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4. Plädoyer für Vielheit
ОглавлениеDie Pluralität und die mit ihr einhergehenden nur multiperspektivisch zu fassenden Zugänge zur und Konzeptionen von Wirklichkeit sind Fakt – etwas anderes zu behaupten, wäre Realitätsverleugnung und schlichtweg gefährlich. In der Ernstnahme und nicht – wie es ihm immer wieder zum Vorwurf gemacht wird – in der Erfindung dieser Situation sucht sich nun postmodernes Denken dieser Realität und den Herausforderungen, die sie an menschliches Handeln heranträgt, zu stellen290 und versteht sich so als „Anwalt der Pluralität“291. In einer radikal dekonstruktiven Geste wird Abschied genommen von God‘s eye view, dem Blick von Nirgendwo, von allem Prinzipiellen und Ursächlichen, und es wird das sehende Sehen des Heterogenen eingemahnt, die Anerkennung des Anderen, des Fremden und der Differenz gefordert, auch des Unerhörten, Verdrängten, der Leerzonen, der Zwischenräume, der Alterität, kurz all der Pluralität, die nach dem Niedergang der Metaphysik zum Vorschein kommen konnte. Der Gerechtigkeit – als neuer Leitidee292 – als einer ausgeprägten Sensibilität für Differenzen folgend gilt es, eine Vielheit von Rationalitäten und Regelsystemen anzuerkennen und sie keinesfalls als irrational abzuweisen, nur weil sie nicht dem eigenen Rationalitätstypus entsprechen. Diese Sensibilität ist nach Wolfgang Welsch eine Elementarbedingung in einer Welt der Pluralität293 und beinhaltet ein „waches Gespür für die Situation“, „Aufmerksamkeit aufs Detail, Wachsamkeit gegenüber vermeintlichen Selbstverständlichkeiten, die Zuwendung zum Unscheinbaren sowie Flexibilität und Spontanität“; sie schaut auf die „Unterschiedlichkeit des scheinbar Gleichen“ und richtet sich auf Andersartiges, Brüche und Divergenzen sowie Grenzen und Ausschlüsse.294 In all dem bleibt jedoch das Problem mit Positionen, die ihrerseits die Pluralität nicht anerkennen, bestehen. An diesem Punkt liegen, nach Sander, die Grenzen der Multiperspektivität: Der Sozial- und Erziehungswissenschafter möchte in Bildungsprozessen nur solche Positionen repräsentiert wissen, die ihrerseits bereit sind, andere als die eigene als legitim anzuerkennen.295
Ein pluralitätssensibles Subjekt ist also in der Lage, zwischen verschiedenen Sinnsystemen und Realitätskonstruktionen zu wechseln, Übergänge296 zum Fremdperspektivischen herzustellen – und das jenseits einer Nivellierung des Fremdseins oder der Stilisierung des Fremden zum Feind, jenseits der Veränderung des Fremden und seiner Konzeption als exotisches Faszinosum und auch jenseits der Wahrnehmung des Fremden als Komplementaritätselement, „als Spiegel des Wahrnehmenden selbst, aus dem der Begegnende für sich selbst lerne und den er als Korrektiv für seinen Selbstfindungsprozess benutze, und insofern nicht vollgültig als das/den Fremde(n) akzeptiert, sondern instrumentalisiere.“297 Solche Übergänge zum Fremdperspektivischen bedeuten also nicht die Auflösung der Differenzen, sind nie definitiv und sollen auch wieder aufgelöst werden, verändern aber immer auch die eigenen Grundlagen:
„Nicht ein bestimmter Satz rigider Prinzipien, sondern die Fähigkeit des Übergangs zwischen unterschiedlichen Bündeln von Grundsätzen ist jetzt verlangt. […] Der Blick über den Zaun, der gekonnte Wechsel, das Bedenken auch anderer Möglichkeiten gehören zu den Grundkompetenzen postmoderner Subjekte.“298
Dabei ist keineswegs der regulierende, oftmals vorschnelle, vereinnahmende Konsens das Ziel, sondern es geht darum, Differenzen zur Sprache zu bringen, auch solche, die sich in der Sprache des jeweiligen Diskurses kaum zu artikulieren wissen; es geht darum, das Unhörbare zu hören. Konflikte sind auszutragen und auszuhalten – in der Bereitschaft, das zu tun, besteht das Band, das Menschen verbinden kann und das in einer produktiven Streitkultur endet. Das impliziert, die Vielfalt als Bereicherung und als Einfallstor des Neuen zu sehen und nicht als Bedrohung. Dabei geht es postmodernem Denken stets um eine nur vorläufige und immer wieder zu hinterfragende Annäherungen an das Andere, um Versuche besseren und vertieften Verstehens: „Es bleibt also im positiven Sinn ein utopisches Moment […] als ein vielleicht gangbarer Weg in eine gewaltfreiere Welt.“299