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3. Religion als Arbeit an der Unverfügbarkeit

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Religion, die in der Vergangenheit oft zur Stabilisierung des Status quo und damit zur Kontingenzsteigerung herangezogen worden ist, kann in der Kontingenzorientierung im Alltag einen wichtigen Beitrag leisten. Sie bietet eine Ordnungsstruktur, die helfen kann, kontingente Ereignisse in die eigene Lebensgeschichte zu integrieren und damit rekonstruieren und verstehen zu können. Diese Ordnungsstruktur muss selbstreflexiv die eigene Kontingenz im Auge behalten und bietet die Möglichkeit, Erfahrungen der Selbsttranszendenz zu machen, in denen der Mensch über die Grenzen des eigenen Selbst hinausgehen kann, wodurch eine Lockerung oder Befreiung von der Fixierung auf sich selbst möglich ist.360 Religion bietet die Möglichkeit der Wahrnehmung menschlicher Möglichkeiten und Grenzen unter Berücksichtigung der Kontingenz menschlicher Wahrnehmung und der Interpretation dieser Möglichkeiten und Grenzen. Ingolf U. Dalferth und Philipp Stoellger bezeichnen darum Religion als „die symbolisch prägnante und erfahrene Kunst der Kultivierung dieser Unverfügbarkeit. ‚Arbeit am Unverfügbaren‘ als ‚Arbeit an der Unverfügbarkeit‘ wäre eine passende Umschreibung der Religion wie auch einer ihr entsprechenden Hermeneutik.“361 Es muss darum gehen, das Unverfügbare zu bearbeiten, ohne das Unverfügbare kontrollieren oder gar verfügbar machen zu wollen. Die Pointe dieses Ansatzes gibt Menschen die Möglichkeit, unter Berücksichtigung menschlicher Begrenztheit und Endlichkeit ihre eigene Kreativität und Handlungsmöglichkeiten in den Blick zu nehmen. Religion bietet ihnen die Möglichkeit, als Individuum in Gemeinschaft die eigenen Unzulänglichkeiten als Chance und Gestaltungsmöglichkeit zu erkennen, ohne hierbei Allmachtsphantasien bemühen zu müssen. Das ist nur möglich, wenn die Religion und ihre Heilsbotschaft die eigenen kontingenten Merkmale durch eine metaphysische Überhöhung nicht zu reduzieren oder zu verdrängen versucht. Mit Henning Luther kann es „gerade nicht darum gehen, der Kontingenzerfahrung den Stachel des Unvertrauten zu nehmen und zu versuchen, sie mit dem bisherigen gewohnten Verstehensmuster zu versöhnen und zu vereinbaren.“362

Praktische Theologie kann als Theorie des religiös-kommunikativen Handelns363 aus der Perspektive der jüdisch-christlichen Tradition einen Beitrag zur Entwicklung einer Kontingenzkultur leisten, die als Wahrnehmungs-, Deutungs- und Gestaltungskunst verstanden werden kann.364 Die Frage ist, ob praktischtheologische Ansätze nicht den Fehler begehen, die Kontingenzproblematik metaphysisch zu lösen und damit zu beseitigen, oder aber die menschliche Ambivalenz des Kontingenten im Alltag zu negieren und damit die potentiellen Möglichkeiten nicht zu nutzen. Religion als Mittel der stabilisierenden Kontingenzverarbeitung oder Kontingenzverdrängung wird weder der Religion selbst noch der Bedeutung der Kontingenzerfahrung für den Menschen gerecht.365 Vielmehr wäre es vonnöten, auf die inhaltliche Dimension der Kontingenzproblematik im Rahmen eines praktisch-theologischen Ansatzes einzugehen. Das setzt eine Normalisierung und Entdramatisierung von Grenzerfahrungen voraus, wie sie Luther gefordert hat.366 Ein praktisch-theologischer Ansatz, der Grenzsituationen von der Mitte des Lebens her reflektiert, stellt die Unzulänglichkeiten dieses Lebens in den Mittelpunkt und betrachtet sie als Potentiale noch zu entfaltender Möglichkeiten, weil die Freisetzung transzendierender Motive Grenzen und Anderssein voraussetzt.367 Nur so kann die Selbstverständlichkeit des Alltags unterbrochen und Andersmöglichkeit bejaht werden.

Praktische Theologie in der Spätmoderne

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