigere ersetzt werden, wenn die alten Reaktions- und Verhaltensmuster unbrauchbar werden. Warum? Weil sich in dem bisherigen Beziehungssystem, das deren Aneignung und Aufrechterhaltung erforderlich gemacht hatte, eine grundlegende Veränderung vollzogen hat.

Diese Zusammenhänge wurden wohl schon zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte von einfühlsamen und ganzheitlich denkenden Personen erkannt. Aber als biologisches, naturwissenschaftlich erklärbares und mit objektiven Verfahren nachweisbares Geschehen kennen wir sie erst seit wenigen Jahren. In unserer heutigen, vom Bemühen um Objektivität und Wissenschaftlichkeit geprägten therapeutischen und pädagogischen Arbeit ist das ein kaum zu unterschätzender Quantensprung. Ein Paradigmenwechsel, der nicht nur die bisherige Praxis therapeutischer und pädagogischer Bemühungen grundlegend infrage stellt, sondern der nun auch wissenschaftlich und objektiv begründbare Ansätze für die künftige Arbeit von Therapeuten, Pädagogen und Beratern bietet.

Deshalb ist dieses von Christoph Klein und Ben Furman herausgegebene Buch so zeitgemäß, so grundlegend und so hilfreich. Denn was wir jetzt brauchen, sind überzeugende Praxisbeispiele dafür, wie gut es mit dem Ansatz der aktiven Unterstützung durch nahestehende Personen gelingt, tiefgreifende und nachhaltige Veränderungen in den beziehungsgestaltenden Erfahrungen der Menschen innerhalb ihres Lebensumfeldes zu machen. Die zentrale Botschaft dieses Buches lautet, dass für wünschenswerte Veränderungen eben nicht nur die Ebene der das individuelle Verhalten steuernden inneren Einstellungen, Haltungen und Überzeugungen bedeutsam ist, sondern auch die Beteiligung und Mitwirkung der Gemeinschaft, in der das Individuum lebt und eingebunden ist.

Die Herausgeber begreifen das Buch als Appell an alle Experten, Fachkräfte und Helfer, ihre Aufgabe darin zu sehen, solche Räume der Begegnung möglich zu machen. Die Beiträge zeigen auf beeindruckende Weise, wie Heilung, Veränderung und Potenzialentfaltung wieder gelingen und wo wir im Dialog miteinander zu neuer Resonanz finden. Das kann weder durch verbale Überzeugungsarbeit noch durch Verhaltenskonditionierung gelingen, nicht durch das Inaussichtstellen von Belohnungen oder Bestrafungen und auch nicht durch neue Erfahrungen in einem sozialen Umfeld, das mit dem für die jungen Menschen bedeutsamen sozialen Beziehungsgefüge nichts zu tun hat.

Deshalb bin ich sehr froh, dass in diesem Buch so viele Verfahren und Möglichkeiten vorgestellt werden, die alle das gleiche Anliegen verfolgen. Die hier versammelten Ansätze zeigen uns viele Wege zur Stärkung einer Gemeinschaft, deren Zusammenhalt verloren zu gehen droht.

Aber überzeugen Sie sich selbst! Ich wünsche Ihnen viele neue Erkenntnisse und Anregungen, die Sie aus der Lektüre gewinnen und die Sie in der Überzeugung stärken mögen, dass das, was wir uns alle wünschen, offenbar möglich ist – jedenfalls dann, wenn wir es anders umsetzen als bisher.

Dr. Gerald Hüther

Die Kraft des Miteinander

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