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ОглавлениеÖkonomisierung
Wolfgang Fritzen / Christoph Lienkamp
1. Das Phänomen Ökonomisierung
Moderne Gesellschaften sind funktional differenzierte Gesellschaften – so haben es uns Soziologen wie Georg Simmel oder Niklas Luhmann eindringlich vor Augen gestellt: Gesellschaftliche Lebensbereiche wie Wirtschaft, Wissenschaft, Recht, Politik, Erziehung und Religion bilden Teilsysteme, die nach je eigenen Leitperspektiven und Codes funktionieren und sich auf diese Weise strikt von ihrer Umwelt und den anderen Systemen abgrenzen. Doch die genannten Teilsysteme existieren keineswegs einfach schiedlich-friedlich nebeneinander, sondern interagieren vielfältig. Ein Teilsystem hat dabei offensichtlich besonders machtvollen Einfluss – die Ökonomie. So schrieb Simmel bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass das zentrale Medium der Ökonomisierung, das Geld, zu einer „Weltformel“ avanciert sei, und die Geldwirtschaft „es wirklich zustande gebracht [habe, W. F. / C. L.], daß unser Wertgefühl den Dingen gegenüber sein Maß an ihrem Geldwert zu finden pflegt“300. Zwanzig Jahre später betonte Max Weber, dass er den Kapitalismus für die „schicksalvollste Macht unseres modernen Lebens“ halte.301 Was hier schon vor hundert Jahren beobachtet wurde, gilt in der Spätmoderne in verschärftem Maße.
Seit Anfang der 1990er Jahre ist von Ökonomisierung die Rede. Mit diesem Begriff werden Vorgänge bezeichnet, durch die Orientierungen, Prozesse und Strukturen, die wirtschaftlicher Systemlogik entsprechen, in außerwirtschaftlichen Bereichen der Gesellschaft an Bedeutung gewinnen. Dabei ist die Berücksichtigung ökonomischer Faktoren in nicht-ökonomischen gesellschaftlichen Teilsystemen im Sinne schlichter Wirtschaftlichkeit noch keine Ökonomisierung. Erst wo dieser Einfluss ein kritisches Maß überschreitet und zur Unterwerfung der systemeigenen Perspektive unter das ökonomische Prinzip führt, wird es problematisch. Dass beispielsweise ein Journalist auch die verkaufte Auflage und Werbekunden im Blick hat, ist unvermeidlich, doch wo er zuerst mit Blick auf diese schreibt, verletzt er grundlegend das Ethos seines Teilsystems. Auch die strukturellen Kopplungen zwischen Bildungs- oder Gesundheitsbereich und Wirtschaft sind notwendig. Doch der massive Einfluss des Qualitätsbegriffs und der Prozeduren eines privatwirtschaftlichen Qualitätsmanagements kann zu einer Vernachlässigung des erzieherisch bzw. medizinisch Gebotenen führen.302
Ökonomisierung ist in der Spätmoderne in vielen Bereichen der Gesellschaft präsent. So spricht man von der Ökonomisierung der Bildung, der sozialen Arbeit, des öffentlichen Sektors, der Wissenschaft, des Gesundheitswesens und nicht zuletzt auch der Kirche.303 Wir beobachten, dass ökonomische Prinzipien Einzug in alle Lebensbereiche halten: Der gute Verdienst wird zur entscheidenden Berufsmotivation, Partnerschaft und Familie werden an ihrer Kompatibilität mit den Erfordernissen des Arbeitsmarkts gemessen, Bildung und Wissenschaft sollen primär der Ausbildung dienen und sich zunehmend über Drittmittel finanzieren, der politische Diskurs wird von ökonomischen Themen dominiert, die Medienlandschaft hängt am Tropf der Werbung, und auch in religiösen Fragen lässt sich eine Konsummentalität beobachten. Ökonomisierung macht das Prinzip von Leistung und Gegenleistung weit über den wirtschaftlichen Bereich hinaus zur leitenden Maxime:
„Der Mensch wird nicht nur im Supermarkt oder im Reisebüro als ‚Kunde‘ angesehen, sondern auch in Arztpraxis und Krankenhaus, in Stadtverwaltung und Beratungsstelle, in Schule und Universität, ja sogar in Kirche und Gemeinde, wo dann von ‚religiösen Dienstleistungen‘ die Rede ist.“304
Dem Bereich der Ökonomie kommt offensichtlich die Funktion eines sozialen Leitsystems zu, weil die gesellschaftlichen Teilsysteme „auf einen ‚monetären‘ Koordinations- und Integrationsmodus ansprechen.“305
Besonders folgenreich dürfte die durchgängige Ökonomisierung der Arbeitswelt sein. Sie führt zum einen zum „Gefühl der ‚Entkernung‘ der Arbeit“ durch den Eindruck, „dass die handwerklichen, qualitätsbezogenen, ethischen und anderen Kriterien im Arbeitsprozess in steigendem Maße von betriebswirtschaftlichen und kommerziellen Logiken zurückgedrängt werden“, und zum anderen „zur Ausweitung prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse“ und sie hinterlässt das Gefühl der „Brüchigkeit und Unverbindlichkeit des Arbeitslebens“.306 Die Ausweitung der ökonomischen Logik und mit ihr einhergehend das Zurückfahren sozialer Sicherungssysteme führt dazu, dass „das Individuum unternehmerische Strategien der Lebensbewältigung entwickeln“ muss.307 Was auf der einen Seite als wünschenswerte Flexibilisierung der Arbeit und als Autonomiegewinn erfahren werden kann, führt auf der anderen Seite „zu einer anwachsenden Fremdbestimmung durch verinnerlichten Leistungsdruck und zur Verbetrieblichung der gesamten Lebensführung, die unter das Diktat der Selbstökonomisierung gestellt wird“308. So kann und muss der Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt flexibel und mobil agieren und sich selbst managen und vermarkten.309 Entsprechend wird der ökonomisch erfolgreiche Single zur „Grundfigur der durchgesetzten Moderne“, genauer: zum „Urbild der durchgesetzten Arbeitsmarktgesellschaft“.310
2. Zur Bewertung der Ökonomisierung
Den umfassenden Einfluss kapitalistischer Ökonomie hat Walter Benjamin als Religionsersatz beschrieben: „Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d. h. der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben.“ Er charakterisiert ihn als eine „reine Kultreligion“, die „keine spezielle Dogmatik, keine Theologie“ kenne. Sein Kultus kennt keine Unterbrechung, sondern prägt jeden Tag und dient der konsequenten Ausrichtung der Menschen auf Konsum, Arbeit und Gewinnmaximierung.311 Benjamins Analyse wurde gerade auch in der Theologie zustimmend aufgenommen: Die Ökonomie mit ihrem zentralen Steuerungsmedium Geld habe die bisherigen Kerndomänen der Religion übernommen, indem sie Sinn stiftet, Freiheit ermöglicht, Identität konstituiert, Zugehörigkeit festlegt, Heil und Rettung verspricht.312 Das Geld sei „das Sakrament der bürgerlichen Gesellschaft“ und „der ‚god term‘ der Moderne“.313 Oder der Kapitalismus wird gar als „neue Weltreligion“ und „Götzendienst“ betrachtet, deren Bekämpfung „die Hauptaufgabe für das Christentum“ darstelle.314
Wo die Rede vom Kapitalismus als Religion und Götzendienst einer pointierten Kritik der Auswüchse spätmoderner Ökonomisierung dient, ist sie zweifellos berechtigt. Dort wo sie selbst zu einer Religion, nämlich zur Religion des Anti-Kapitalismus wird, hört sie auf, hilfreich zu sein. Die Dämonisierung von Markt, Konsum und Gewinnstreben ist ebenso wenig sinnvoll wie deren Vergötzung. Denn beides verhindert, zunächst nüchtern die Funktionsweisen kapitalistischer Ökonomie zu sehen und auch deren Erfolge wertzuschätzen. „Geld ist weder Alles noch Nichts, sondern ein vorzügliches Mittel individueller und gesellschaftlicher Freiheit.“315 Daher bietet sich ein „kritisch-relatives“ Verhältnis zu Geld und Markt an.316 Auch die Ökonomisierung kann zu funktionalen Effekten führen: Die Schaffung von marktähnlichen Strukturen und damit die Verschärfung von Konkurrenz kann auch in nicht-ökonomischen Bereichen zu einem besseren Umgang mit Ressourcen und zu einer Steigerung der Qualität führen.
Damit sollen in keiner Weise die offensichtlichen Probleme und Gefahren kapitalistischen Wirtschaftens verharmlost werden: Es führt zu verheerenden Zerstörungen in unserem natürlichen Lebensraum, zu Arbeitslosigkeit und Ausbeutung und zu einer wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich, die besonders im internationalen Vergleich eine Ungerechtigkeit darstellt. Auch die dysfunktionalen Effekte der Ökonomisierung werden immer deutlicher: So ist beispielsweise der Aufwand für externe Beratungsprozesse und Evaluationsprozeduren enorm, die Breite des Leistungsangebots und die Qualität der Leistung werden in Frage gestellt, und die Identifikation mit der eigentlichen Sache des Teilsystems droht zu schwinden.317 Doch auch hier gilt, dass Dämonisierung wie Vergötzung des Marktes nicht sinnvoll sind; denn sie erschweren oder verhindern realistische Wege zur notwendigen Begrenzung ökonomischer Macht und zur sozialen und ökologischen Gestaltung und Weiterentwicklung der Ökonomie und der anderen Teilsysteme. Praktische Theologie kann im Sinne einer prophetischen Umkehr- und Hoffnungstheologie destruktive Systemanteile analysieren und zu verändern suchen sowie neue Formen solidarischer Ökonomie zu entwickeln helfen. Engagierter als bisher müssen die Kirchen und die einzelnen Christen sich gegen Missstände einsetzen und Lebensweise und Konsum nach ökologischen und sozialen Kriterien gestalten.
3. Die Auseinandersetzung mit der Ökonomisierung als Element praktisch-theologischer Zeitgenossenschaft
Die Ökonomie ist zu einem äußerst machtvollen Leitsystem spätmoderner Gesellschaften geworden. Tendenzen der Ökonomisierung weiten ihren Einfluss in alle Lebensbereiche in einem Maße aus, die deren Eigenwert zu zerstören droht. Die hier angedeuteten Mechanismen können einer Praktische Theologie, die auf kritische Zeitgenossenschaft Wert legt, nicht gleichgültig sein. Auch wenn Theologen von sich aus keine Experten für die manchmal komplizierten ökonomischen Zusammenhänge sein können, wird zu fragen sein, inwiefern die nüchterne Analyse und die kritische Auseinandersetzung mit Ökonomie und Ökonomisierung erkennbar im Bewusstsein praktisch-theologischer Autoren und Autorinnen verankert sind und in ihren Entwürfen Berücksichtigung finden.318
Angesichts der Ökonomisierung aller Lebensbereiche müssen Kirche und Theologie die fatale Trennung zwischen pastoralem Handeln, das auf das Jenseits und das überzeitliche Heil, und sozialethischem Handeln, das auf das Diesseits und das Zeitliche ausgerichtet ist, überwinden.319 Denn nicht zuletzt sind auch die kirchlichen Strukturen Teil dieser Ökonomisierung.
Es wäre wünschenswert, dass sich praktische Theologinnen und Theologen theoretisch in den politischen Kampf gegen die zunehmende Ökonomisierung und die damit einhergehende Prekarisierung und Exklusion einmischen und praktisch die Teile der Kirche und die Christen unterstützen, die sich gegen Missstände einsetzen und ihre Lebensweise nach ökologischen und sozialen Kriterien zu gestalten suchen.
Grundsätzlich muss Praktische Theologie wachsam sein, um zu verhindern, dass einzelne Prinzipien, die sich in der Ökonomie bewährt haben, wahllos auf alle Lebensbereiche ausgedehnt werden. Der Ökonomisierung aller Lebensbereiche muss durch die Einsicht Einhalt geboten werden, dass das Recht des ökonomisch Stärkeren nicht Bereiche wie Recht, Politik, Freundschaft, Partnerschaft und Familie, Bildung und Wissenschaft, Religion und Kirche tyrannisieren darf. Es ist daran zu erinnern, dass das Leben und alles, was es bedeutsam macht, ein wunderbares Geschenk ist. Mit Paulus ist zu fragen: „Was hast du, das du nicht empfangen hättest?“ (1 Kor 4,7) Eine ökologisch und sozial sinnvolle Lebenspraxis könnte aus christlicher Sicht auf der Dankbarkeit und Freude an diesem Geschenk gründen. „Das Leben selbst als Gabe aufzufassen, stellt dann einen der stärksten Schutzwälle gegen seine Instrumentalisierung dar. Insofern steckt im Gedanken des Lebens als Gabe der Gedanke universaler Menschenwürde und unveräußerlicher Menschenrechte.“320