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1. Menschen zwischen Orientierungslosigkeit und Möglichkeitssinn

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Der Mensch ist als instinktarmes Wesen immer auf der Suche nach Ordnung und Sicherheit, damit er sich in seiner Lebenswelt bewegen kann. Menschen versuchen darum, im Alltag das, was sie denken zu sein, und das, was ihnen widerfährt, miteinander in Einklang zu bringen. In der Regel haben sich viele Prozesse, Handlungen und Abläufe verselbständigt.349 Das ist auch notwendig, basiert doch das gesellschaftliche Miteinander auf der Voraussetzung menschlichen Vertrauens in die Zuverlässigkeit und Nachhaltigkeit menschlicher Handlungen, Überzeugungen, Ziele und Sehnsüchte. Bis weit in die Neuzeit hatte der religiöse und politische Kosmos den Stellenwert einer absoluten Notwendigkeit, in der es nur einen geringen Spielraum für Kontingenzen gab.350 In der Tradition des Aristoteles kann Kontingenz als etwas umschrieben werden, das nicht notwendig und nicht unmöglich ist. Etwas, das auch anders hätte sein können.351 Bis zur Moderne gab es aber kaum Spielraum für mögliches Anderssein, da das Kontingente im absoluten Grund einer Letztursache aufgehoben war, was oftmals einer Kontingenzreduktion gleichkam. Wer metaphysisch denkt, beseitigt die Kontingenz. Wer nachmetaphysisch denkt, erzeugt Kontingenz.352

Die neuzeitliche Moderne zeichnete sich durch Kontingenzsteigerung aus. Die Technisierung und Entwicklung in den Wissenschaften führt zu einer Divergenz von Erfahrung und Erwartung.353 Die Möglichkeiten menschlicher Vorstellungskraft und der Erfindungsreichtum ließen die Erfahrungswelt weit hinter sich. Hatten bis dato neue Erfahrungen zu neuen Lernschritten geführt, brachte die menschliche Vorstellungskraft Erfindungen hervor, die den bisherigen menschlichen Erfahrungsbereich weit überschritten. Kontingenzsteigerung war die Folge. Nichts schien dem Menschen mehr unmöglich zu sein. Kontingenzsteigerung fungierte fortan als Kontingenznutzung, um die Kontingenz letztendlich zu begrenzen. Die entscheidende Veränderung bestand jedoch in der Durchdringung des menschlichen Denk- und Handlungshorizonts durch die Kontingenz. Ging man in der antiken Auseinandersetzung damit noch davon aus, dass nur Ereignisse kontingent waren, nicht aber Ereignishorizonte, in denen Handlungen vollzogen wurden oder als Zufälle eintraten,354 so gelten in der Spätmoderne auch die Handlungsbereiche des Menschen als kontingent. Das hat zur Folge, dass der Mensch nur noch über kontingente Handlungsbereiche verfügt, die ihm keine unerschütterliche Sicherheit mehr bieten.

In der Spätmoderne wird das Drama der Moderne problematisiert, indem das zunehmende Bewusstsein für Kontingenz als moderne Erfahrung der Tragik erlebt wird: Um im Alltag handlungsfähig zu bleiben, besteht die Notwendigkeit der Eingrenzung von Kontingenzen, wobei hierdurch wieder neue Kontingenzen erzeugt werden. Lebensentwürfe werden vor diesem Hintergrund zu Lebensversuchen unter dem Vorbehalt der stetigen Kontingenzorientierung.

Kontingenz darf aber nicht nur als Bedrohung von Ordnungs- und Handlungsrahmen, sondern sollte vielmehr als Bedingung von Möglichkeiten verstanden werden. Kontingenz ist eine Bedingung für Kreativität. Ohne Handlungskontingenz gäbe es keine Spielräume für eigenes kreatives Handeln. Alles würde nach notwendigen Folgeschritten verlaufen.355 Was hier so positiv klingt, wird in der Alltagsrealität von vielen Menschen als bedrohlich erfahren. Zum einen brechen viele lieb gewonnene Lebensräume weg. Familien, Gruppen, Kirchen, Vereine, Parteien und viele andere soziale Lebensverbände verlieren ihre selbstverständliche Bindungs- und Geltungskraft.356 Die neu gewonnenen Handlungsmöglichkeiten werden als Gefahr erfahren. Die Individualisierung der Gesellschaften bringt eine Erosion der Handlungssicherheit mit sich. Langfristige Lebensentwürfe sind vor diesem Hintergrund nicht mehr gegeben.357 Mehr als eine zeitlich begrenzt gültige Festlegung eines Projektrahmens im Sinne einer Bearbeitung des Kontingenten erscheint nicht möglich.

Praktische Theologie in der Spätmoderne

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