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Paradoxalität

Christian Bauer

Ortstermin in der Berliner Kastanienallee. Irgendwann zum Jahrtausendwechsel stellten die ersten Clubs Secondhand-Möbel vor die Tür. Nicht für den Sperrmüll, sondern als Sitzgelegenheit. Junge Leute mit wenig Geld und einem Kopf voller Ideen machten aus ihrer Geldnot eine Tugend spätmoderner Lebenskunst. Ein paar alte Stühle aufs Trottoir, Sitzkissen auf die Fensterbrüstung – und fertig war ein lebenswerter, freundlicher Ort. Die Botschaft war: Feiern kann man überall. Und zwar ganz egal, wie kaputt das Kopfsteinpflaster und wie schäbig der Hausputz ist. Der Berlin-Style war entstanden: arm, aber sexy. Darin erschließt sich etwas vom Lebensgefühl einer Gegenwart, der die großen Utopien abhandengekommen sind. Es geht um den Existentialismus eines trotzigen „Als-ob“321, wie ihn Giorgio Agamben bei Paulus herausstellt: weinen, als ob man nicht weinte. Ästhetisch gewendet: feiern, als ob man an einem schönen Ort wäre. Und politisch: sich engagieren, als ob man durch den eigenen Einsatz die Welt verändern könnte. Die Psychologie spricht von Dilemmakompetenz. Die Suche nach dem kleinen Glück in dieser Zeit, das zugleich ein gutes Leben für möglichst viele Menschen bedeutet, ist eine paradoxe Signatur der Gegenwart. Sie wird im Folgenden aus der Perspektive unterschiedlicher Personen betrachtet: Barack Obama, Reinhold Niebuhr, Niklas Luhmann und Nikolaus von Kues. Am Ende stehen die Paradoxien christlicher Mystik – und damit implizit auch die These: Paradoxe Begriffe der Spätmoderne sind nichts anderes als säkularisierte theologische Begriffe.

1. Politische Paradoxien

„Es gibt kein richtiges Leben im falschen”322 – vielleicht muss man dieses Wort Theodor W. Adornos heute umkehren: Es gibt ein richtiges Leben nur im falschen – denn ein anderes haben wir nicht. Alles andere wäre eine hoffnungslose Utopie. Statt mit Jürgen Habermas den Utopien eines „wahren Lebens”323 nachzuhängen, sollte man sich vielleicht lieber mit Michel Foucault auf die Suche nach entsprechenden Heterotopien324 machen: nach Andersorten eines auch in den Paradoxien einer falschen Ordnung der Dinge noch gelingenden Lebens. Das Motto lautet: Heterotopien wirklicher Möglichkeiten statt Utopien möglicher Wirklichkeiten. Entsprechende christliche Zeitgenossenschaft führt mitten hinein in die Paradoxien der Gegenwart. Krieg dem Krieg – ein Graffito, das deren mögliche Tragik exemplarisch auf den Punkt bringt. Die existenzbestimmende Hintergrundfrage lautet: Wie kann man realistisch sein, ohne zugleich zynisch zu werden? Viele Zeitgenossen antworten darauf mit einer erstaunlichen Dilemmakompetenz, wie sie auch US-Präsident Barack Obama mit seiner Rede zur Verleihung des Friedensnobelpreises bewiesen hat:

„Ja, die Mittel des Krieges spielen eine Rolle in der Erhaltung des Friedens. Und doch muss diese Wahrheit neben einer anderen bestehen; nämlich der, dass Kriege menschliche Tragödien bedeuten, wie gerechtfertigt sie auch immer sein mögen. […] Wir können zugeben, dass es immer Unterdrückung geben wird, und dennoch um Gerechtigkeit kämpfen. Wir können die Unauflösbarkeit von Armut eingestehen und uns dennoch um Würde bemühen. Wir können verstehen, dass es Krieg geben wird, und uns dennoch für Frieden einsetzen.“325

Die Paradoxiefähigkeit eines entsprechend nichtzynischen Realismus zielt auf eine „Unbedingtheit jenseits des Erforderlichen“326, die auf eine Formel Michel de Certeaus verweist, die als Kurzfassung spätmoderner Überlebensstrategien in den Paradoxien der Gegenwart taugt: „Das Notwendige, unwahrscheinlich geworden, ist in der Tat das Unmögliche“327. Diese Formel ihrerseits verweist wiederum auf Maurice Blondels Begriff des Übernatürlichen: „Es ist notwendig, und es ist unausführbar […]. Absolut unmöglich und absolut notwendig für den Menschen – das genau ist der Begriff des Übernatürlichen.“328 Dieser Immanenzapologetik der Spätmoderne entspricht ein Existentialismus, der den Felsbrocken des eigenen Lebens beharrlich einen Berg globaler Paradoxien hinaufrollt – und darin vielleicht sogar so etwas wie Glück empfindet: Tapferkeit als kontrafaktisch durchgehaltener Lebensmut. Mit seinem Manifest Archimondain, Joliepunk trifft der Franzose Camille de Toledo wohl am besten das entsprechende Lebensgefühl:

„Und der Zynismus? […] Der Zynismus ist tot […]. Wir […] befinden uns in einem Zeitalter […] der zweiten Unschuld, wir öffnen die Welt wieder, nachdem sie lange geschlossen war. […] Wir sind Romantiker der offenen Augen […]. Romantik ist eine Sehnsucht […], die die Menschen zerreißt, die für sie kämpfen. Anders geht es gar nicht! […] Wir sollten wieder mehr Camus lesen.“329

2. Zivilreligiöse Paradoxien

Wir sollten Albert Camus lesen oder aber: Reinhold Niebuhr. In einem Interview zur Präsidentschaftswahl 2008 bekannte sich der überzeugte ‚Niebuhrianer‘ Obama explizit zu diesem Theologen:

„Ich mag ihn sehr. Er ist einer meiner bevorzugten Denker. […] Ich habe von ihm […] die bezwingende Einsicht übernommen, dass es ernsthaft Böses in der Welt gibt, Not und Leid, und dass wir in unserem Glauben demütig und bescheiden sein sollten, diese Dinge überwinden zu können. Und doch sollten wir das nicht als eine Entschuldigung für Zynismus und Tatenlosigkeit missbrauchen. Ich habe von ihm […] gelernt, dass wir all diese Anstrengungen unternehmen sollten im vollen Wissen darum, dass sie hart sein werden – und zwar ohne dabei von einem naiven Idealismus in einen bitteren Realismus zu kippen.“330

Niebuhr selbst klingt an manchen Stellen so, als hätte er die Ambivalenzen der Präsidentschaft Obamas vorhergesehen. In seinem Buch The irony of American history benennt Niebuhr mit Blick auf den Kalten Krieg ein „tragisches Dilemma“331, aus dem weder Idealismus noch Realismus einen Ausweg bieten:

„Das tragische Moment einer menschlichen Situation besteht in einer bewussten Wahl des Bösen im Zeichen des Guten. Wenn Menschen […] schuldig werden, um einer hohen Verantwortung gerecht zu werden […] – immer dann treffen sie eine tragische Wahl. […] Natürlich unternimmt eine Kultur, die so sehr auf die Möglichkeit vertraut, alle Inkongruenzen des Lebens […] lösen zu können, unermüdliche Anstrengungen, diesem tragischen Dilemma zu entgehen. Die Idealisten glauben, wir könnten ihm dadurch entgehen, dass wir uns […] moralisch in ausreichendem Maße anstrengen – zum Beispiel dadurch, dass wir eine Weltregierung etablieren. […] Die Realisten andererseits […] sind davon überzeugt, dass das Übel des Kommunismus so groß ist, dass es den Einsatz jeder Waffe rechtfertigt – womit sie der kommunistischen Erbarmungslosigkeit sehr nahekommen.“332

3. Soziologische Paradoxien

Niebuhr und Niklas Luhmann verbindet zumindest eines: ein skeptischer Realismus in Bezug auf idealistische Weltverbesserungsträume. Der Soziologe Luhmann steht wie kaum ein anderer für eine Abklärung der Aufklärung333, derzufolge man „letzte Einsichten“334 nur in Form von Paradoxien zum Ausdruck bringen kann – und zwar als Steigerung von Autonomie bei gleichzeitiger Erhöhung von Unsicherheit: „Die Paradoxie macht frei“335. Von seinem Modell einer soziologischen Selbstbeschreibung der Gesellschaft kann Pastoraltheologie nur lernen – ist sie doch auch selbst Teil jenes Gegenstandes, den sie mittels (Selbst-) Beobachtungen theologisch zu beschreiben versucht:

„Beobachten ist […] eine paradoxe Operation. Sie aktualisiert […] eine Unterscheidung, die in sich selbst wieder vorkommt. […] Die Einheit dieser Unterscheidung […] ist nur als Paradox beobachtbar. […] Das heißt keineswegs […], dass nun Beliebiges oder nichts mehr möglich wäre. Die Reflexionstheorie bekommt es vielmehr mit der Frage zu tun, welche Formen der Entparadoxierung angeboten werden können […].“336

Paradoxiefähigkeit schließt die Fähigkeit zu zeitweiser Entparadoxierung mit ein. In der Pastoral geht es ständig um solche Versuche einer handlungsermöglichenden (und damit zugleich paradoxieerzeugenden) Reduktion von Komplexität. Ein möglicher Ort anschließender Reparadoxierung ist die Spiritualität mit ihrer geistlichen Unterscheidung der Geister – und zwar in Form der „Sekundärparadoxie eines Wiedereintritts der Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene“337. Ein Beispiel ist das u. a. Niebuhr zugeschriebene Serenity prayer: „Gib uns die Kraft, zu verändern, was wir ändern können, hinzunehmen, was wir nicht ändern können – und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Spätmoderne Pastoraltheologie umfasst beides: Sie entparadoxiert und reparadoxiert die Gegenwart zugleich. Oder besser: Sie macht Entparadoxierungen sichtbar und ermöglicht dadurch Reparadoxierungen. Entsprechend dilemmakompetente Alltagspraktiken lassen sich im Anschluss an Luhmann wie folgt rekonstruieren:

„Eine Paradoxie ist durch eine Situation der Unentscheidbarkeit charakterisiert. […] Die Anschlussfähigkeit kann nur gesichert werden, wenn die zugrundeliegende Paradoxie aufgelöst bzw. invisibilisiert wird. […] Der Beobachter setzt seine Beobachtungsoperationen dadurch fort, dass er die der Beobachtung zugrundeliegende Paradoxie ausblendet. […] Ein weiterer Beobachter dieses Beobachters, ein Beobachter zweiter Ordnung also, kann […] die zugrundeliegende Paradoxie und damit die entsprechende Technik der Entparadoxierung beobachten.“338

Damit stehen wir an einem Übergang vom soziologischen zum theologischen Diskurs bzw. zu Luhmanns erklärtem Lieblingstheologen: „Fragt man nach Vorfahren dieses Konzepts, muss man […] in der Theologie suchen. Für Nikolaus von Kues etwa trug die Einheit, […] die sogar die Unterscheidung von Unterschiedensein und Nichtunterschiedensein transzendiert, den Namen Gott.“339

4. Theologische Paradoxien

Am Cusaner faszinierte Luhmann vor allem dessen „Gottesbegriff jenseits aller Unterscheidungen“340: die coincidentia oppositorum als Einheitsgrund aller Gegensätze, dem auf Seiten menschlicher Erkenntnisfähigkeit eine paradoxe docta ignorantia entspricht. Nikolaus von Kues selbst spricht in nichtaffirmativer Doppelnegation vom Non aliud, von einem „Nichtanderen“341:

„Sein Gottesbegriff liegt […] jenseits der Unterscheidung des Unterschiedenen und des Nichtunterschiedenen. […] Die Unterscheidung selbst muss […] als das Nicht-Andere des Unterschiedenen begriffen werden. Sofern das Unterschiedene an der Unterscheidung teilnimmt, ist es nicht anders als das jeweils andere. Das non-aliud ist für Nikolaus das Absolute.“342

Michel de Certeau berührt diesen Bereich des Absoluten mit der sprachlichen Wendung „weder … noch“343: Gott ist weder der Unterschiedene noch ist er der Nichtunterschiedene. Dem entspricht die letzte Stufe jenes „Tetralemmas“344 theologischer Sprachmöglichkeiten, dessen Eckpunkte Nikolaus folgendermaßen umschreibt: „Es ist […] in höchster Weise wahr, dass das schlechthin Größte [also theologisch: Gott, Ch. B.] ist (esse) oder nicht ist (vel non esse) oder ist und nicht ist (vel esse et non esse) oder weder ist noch nicht ist (vel nec esse nec non esse).“345

Unter Bezugnahme auf spätmoderne Franzosen wie Jacques Derrida, Gilles Deleuze oder Michel de Certeau interessiert Luhmann sich vor diesem Hintergrund auch für die Paradoxien mystischer Sprachformen, die den Gottesdiskurs nicht nur prinzipiell unruhig halten, sondern auch dessen binnentheologisch zwar „eher marginale“346, erkenntnistheoretisch jedoch „wohl anspruchsvollste Lösung“347 darstellen:

„Alles Unterscheiden wird in Existenz aufgehoben, freilich nur im Moment. Die darin liegende Gewissheit lässt sich nicht unterscheiden, also auch nicht überbieten – aber eben deshalb auch nicht mitteilen […]: die komplizierte Struktur des Beobachtens zweiter Ordnung dient zur Ausarbeitung der Kontingenzformel Gott. […] Der Kernpunkt der Inkommunikabilität nimmt […] die Form eines Paradoxes an. Letzte Einsichten können nur in dieser Form kommuniziert werden. Das ist speziell auf Beobachter zweiter Ordnung zugeschnitten: auf Beobachter, die das Beobachten Gottes zu beobachten suchen. Sie trifft also vor allem den Teufel und die Theologen.“348

Praktische Theologie in der Spätmoderne

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