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JUDITH HAHN

Recht, Reform, Reformation. Luthers Billigkeitsverständnis als Impuls für die aktuellen Debatten um Recht und Barmherzigkeit

Gerechtigkeit und Barmherzigkeit als Handlungsprinzipien konstruktiv aufeinander zu beziehen, ist ein ungelöstes (und unlösbares) Problem. Ihr Verhältnis ist ein Dauerthema in allen Normwissenschaften. Es gibt wohl nur wenige Kanonistinnen und Kanonisten, die sich nicht schon einmal – und sei es einleitend oder schlussfolgernd – auf das Problem bezogen hätten, dass Recht, ganz gleich wie pastoral man es auslegt, am Kern der christlichen Botschaft vorbeizielt. Das Recht ist abstrakt, es sieht die Vielzahl der Fälle. Die Barmherzigkeit wirkt konkret; sie ist am einzelnen und seinem Schicksal interessiert. Ein berühmter Theologe hielt einmal fest: „Equitas respicit personas, Iustitia autem causas.“1 Die Billigkeit nehme das Individuum wahr, die Gerechtigkeit Fälle. Damit ist nicht alles, aber doch einiges gesagt, um die Spannung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zu kennzeichnen.

Wie man Brücken bauen könne zwischen den beiden Perspektiven, beschäftigt die Kanonistik durchlaufend. Auch in der vergangenen Zeit hat sie der Fragestellung Aufmerksamkeit gewidmet. Thomas Schüller nahm sich das Thema jüngst erneut unter rechtsanwendungstheoretischer Perspektive in der Zeitschrift Communio vor.2 Robert Ombres widmete dem anglikanischen Kanonisten Norman Doe einen Beitrag über Gerechtigkeit und Barmherzigkeit im Angesicht des Bußsakraments.3 Und Kurt Martens behauptet gar im Titel seines Bandes zu Mitis Iudex, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit seien sich in der kirchlichen Eheprozessreform begegnet.4

Das Thema ist also mit unverminderter Aktualität präsent. Hierzu tragen Äußerungen der Kirchenleitung bei, nicht zuletzt die Texte, die rund um das Jahr der Barmherzigkeit 2015 und 2016 entstanden. An einer Verhältnisbestimmung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit versucht sich zum Beispiel Franziskus in der Verkündigungsbulle Misericordiae vultus zum Heiligen Jahr:

„Wenn Gott bei der Gerechtigkeit stehen bliebe, dann wäre er nicht mehr Gott, sondern vielmehr wie die Menschen, die die Beachtung des Gesetzes einfordern. Die Gerechtigkeit alleine genügt nicht und die Erfahrung lehrt uns, dass wer nur an sie appelliert, Gefahr läuft, sie sogar zu zerstören. Darum überbietet Gott die Gerechtigkeit mit der Barmherzigkeit und der Vergebung. Das bedeutet keinesfalls, die Gerechtigkeit unterzubewerten oder sie überflüssig zu machen. Ganz im Gegenteil. Wer einen Fehler begeht, muss die Strafe verbüßen“ (Nr. 21)5.

Diese Passage offenbart die Komplexität des Themas, das auf verschiedenen Ebenen angesiedelt ist. Es geht um Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes und um ihr irdisches Pendant. Als wäre dies einfach zu denken, beschreibt der Text, dass es zum Wesen Gottes gehöre, die Gerechtigkeit hin auf die Barmherzigkeit zu transzendieren. Die theozentrische Ebene, in der die Barmherzigkeit das Größere der Gerechtigkeit ist, wird der menschlichen Praxis vor Augen gestellt. Wer sich im Hier und Jetzt auf die Gerechtigkeit versteife, könne Ungerechtigkeiten erzeugen. Das Rechte breche sich an einer rigiden Gerechtigkeitsforderung. Zugleich wird angedeutet, dass es ohne Gerechtigkeit nicht geht. Das skizzierte Gerechtigkeitsverständnis in seinem vergeltungstheoretischen Ton ist wiederum diskussionswürdig.

So wirft die zitierte Passage mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Antworten, soweit sie sich überhaupt finden lassen, müssen vorsichtig, situativ und sich ihrer begrenzten Tragweite bewusst sein, aber ebenso praktisch, konkret und anwendungsorientiert. Einen Meister für solche Problemfälle, für praktische Antworten in unsicherem Terrain, feierten die Kirchen mit Martin Luther im Reformationsjubiläum 2017. Luthers Überlegungen klingen selten vorsichtig. Doch wissen sie um ihre begrenzte Belastbarkeit, bei gleichzeitiger Notwendigkeit, praktische Lösungen anzubieten. Luthers Umgang mit Gerechtigkeit und Barmherzigkeit ist theologisch sensibel und politisch robust, umsichtig und pragmatisch, von Vorsicht getragen und mit Nachdruck vorgetragen. Widersprüchlich also, wie das Thema selbst. Gerade seine disparaten Annäherungen an Gerechtigkeit und Barmherzigkeit verweisen auf die Komplexität der Fragestellung, die sich einfachen Antworten entzieht. Der Reformator ist überzeugt: Das strenge Recht macht gutes Miteinander unmöglich, zu großes Entgegenkommen hingegen ebenso.

Einen Versuch der Balancierung bietet die Billigkeit. Sie taucht in seinen Schriften durchlaufend und variantenreich auf. Die Anzahl der Textpassagen, in denen der Reformator über eine angemessene Rechtsanwendung nachdenkt, sind Legion. Auch die Begriffe, die Luther hierfür nutzt, sind vielgestaltig. Er spricht von „epijkia, equitas, clementia, comoditas“ oder „moderatio“6, genauso von „Billicheit“7 oder „gelindikeyt“8. Diesen Nuancierungen kann ich vorliegend nicht gerecht werden; wer hierzu mehr lesen will, kann dies an anderer Stelle tun.9

In diesem Beitrag geht es mir mit Blick auf die Kanonistik um die Frage, was Luther mit seinen Ausführungen zur Billigkeit zu den Debatten um Gerechtigkeit und Barmherzigkeit beitragen kann, die wir heute noch führen. Sein Oeuvre findet diesbezüglich (und auch in anderen Fragen) in der Kanonistik bisher noch wenig Beachtung. Das ist zum einen nachvollziehbar, weist seine Rechtskritik Luther doch nicht als natürlichen Verbündeten der Kanonistik aus. Ein vertiefter Blick in seine Texte zeigt jedoch an, dass man ihn inhaltlich nicht ignorieren sollte. Denn anders, als man es angesichts seiner Fundamentalkritik am kanonischen Recht erwarten würde, brach Luther nicht mit den kirchenrechtlichen Denktraditionen seiner Zeit, wie der Theologe Jason Gehrke bemerkt: „he drew constructively upon the civil and canon law traditions of the Middle Ages, which he had famously cast into the flames at the Elster Gate in 1520.“10 Neben Material, das ihm die hochmittelalterliche Legistik präsentierte, bediente sich Luther mancher Ideen aus der Kanonistik. Dies ist in besonderer Weise in seinen Ausführungen zur Billigkeit erkennbar, die nicht nur Anleihen bei Aristoteles, Jean Gerson oder Thomas von Aquin machen, sondern ebenso Ideen verarbeiten, die im Decretum Gratiani oder beim Kanonisten Heinrich von Susa entfaltet wurden.11

1. Einzelfallkorrektur

Dass das Recht im menschlichen Miteinander nicht das letzte Wort haben sollte, wird in den Passagen deutlich, in denen Luther das strenge Recht als Quelle von Ungerechtigkeit avisiert. Dass rechtliche Strenge unrecht sein könne, ist für ihn Alltagswissen:

„Denn so sagen auch die heiden, das ist, die tegliche erfarunge: Summum Jus, Strenge recht, ist das groessest unrecht, gleich wie widderumb mag gesagt werden von der gnade: Eitel gnade ist die groessest ungnade.“12

Durch das summum ius stützt Luther dieses Alltagswissen historisch ab. Die von Cicero als leicht abgenutzt qualifizierte Redewendung „Summum ius summa iniuria“13 zitiert er als allen Menschen eingängige Erkenntnis über die Grenzen des Rechts, das Miteinander gerecht zu gestalten. Im Spiegel des summum ius erscheint die Epikie als Sensus dafür, dass man Recht bisweilen Recht sein lassen müsse, um ein wichtigeres Ziel zu erreichen.

An anderer Stelle bezieht Luther das summum ius auf die Aristotelische Epikielehre. Wie schon Aristoteles bemerkte, sei das strengste Recht das größte Unrecht:

„Wie Aristot. Eth. 5. von der Epijkia leret […] so ists das aller grossest unrecht nach dem spruch des klugsten Romers Scipionis, Summum ius summa iniuria Enge recht weit unrecht“14.

Durch diesen Verweis zeigt Luther an, dass mit Billigkeit mehr gemeint ist als gutmütige Nachgiebigkeit gegenüber den eigenen Schuldnern. Denn für Aristoteles ist Billigkeit zwar eine Tugend, nicht aber die Gutmütigkeit der Berechtigten, auf ihr Recht zu verzichten, sondern die Tugend der Rechtsverpflichteten, die Grenzen des Rechts zu erkennen und entsprechend zu handeln. Die Billigkeit ist die naturrechtliche Korrektur des Gesetzes. Korrekturbedürftig sei das Gesetzesrecht aus dem Grund, erläutert Aristoteles,

„daß jedes Gesetz allgemein ist, in einigen Dingen aber in allgemeiner Weise nicht korrekt gesprochen werden kann. Wo man allgemein reden muß, dies aber nicht angemessen tun kann, da berücksichtigt das Gesetz die Mehrzahl der Fälle, ohne über diesen Mangel im unklaren zu sein“15.

Diese Unschärfe sei keine Folge schlechter Gesetzgebung, sondern liege in der Natur der Gesetze, die als allgemeine Anordnungen eine unvermeidbare Insensibilität gegenüber dem Variantenreichtum des menschlichen Lebens aufwiesen. Stelle sich eine Fallkonstellation ein, die im Gesetz nicht angemessen bedacht wurde, sei dies ein Anlass für Epikie. Die bzw. der vom Gesetz Betroffene müsse das Gesetz „verbessern, wie es ja auch der Gesetzgeber selbst getan hätte, wenn er dabeigewesen wäre; und wenn er diesen Fall gewußt hätte, hätte er ihn ins Gesetz aufgenommen“16.

In diesem Ansatz sind es die vom Gesetz Verpflichteten, die unter Berufung auf die Epikie in ihrem Fall zu einer das Gesetz korrigierenden Lösung finden. Dass dies nicht willkürlich geschehen kann, zeigt Aristoteles an, indem er die Betroffenen sich in einem persönlichen Prüfverfahren auf den Gesetzgeber beziehen lässt, um dessen hypothetische Bewertung des Sachverhalts zu erheben. Es seien nur die Fälle mittels Epikie zu behandeln, in denen davon auszugehen sei, dass der Gesetzgeber eine Verbesserung der Norm vorgenommen hätte, wenn er mit dem Einzelfall konfrontiert worden wäre. Hierin liegt ein intersubjektives Moment der Epikie, das der Willkür der einzelnen in der Bewertung der eigenen Umstände Grenzen setzt.

Die Aristotelische Konzeption bemüht Luther nicht allein dadurch, dass er formal auf die Nikomachische Ethik verweist. Vielmehr nimmt er mehrere Gedanken des antiken Vorbilds in seinen eigenen Entwurf auf. Jedes Recht leide an der menschlichen Begrenztheit, alle Fallkonstellationen zu berücksichtigen: „Denn weil das recht mus und sol einfeltiglich mit dürren, kurzen worten gestellet werden, kan es gar nicht alle zufelle und hindernis mit einfassen.“17 Eine Präzision, die dem menschlichen Leben umfassend Rechnung trage, sei undenkbar: „Den so spitzig und gewis wird kein recht nymer mehr erfunden werden, das alle zufelle und umbstende fassen muge.“18 Da das Recht daran scheitere, Einzelfalladäquanz sicherzustellen, erzeuge strikte Rechtsanwendung Unrecht. Hier sei Epikie gefragt.

Epikie bedeute, den Ausnahmefall zu berücksichtigen. Das Leben sei vielfältiger als das Recht. Dem trage ein billiges Verfahren Rechnung:

„Also müssen und sollen alle rechte, wilche auff die that gestellet sein, der Billigkeit als der meysterynn unterworffen sein umd der manchfeltigen, unzelichen, ungewissen zufelle willen, die sich begeben können und niemand sie kan zuvor abmalen odder fassen.“19

Die Billigkeit als Meisterin des Rechts ist indes nicht darauf aus, die gesetzliche Ratio zu hintergehen. Vielmehr versteht Luther sie als vernunftgemäßen Umgang mit dem Gesetz, das es so anzuwenden gelte, dass der eigentlichen Regelungsabsicht entsprochen werde. Martin Heckel erläutert:

„Die ‚Billigkeit‘ ist für Luther die hohe Form der rationalen Gesetzestreue, die durch vernünftige und verantwortliche Rechtsauslegung und -anwendung die Gerechtigkeit der Entscheidungen nach dem Geist des Gesetzes auch gegen dessen Buchstaben gewährleisten muss.“20

Auch dieses Billigkeitsverständnis hat theoriegeschichtliche Vorbilder. Zu erkennen ist eine Nähe zu Thomas von Aquin, der Aristoteles‘ Ansatz scholastisch weiterentwickelte. Wie Aristoteles sieht Thomas billiges Handeln als in den Fällen gefragt, in denen sich ein Widerspruch zwischen dem positiven Recht und dem Naturrecht abzeichne.21 Dieses Problem komme notwendigerweise vor, weil menschliche Gesetze sich nicht als jedem Fall angemessen erwiesen. Ein menschlicher Gesetzgeber könne nur übliche Fallkonstellationen berücksichtigen, nicht aber eine immer passgenaue gesetzliche Lösung vorhalten. Unausweichlich konfligierten Gesetze daher in Einzelfällen mit der Einzelfallgerechtigkeit und dem Gemeinwohl.22 Sei dies in einer Angelegenheit der Fall, sei es schlecht, sich an den Buchstaben des Gesetzes zu klammern. Stattdessen sei ein billigkeitsgemäßes Handeln gefragt. Die billige Entscheidung folge der ratio iustitiae. Hier begegnen sich Thomas‘ und Luthers Ansatz. Beide verstehen die Billigkeit als die Verwirkung des eigentlichen Gesetzes. Mithilfe der Billigkeit sei dem Naturrecht, das sich hinter dem gesatzten Recht abzeichne, zum Durchbruch zu verhelfen. Um zu ihm vorzudringen, gelte es, den Buchstaben des positiven Gesetzes hinter sich zu lassen.

2. Anwendungsprinzip

In der Lektüre von Luthers Texten wird freilich zugleich deutlich, dass Luther ein Urteilen gemäß der Billigkeit nicht auf Sonderfälle beschränkt wissen will. Während er wie Aristoteles die Billigkeit zur Lösung von Einzelfällen empfiehlt, in denen das gesatzte Recht die Gerechtigkeit verfehlt, vertritt er doch eine breitere Bedeutung der Billigkeit, insoweit er sie in jeder Rechtsauslegung und -anwendung am Werk sieht. So warnt er in der Rechtsanwendung generell vor einer rigiden Durchsetzung des Rechts: „Item alzuscharff wird Schertig. Darumb mus man zu beiden seiten einschlahen und die billickeit, lassen alles rechts meisterin sein“23. Der Hinweis, es sei immer notwendig, „zu beiden seiten einschlahen“, gibt der Billigkeit einen Sitz in der Bewertung jedes Falles. Indem Luther „die billickeit, lassen alles rechts meisterin sein“, rückt er sie als grundlegendes Applikationsprinzip in den Mittelpunkt jeglicher Rechtsanwendung. Dies betont auch Martin Heckel, der es als Kern des Lutherischen Billigkeitsverständnisses ausmacht, dass dieser Auslegung und Anwendung des Rechts im Spiegel des Naturrechts reflektiere. Billigkeit sei bei Luther eine „naturrechtliche Auslegungs- und Anwendungsmaxime“, die „das ius strictum limitiert“24. Das strenge Recht werde gemildert durch ein Prinzip, das im Zuge jeder Rechtsanwendung dem natürlichen Gerechten zum Durchbruch verhelfen soll.

Hierdurch stellt sich Luther in eine Tradition, die antike und kanonistische Vorbilder hat. Die Billigkeit als Auslegungs- und Anwendungsprinzip (aequitas) entstammt dem römisch-rechtlichen Denken. Ihre Wiederentdeckung im mittelalterlichen Recht erfolgte im Rahmen der kirchlichen Rechtsanwendungstheorie und steht mit Heinrich von Susa („Hostiensis“) in Verbindung, der in seiner Summa aurea von 1253 drei Annäherungen an den Billigkeitsbegriff vorlegte.25 Hostiensis befreite die Billigkeit aus ihrer reduzierten Rolle einer Gesetzeskorrektur im Einzelfall und rückte sie in das Zentrum der Rechtsanwendung. Sie ist bei ihm nicht mehr nur Tugend, sondern modus rationabilis, mit dessen Hilfe jede Rechtsanwenderin bzw. jeder -anwender das Recht so auf den Fall zu beziehen habe, dass es von der Barmherzigkeit gemildert werde. Den Ertrag dieser Lesart für die kanonistische Methodologie hielt Thomas Schüller fest. Bei Hostiensis wirke die Billigkeit

„als rechtlicher Garant für die Einbeziehung aller Umstände bei der Urteilsfällung […], ist somit das zentrale Rechtsinstitut auf der Applikationsebene des Rechts, das in ausgezeichneter Weise Recht und Barmherzigkeit unter der Grundforderung nach einer der salus animarum dienenden Rechtspraxis realisiert.“26

In dieser Fruchtbarmachung der Billigkeit für die Applikationstheorie liege der Wert der von Hostiensis wiederentdeckten römischen Billigkeitskonzeption gegenüber anderen auf Ausnahmefälle beschränkten Billigkeitsvorstellungen seiner Zeit. Dieser Gedanke taucht nun bei Luther ebenso auf. Dies zeigt, dass sich in Luthers Billigkeitsbegriff diverse Traditionen der Überwindung rechtlicher Rigidität miteinander vereinigen, wie Jason Gehrke bemerkt: „Even when Luther invoked Aristotle, he often had in mind a Roman or Ciceronian version of the concept which had survived long into the Middle Ages.“27

Billigkeit steht bei Luther im Zusammenhang der Urteilsfindung. Es geht um einen Zugang zur Rechtsanwendung, der sich souverän vom Buchstaben des Gesetzes löst und dabei vernünftig bleibt. Dies entfaltet Luther in radikaler Weise in Bezug auf Entscheidungen in zivilen Streiten. Der Sache gerecht werde nur ein Urteil gemäß der Liebe und der Natur:

„Denn wo du der liebe nach urtehlst, wirstu gar leycht alle sachen scheyden und entrichten on alle recht buecher. Wo du aber der liebe unnd natur recht auß den augen thust, wirstu es nymmer mehr so treffen, das es Gotte gefalle, wenn du auch alle recht buecher und Juristen gefressen hettist. Sondern sie werden dich nur yrrer machen, yhe mehr du yhn nach denkest. Ein recht gut urtehl das muß und kann nicht auß buechern gesprochen werden, sondern aussz freyem synn daher, als were keyn buch.“28

Doch wie kann ein Urteil „aussz freyem synn“ gelingen, das nicht völlig beliebig ist? Hier ist in Luthers Rechtsanwendungstheorie der Ort der Vernunft, die zu ermessen hat, wie eine Norm in Anwendung zu bringen sei:

„Darumb muß eyn furst das recht ja so fast ynn seyner hand haben als das schwerd unnd mitt eygener vernunfft messen, wenn unnd wo das recht der strenge nach zu brauchen odder zu lindern sey, Also das allzeyt über alles recht regiere unnd das uberst recht unnd meyster alles rechten bleybe die vernunfft.“29

Der evangelische Theologe Ulrich Körtner erläutert diesen Passus näher: Luthers

„Maßstab ist die Vernunft, wobei alles positive Recht nicht nur der Vernunft, sondern auch der Liebe untergeordnet ist. Darum ist die Billigkeit […] für Luther ein wichtiges Kriterium für den Vollzug des Rechts.“30

Die Liebe ist indes keine Gegenspielerin der Vernunft, sondern in der Vernunft selbst angelegt: „Aber solch frey urteyl gibt die liebe und naturlich recht, des alle vernunfft voll ist.“31 Indem Luther neben die Liebe das „naturlich recht“ stellt, gibt er der Vernunft eine normative Orientierung. In diesem Sinne weist Martin Heckel nachvollziehbar darauf hin, dass Luther ein vernunftrechtliches Naturrechtsverständnis vertrat, insoweit er die menschliche Vernunft für erkenntnisfähig hielt, die natürliche Normativität zu entdecken und zur Grundlage menschlichen Entscheidens zu machen.32

Luthers Fokussierung auf die Vernunft derer, die billigkeitsgemäß zu handeln berufen sind, zeigt zugleich an, dass billiges Entscheiden für ihn eine individuelle Aufgabe ist und wie bei Aristoteles und Thomas die Qualität einer Tugend hat. In einer Linie mit Klugheit und Frömmigkeit weist Luther die Billigkeit als Angelegenheit der Herzensbildung aus: „Derhalben die richter und herrn müssen hie klug und frum sein und die Billicheit aus der vernunft messen und also denn das rechte lassen gehen oder anstehen.“33 Ob Luther hierbei Hostiensis vor Augen hatte, ist nicht ausgemacht, unwahrscheinlich ist es aber nicht. Immerhin bestimmte Hostiensis die Billigkeit als vernünftige Weise richterlicher Rechtsanwendung, die geeignet sei, die Strenge des Rechts im Zaum zu halten: „Aequitas est modus rationabilis, regens sententiam et rigorem, haec enim est aequitas, quam iudex, qui minister iuris est, semper debet habere pro oculis.“34 In ähnlicher Weise deutet Luther Billigkeit als Richtertugend: Die Richter seien „leges vivae seu anima legis“35 und dergestalt von der Tugend zur rechten Rechtsanwendung beseelt dazu berufen, ein angemessenes Urteil zu fällen.

Doch was bedarf es hierzu? Notwendig sei ein Blick auf das Gesamtbild und ein Sensus für die Motivlage auf Seiten derer, über die es zu urteilen gelte. Billigkeit erscheint in diesem Zusammenhang als Kompetenz zur Berücksichtigung der Beweggründe in der Urteilsfindung, als „tugent odder weisheit, die also kan und sol das strenge recht lencken und messen, nach dem sich die felle begeben, und einerley guts odder böses werck nach unterscheid der meynunge und der herzen richtet“36. Die Billigkeit ist die Fähigkeit, die gute oder böse Absicht hinter der Tat zu erkennen und diese Erkenntnis in das Urteil einfließen zu lassen. Eine wertende Gesamtbeurteilung einer Tat gelinge nur auf Basis der Billigkeit und damit einer Beurteilung, bei der die Vernunft der Richtenden das zu beurteilende Gesamt – Handlung und Motive – in ein Verhältnis setze, um einen umfassenden Eindruck zu erhalten.

3. Maßhaltung

Neben der Kompetenz zu vernünftigem Urteilen und einer realistischen Gesamtbewertung von Handlung und Haltung verbindet Luther mit der Billigkeit vor allem die Ausgewogenheit in der Urteilsbildung. Er setzt auf Abwägung und Ausgleich, so wie Isidor von Sevilla, dessen Überlegungen in das Decretum Gratiani eingingen: Wer richte, halte eine Waage in der Hand, um Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zu verteilen und im Ausgleich von notwendiger Strenge und angemessener Milde zu einem Urteil zu kommen.37 Ähnlich fragt sich Luther, wie man Recht in adäquater Weise zur Anwendung bringen könne: durch strikte Durchsetzung einer Norm oder durch schonenden Umgang mit dem Gegenüber? Empfehlenswert sei ein Mittelweg: „Masse ist inn allen dingen gut.“38 Auch dies erinnert an Hostiensis. Dieser sieht die Leistung der Billigkeit als die einer Mittlerin zwischen der strengen Durchsetzung des Gesetzes und einer barmherzigen Dispens von der Verpflichtung: “Aequitas vero est media inter rigorem et dispensationem sive misericordiam.“39 Hier erscheint die aequitas, wie bei Luther, als Anwendung des Gesetzes auf einem mittleren Weg, unter der Vorgabe des Maßhaltens.

Dieses Maßhalten ist bei Luther Tugend guter Rechtsanwenderinnen und -anwender. Er nennt diese Tugend auch „gelindikeyt“. Bei ihr geht es um eine Haltung des sich Mäßigens. Das Mäßigen hat eine temperierende Wirkung. Auch bei Hostiensis ist es die Billigkeit, die eine Entschärfung bewirkt. Sie sei die Weise, die Gerechtigkeit durch Barmherzigkeit zu mildern: “Aequitas est iustitia dulcore misericordiae temperata“40.

Doch was meint Rechtsanwendung unter dem Vorzeichen der gelindikeyt? Diese befähige die Rechtsanwenderinnen und -anwender zu einem maßvollen Urteil unter dem Vorzeichen der Gleichheit. Sie bezeichne die Leistung der bzw. des Urteilenden, sich selbst zurückzunehmen und nicht die eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen zum Maßstab des Rechten zu machen:

„gelindikeyt, das ist eyn tugend, das sich eyner lenkt und schikt, gemeß und eben macht eynem andern, unnd ist eynem wie dem andern, und yderman gleych, der nicht sich selb zum leysten und zur regel macht und will, das sich yderman nach yhm lenken, schiken und messigen soll.“41

Maßhalten sei üblicherweise ein Gebot in allen möglichen Alltagsvollzügen – beim Essen oder Trinken –, aber ebenso angeraten, wenn es darum gehe, dem Gegenüber in einem Urteil gerecht zu werden. Doch was ist ein maßvolles Urteil? Dies verdeutlicht Luther an anderer Stelle nicht durch Beschreibung einer ausbalancierten Praxis, sondern durch Problematisierung von unausgewogenen Urteilen, von laxer Nachgiebigkeit auf der einen und ungebührlicher Strenge auf der anderen Seite. Beide seien gleichermaßen schädlich. Die fatale Wirkung einer zu großen Milde schildert Luther in einem drastischen Bild, in dem er auf einen Vater Bezug nimmt, der seinen Sohn „verzieht“:

„Gleich wie ein Vater keine groesser unveterliche That an seinem kinde begehen kan, denn das er der ruten sparet und dem kindlein seinen mutwillen lesst. Denn mit solcher toerichter liebe zeucht er zu lezt dem hencker einen son, der in darnach anders ziehen mus mit dem strick an den galgen.“42

Wie in der Erziehung diene die Strenge in der Rechtsanwendung dazu, die Willkür der Rechtsadressatinnen und -adressaten zu begrenzen und ihren Mutwillen sozialverträglich abzumildern. Zuviel der Gnade schade, denn sie untergrabe den pädagogischen Effekt des Rechts. Dies notiert Luther mit Blick auf die Fürsten und ihren Regierungsstil:

„Denn wo eitel gnade da ist, und der Fürst sich einen jedern melken und auff dem maul trumpeln lesst, nicht strafft noch zurnet, so wird nicht allein der Hof, sondern auch das land vol böser buben, geht alle zucht und ehre unter.“43

Diesen Argwohn gegenüber einer rechtsauflösenden Folge der Billigkeit habe Luther nicht zuletzt in Reflexion der Bauernaufstände ausgebildet, meint Roland Lehmann.44 Der Versuch, die Herrschaftsverhältnisse gewaltsam umzustürzen, habe sein Vertrauen in den Wert von Nachgiebigkeit schwinden lassen. Eine Milderung des strengen Rechts dürfe nie zulasten der natürlichen Ordnung gehen.45

Die Sorge vor einer korrumpierenden Wirkung überfließender Billigkeit kennt gleichwohl ein Pendant, insoweit Luther genauso vor den Nebeneffekten zu großer Strenge warnt. Wiewohl Strenge wichtig sei, schade sie bei Überdosierung: „Widderumb, wo auch eitel odder zu viel zürnen odder straffens ist, da wird Tyrraneh aus und können die fromen nicht odem holen fur teglicher furcht und sorgen.“46 Strenge nimmt den Menschen den Atem. Und sie weist eine problematische Neigung zur Ungerechtigkeit auf. Zur Illustration dieses Problems bemüht Luther das Bild des Hausvaters, der bei Übertretungen seiner Hausregel gegenüber seinem Gesinde eine differenzierte Sanktionspraxis zu entwickeln habe:

„Als ein hauswird setzt seinem gesinde ein recht, was sie diesen odder den tag thun sollen. Da stehet das recht: Wer das nicht thut odder helt, sol seine straffe leyden. Nu mag der eins kranck odder sonst on seine schuld verhindert werden. Da höret das recht auff, und were gar ein wütiger hausherr, der seinen knecht und solchs nachlassen willen wolte straffen.“47

Der Regelübertritt müsse im Normalfall eine Strafe nach sich ziehen. Krankheit oder ein anderer Grund, der ohne Eigenverschulden der bzw. des Verpflichteten die Einhaltung der Regel verhindere, durchbrächen gleichwohl diese Logik. Ein Hausherr, der dennoch strafe, handle nicht rechtens, sondern verfehle die Gerechtigkeit: „Da höret das recht auff“.

Neben diesen eindeutigen Fällen, in denen ein billiges Urteil das Gegenüber als entschuldigt versteht, gibt es komplexere Fälle, in denen nicht geklärt werden kann, ob ein Regelverstoß gerechtfertigt sei. Was bedeutet Billigkeit in diesem Zusammenhang, in dem nicht ersichtlich ist, wie eine unrechte Tat zu beurteilen sei? In diesem Fall votiert Luther für den Grundsatz: Gnade vor Recht. Dies erläutert er unter Bezugnahme auf das Strafurteil:

„Doch inn solchem fall, weil der mittel kern nicht wol zu treffen ist, so ist das zum nehesten dem zweck geschossen, das die gnade den vorgang habe fur dem recht. […] Denn wo es nicht will zu treffen sein, So ists besser und sicherer auff dieser seiten feilen denn auff jener, das ist, Es ist besser zu viel gnade denn zu viel straffe. Denn zu viel gnade kann man wider einzihen und wenigern. Aber die straffe kann nicht wider zu rücke komen, sonderlich wo es leib und leben oder glidmas betrifft“48.

Den Grundsatz, der Gnade den Vorzug zu geben, begründet Luther pragmatisch: Während man einen Überschuss an Gnade nachträglich korrigieren könne, sei es schwierig, bisweilen sogar ausgeschlossen, vollstreckte Strafen zurückzunehmen. Luthers Beispiel, dass es unmöglich sei, die Todesstrafe oder Körperstrafen ungeschehen zu machen, zeigt an, wie existentiell ein Vorrang der Gnade für die Betroffenen sein kann.49

Billigkeit bedeutet folglich in diesem Zusammenhang die Haltung der Entscheidenden, sich im Zweifel gnädig zu geben. Wie aber nimmt man eine solche Haltung ein? In Luthers Schriften wird dieses Vermögen häufig in ein Bild gebracht, das er aus seiner Übersetzung von Levitikus 20,4 gewinnt: „Wer nicht kan durch die finger sehen, der kan nicht regiren.“50 Roland Lehmann hat die diversen Fundstellen dieser Aussage in Luthers Werk zusammengetragen.51 Er erläutert: „Bildlich ist damit gemeint, dass man die Hand mit leicht gespreizten Fingern vor Augen hält, um damit teilweise die Fehler des anderen bewusst zu verdecken, ohne jedoch vollständig für sie blind zu sein.“52 Während Regierende einen scharfen Blick benötigten, um rechtes und unrechtes Handeln zu erkennen, mache allein ihre Entscheidung zu „partieller Fehlsichtigkeit“ ihr Regime für die Untertanen erträglich.

Dieses bei Luther ausgeführte Billigkeitsverständnis lässt sich theologisch einordnen. Schon Gustaf Wingren wies darauf hin, dass es für den Vorrang der Gnade bei Luther nicht nur pragmatische, sondern auch theologische Gründe gebe, insoweit sich hierin Luthers Gottesbild spiegle. Gott strafe und vergebe. Die Vergebung jedoch überwiege. Dies könne für die menschliche Praxis nicht folgenlos sein:

„Aus alledem folgt, daß irdische Gesetze nicht nach Maßgabe eines unveränderlichen himmlischen Gesetzes korrigiert werden, sondern durch Gottes ‚eigentliches‘ Werk, das im Evangelium beschlossen ist und auf Vergebung zielt. Deshalb drängt Billigkeit, als ‚Teil der Gnade’, wenn sie das Gesetz ‚meistert’, immer auf Milderung.“53

Wer menschliches Handeln als vom göttlichen her orientiert begreift, sieht in der Spannung zwischen Gnade und Strenge die menschliche Rechtsanwendung als gehalten an, der Gnade zum Durchbruch zu verhelfen, um Gottes gnädiges Handeln zu imitieren. Auch Jason Gehrke entdeckt diese Idee bei Luther: „Luther thus sets up epieikeia as a share of divine mercy (pars gratiae) ministered in public life by the authorities, and by every person in his or her daily life with others.“54 Insoweit die Regierenden zur Imitation der göttlichen Gnade berufen seien, müsse sich dies in einer Praxis ausdrücken, die manche Verfehlungen gnädig übersehe. Wie es bei Gott nur die Gnade ist (sola gratia), die Menschen errettet, so ist es häufig nur menschliche Gnade, die menschliches Leben bestehen lässt.

Ernst Troeltschs These, dass Luther vor allem im Strafrecht Billigkeit abgelehnt habe, ist angesichts des Vorgesagten kritisch zu sehen.55 Troeltsch schreibt, Billigkeit gelte bei Luther

„nicht auf dem Gebiete des Staatsrechtes […]. Auch nicht auf dem des Strafrechts. Hier ist vielmehr sein strenger Erbsündenbegriff und seine Forderung strenger Zucht, seine Verachtung der Masse, seine Auffassung der Obrigkeit als Stellvertreterin der göttlichen Strafe und Vergeltung geneigt zur äußersten Strenge“56.

In Troeltschs Analyse nimmt Luther die Regierenden in die Pflicht, ihren Untertanen gegenüber Gottes Gerechtigkeit zum Ausdruck zu bringen. Doch ist es dann nicht ebenso ihr Auftrag, Gottes Güte zu imitieren? Die Aufforderung, Regierende müssten bisweilen „durch die Finger sehen“, ist ein Hinweis darauf.

4. Fazit

Unter Luthers Billigkeitsbegriffen vereinigen sich verschiedene Traditionen der Überwindung rechtlicher Rigidität. Mit Billigkeit meint Luther mindestens zwei Instrumente zur Flexibilisierung des Rechts: das römische und von Hostiensis wiederentdeckte rechtliche Applikationsprinzip und die Aristotelische Einzelfallgerechtigkeit, beide interpretiert im Licht biblischer Beispiele und christlicher Motive.

Wie schon Thomas von Aquin setzt Luther beide Theoriestränge begrifflich ineinander. Thomas‘ Gleichsetzung „epieikeia, quae apud nos dicitur aequitas“57 findet bei Luther ihre Entsprechung in der Aussage: „Solche tugent odder weisheit, […] Die heyst auff Kriechisch ‚Epiikia‘, auf Latinisch ‚Equitas‘. Ich nenne sie ‚Billicheit‘.“58 Dass diese bis in die Formulierung hinein auffällige Ähnlichkeit kein Zufall ist, bemerkt Jason Gehrke: „Luther’s adequation of aequitas and epieikeia indicates a debt to scholastic theology and law far more than the bare quotation might seem to indicate.“59

Der Zusammenfall von aequitas und Epikie, den Luther bei Thomas nachvollzieht, hatte für die Billigkeitsgeschichte eine problematische Folge. Denn durch die Gleichsetzung wurde Billigkeit in ihrer Bedeutung als in der Rechtsanwendung grundlegend wirksames Applikationsprinzip marginalisiert. Thomas‘ Aristoteles-Relektüre schrumpfte die aequitas auf Epikieniveau. Sie wurde, schreibt Thomas Schüller, „in den Epikierahmen verpflanzt, wo sie im Gefolge einer immer stärker sich ausbreitenden scholastischen Kasuistik zu einem ‚bloßen‘ Interpretationsprinzip für besonders gelagerte Ausnahmefälle verkümmert.“60 Nachfolgende Rechtstheoretiker verstärkten diese Tendenz.61 Die Billigkeit wurde zu einem von anderen Flexibilitätsinstrumenten, die Einzelfallhärten zu verhindern suchten, wie Dispens, Toleranz oder Dissimulation.

Dieses reduzierte Verständnis wirkt bis in die Moderne hinein. Bis heute meint Billigkeit häufig nur einen Ausschnitt dessen, was rechtstheoretisch denkmöglich wäre. Wie Thomas kann man Luther anlasten, durch die Vermischung von Epikie und aequitas eine differenzierte Theorie beeinträchtigt zu haben. Zugleich findet man jedoch in Luthers Schriften distinkte Denkfiguren und anschauliche Beispiele vor, die Kanonistinnen und Kanonisten einladen, ihre eigene plurale Billigkeitsgeschichte wiederzuentdecken und sich von ihr für moderne Theorien inspirieren zu lassen, wie Kirchenrecht mit dem Problem des spannungsreichen Verhältnisses von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit umgehen könne.

1 Luther, Martin, Dictata super Psalterium, in: Knaake, Joachim K. F. u. a. (Hrsg.), D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (WA), Bd. 3, Weimar 1885, 83-91, hier: 91.

2 Vgl. Schüller, Thomas, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Eckpfeiler kirchlicher Rechtskultur im Spannungsfeld von Gesetz und Liebe, in: Communio 46 (2017), 416-424; englische Version: ders., Justice and Mercy. An Enigmatic Yet Crucial Relationship for the Application of Canon Law, in: Ecclesiastical Law Journal 20 (2018), 51-58.

3 Vgl. Ombres, Robert, Justice and Mercy. Canon Law and the Sacrament of Penance, in: Cranmer, Frank u. a. (Hrsg.), The Confluence of Law and Religion. Interdisciplinary Reflections on the Work of Norman Doe, Cambridge 2016, 131-143.

4 Vgl. Martens, Kurt (Hrsg.), Justice and Mercy Have Met. Pope Francis and the Reform of the Marriage Nullity Process, Washington D.C. 2017.

5 In: Acta Apostolicae Sedis 107 (2015), 399-420, hier: 416; dt. Übersetzung siehe online: w2.vatican.va/content/francesco/de/apost_letters/documents/papafrancesco_bolla_20150411_misericordiae-vultus.html, Zugriff am 04.08.2017.

6 Epistel am 4. Adventssonntag, Phil. 4,4-7, in: Knaake u. a. (Hrsg.), Luthers Werke (Anm. 1), Bd. 10, Erste Abtheilung, 2. Hälfte, Weimar 1925, 170-187, hier: 174.

7 Ob Kriegsleute auch im seligen Stand sein können, in: Knaake u. a. (Hrsg.), Luthers Werke (Anm. 1), Bd. 19, Weimar 1897, 616-662, hier: 632f.

8 Epistel am 4. Adventssonntag, Phil. 4,4-7, in: WA 10.1.2 (Anm. 6), 174.

9 Vgl. Hahn, Judith, Billigkeit bei Martin Luther, in: Busche, Hubertus / Armgardt, Matthias (Hrsg.), Recht und Billigkeit. Zur Geschichte der Beurteilung ihres Verhältnisses, Tübingen 2019 (im Erscheinen). Der vorliegende Beitrag ist eine gekürzte und leicht veränderte Fassung des genannten Artikels.

10 Gehrke, Jason, The Virtue of Epieikeia. A Study in Luther and his Sources, in: Seminary Ridge Review 17 (2014), 68-101, hier: 68.

11 Vgl. Haile, Harry G., Luther. An Experiment in Biography, New Jersey 1983, 346-347; Falcón y Tella, María José, Equity and Law, Leiden / Boston 2008, 43; Gehrke, Epieikeia (Anm. 10), 82.

12 Auslegung des 101. Psalms, in: Knaake u. a. (Hrsg.), Luthers Werke (Anm. 1), Bd. 51, Weimar 1914, 197-264, hier: 206.

13 De officiis 1.10, in: Crowell, E. P. (Hrsg.), M. Tullii Ciceronis De Officiis Libri Tres (Chase and Stuart’s Classical Series), with explanatory notes, Philadelphia 1879, 18.

14 An die Pfarrherrn wider den Wucher zu predigen, in: Knaake u. a. (Hrsg.), Luthers Werke (Anm. 1), Bd. 51, Weimar 1914, 325-424, hier: 352.

15 Nikomachische Ethik, 5. Buch, Kap. 14, in: Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, übersetzt und mit einer Einführung und Erläuterungen versehen von Olof Gigon (Bibliothek der Antike), München 21995, 227.

16 Ebd., 228.

17 Ob Kriegsleute auch im seligen Stand sein können, in: WA 19 (Anm. 7), 632.

18 An die Pfarrherrn wider den Wucher zu predigen, in: WA 51 (Anm. 14), 352.

19 Ob Kriegsleute auch im seligen Stand sein können, in: WA 19 (Anm. 7), 632.

20 Heckel, Martin, Martin Luthers Reformation und das Recht, Tübingen 2016, 430.

21 Vgl. Summa Theologiae II-II, q. 60 art. 5, in: Sancti Thomae Aquinatis Doctoris Angelici opera omnia iussu impensaque Leonis XIII P. M. edita, Bd. 9: Secunda Secundae Summae Theologiae a questione LVII ad questione CXXII, Rom 1897, 31-32.

22 Vgl. Summa Theologiae II-II, q. 120 art. 1, in: Editio Leonina 9 (Anm. 21), 468.

23 An die Pfarrherrn wider den Wucher zu predigen, in: WA 51 (Anm. 14), 352.

24 Heckel, Luthers Reformation (Anm. 20), 431; vgl. auch Berman, Harold J. / Witte, John, The Transformation of Western Legal Philosophy in Lutheran Germany, in: Southern California Law Review 62 (1988/1989), 1573-1660, hier: 1578.

25 Vgl. Summa aurea, Venedig 1574, 1874-1875; zur Billigkeit bei Hostiensis vgl. Brugnotto, Giuliano, L’„aequitas canonica“. Studio e analisi del concetto negli scritti di Enrico da Susa (Cardinale Ostiense) (Tesi Gregoriana, Serie Diritto Canonico 40), Rom 1999.

26 Schüller, Thomas, Die Barmherzigkeit als Prinzip der Rechtsapplikation in der Kirche im Dienste der salus animarum. Ein kanonistischer Beitrag zu Methodenproblemen der Kirchenrechtstheorie (Forschungen zur Kirchenrechtswissenschaft 14), Würzburg 1992, 358.

27 Gehrke, Epieikeia (Anm. 10), 73.

28 Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei, in: Knaake u. a. (Hrsg.), Luthers Werke (Anm. 1), Bd. 11, Weimar 1900, 229-281, hier: 279.

29 Von weltlicher Obrigkeit, in: WA 11 (Anm. 28), 272.

30 Körtner, Ulrich H. J., Theologie/Religion und Recht, in: Hilgendorf, Eric / Joerden, Jan. C. (Hrsg.), Handbuch Rechtsphilosophie, Stuttgart 2017, 355-364, hier: 359; vgl. auch Duchrow, Ulrich, Christenheit und Weltverantwortung. Traditionsgeschichte und systematische Struktur der Zweireichelehre (Forschungen und Berichte der Evangelischen Studiengemeinschaft 25), Stuttgart 1970, 498-499.

31 Von weltlicher Obrigkeit, in: WA 11 (Anm. 28), 279.

32 Vgl. Heckel, Luthers Reformation (Anm. 20), 430.

33 Ob Kriegsleute auch im seligen Stand sein können, in: WA 19 (Anm. 7), 632.

34 Summa aurea (Anm. 25), 1874f.

35 Vorlesung über das Deuteronomium, in: Knaake u. a. (Hrsg.), Luthers Werke (Anm. 1), Bd. 14, Weimar 1895, 489-744, hier: 554.

36 Ob Kriegsleute auch im seligen Stand sein können, in: WA 19 (Anm. 7), 632.

37 Vgl. Decretum Gratiani, Dist. 45 c. 10, in: Richter, Emil Ludwig / Friedberg, Emil (Hrsg.), Corpus Iuris Canonici, Bd. 1: Decretum Magistri Gratiani, Nachdruck der 1879 in Leipzig erschienenen Ausgabe, Graz 1959, 164-165; unter Bezugnahme auf Isidor von Sevilla, Sententiae, 3. Buch, Kap. 52, in: Migne, Jacques Paul (Hrsg.), Patrologiae cursus completus. Series Latina, Bd. 83: Sancti Isidori, Hispalensis Episcopi, opera omnia, 5. Teilbd., Paris 1863, 724B.

38 Auslegung des 101. Psalms, in: WA 51 (Anm. 12), 206.

39 Summa aurea (Anm. 25), 1874.

40 Ebd.

41 Epistel am 4. Adventssonntag, Phil. 4,4-7, in: WA 10.1.2 (Anm. 6), 174.

42 Auslegung des 101. Psalms, in: WA 51 (Anm. 12), 206.

43 Ebd., 205.

44 Vgl. Lehmann, Roland M., Naturrecht, in: Leonhardt Rochus / Scheliha, Arnulf von (Hrsg.), Hier stehe ich, ich kann nicht anders! Martin Luthers Staatsverständnis (Staatsverständnisse 82), Baden-Baden 2015, 169-212, hier: 203f.

45 Vgl. auch Heckel, Luthers Reformation (Anm. 20), 430.

46 Auslegung des 101. Psalms, in: WA 51 (Anm. 12), 205.

47 Ob Kriegsleute auch im seligen Stand sein können, in: WA 19 (Anm. 7), 632.

48 Auslegung des 101. Psalms, in: WA 51 (Anm. 12), 206.

49 Vgl. Suda, Max Josef, Die Ethik Martin Luthers (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 108), Göttingen 2006, 128f.

50 Von weltlicher Obrigkeit, in: WA 11 (Anm. 28), 276.

51 Vgl. Lehmann, Naturrecht (Anm. 44), 178, Fn. 44f.

52 Ebd., 179.

53 Wingren, Gustaf, Art. Billigkeit, in: Müller, Gerhard u. a. (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 6, Berlin / New York 1980, 642-645, hier: 643; vgl. auch Schmoeckel, Mathias, Das Recht der Reformation. Die epistemologische Revolution der Wissenschaft und die Spaltung der Rechtsordnung in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2014, 221 f.

54 Gehrke, Epieikeia (Anm. 10), 90.

55 So schon Johannes Heckel: vgl. Heckel, Johannes, Lex charitatis. Eine juristische Untersuchung über das Recht in der Theologie Martin Luthers (Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Neue Folge 36), München 1953, 163, Fn. 1297.

56 Troeltsch, Ernst, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (Gesammelte Schriften 2), Tübingen 21919, 538.

57 Summa Theologiae II-II, q. 120 art. 1, in: Editio Leonina 9 (Anm. 21), 468.

58 Ob Kriegsleute auch im seligen Stand sein können, in: WA 19 (Anm. 7), 632.

59 Gehrke, Epieikeia (Anm. 10), 94, Fn. 30.

60 Schüller, Barmherzigkeit (Anm. 26), 359.

61 Vgl. u. a. Suárez, Francisco, Tractatus de legibus ac Deo legislatore in decem libros distributus, 6. Buch, Kap. 1, Nr. 7, Bd. 2, Neapel 1872, 141f.

Ecclesiae et scientiae fideliter inserviens

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