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3. Wissen im Plural

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Schon Thomas S. Kuhn – im Gefolge von Friedrich Nietzsche und Edmund Husserl, später dann noch radikaler Paul Feyerabend – betont gegen den objektiven Schein der Wissenschaft die vorrationale Basis der ForscherInnen in der Forschergemeinschaft, hat doch „jede frühere Wissenschaft […] Glaubenselemente eingeschlossen, die mit den heute vertretenen unvereinbar sind.“284 Bekanntlich sieht er sich angesichts der Erkenntnis, dass das, „was ein Mensch sieht, […] sowohl davon abhängt, worauf er blickt, wie davon, worauf zu sehen ihn seine visuell-begriffliche Erfahrung gelehrt hat“285, veranlasst, von einem Paradigmenwechsel zu sprechen, infolgedessen angesichts der Pluralität möglicher Modelle der Wirklichkeitserfassung oder -beschreibung auch Begriffe wie wissenschaftlicher Fortschritt und wissenschaftliche Objektivität relativiert bzw. fraglich werden.

Vor diesem Hintergrund wurde auch zunehmend klar, dass Wissen strukturell immer mit Perspektivität verbunden und ohne Perspektivität nicht zu haben ist – Wissen ist demnach nie endgültig wahr, zumindest nicht im Sinne eines korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriffs. Alle Interpretationen und Beschreibungen der Wirklichkeit implizieren immer eine bestimmte Perspektivität, und Überlieferungen lassen sich nur als komplexes, spannungsreiches und widersprüchliches Konglomerat perspektivischer Sichten auf die Realität sehen.286 Eine multiperspektivische Betrachtung ermöglicht es, mehrere Blicke von verschiedenen Seiten auf die Gegenstände zu richten und zu erkennen, dass das Bild, das dabei entsteht, abhängig ist vom Standpunkt, der jeweils eingenommen wird. Es wird dabei sogar deutlich, dass erst die Perspektive den Gegenstand der Betrachtung konstituiert. Idealtypisch vereinfacht kann mit Wolfgang Sander diese Konstruktion der Wirklichkeit auf drei Ebenen festgemacht werden:287

(1) Ebene der biologischen Determination:

Die Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Sinnesorgane führen zu einer bestimmten, spezifischen und perspektivischen, aber eben keinesfalls objektiven Wahrnehmung und Erkenntnis der Welt.

(2) sozio-kulturelle Ebene:

Ein Blick in die Geschichte der Menschheit offenbart eine Vielfalt an realisierten Lebensformen, eine Vielzahl von höchst unterschiedlichen Welt- und Wirklichkeitsverständnissen. Da die Art und Weise der Organisation und Gestaltung des Zusammenlebens nur wenig determiniert ist, wurden je nach Gesellschaft, sozialer Gruppe, Religion, weltanschaulicher Gemeinschaft oder kulturellem Großraum spezifische Vorstellungen von (sozialer) Wirklichkeit hervorgebracht; zu beachten ist, dass speziell auf dieser sozio-kulturellen Ebene immer auch kollektive Bedürfnisse und Interessen sowie Macht- und Herrschaftsverhältnisse zur Geltung kommen.

(3) Ebene der individuellen Deutung der Welt:

Unterschiedliche genetische Dispositionen, Lebenserfahrungen und Weltverständnisse führen zu Konstruktionen von Wirklichkeit, die auch zwischen den einzelnen Menschen variieren. Wenn es bisher auch keiner Gesellschaftsform gelungen ist, diese Ebene der Konstruktion der Wirklichkeit durch massiven Anpassungsdruck völlig zum Verschwinden zu bringen, ist allerdings

„der Spielraum für individuell differente Konstruktionen der Wirklichkeit nicht zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften gleich groß […], sondern hängt vom Grad der Differenzheit der für Einzelnen erfahrbaren sozialen Welt, aber auch von der normativen Akzeptanz einer Vielfalt von Weltverständnissen ab […], die bekanntlich nicht in allen Gesellschaften gleich groß war und ist.“288

Ein konstruktivistisches Wissensverständnis macht darauf aufmerksam, dass die Vorstellung eines endgültig gesicherten Wissens illusionär ist. Zwar kreieren Wissenschaften durchaus immer mehr und immer neues vorläufig gesichertes Wissen, aber letztlich vervielfältigen sie damit zugleich die Perspektiven, unter denen die Welt betrachtet werden kann. Jede neue Erkenntnis führt zu einer Reihe neuer offener Fragen, und damit wächst mit der Vervielfältigung wissenschaftlichen Wissens auch das Nichtwissen.289

Praktische Theologie in der Spätmoderne

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