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2. Von der Utopie der einen Wahrheit zur Hypertopie der Beschreibungen
ОглавлениеWenn es ein „Herzwort“278 der Spätmoderne gibt, dann ist es das der Pluralität, die gegenwärtig wohl historisch erstmalig die Fundamente der Gesellschaft betrifft, in ihrer verdichteten Radikalität wahrgenommen wird und die wissenschaftliche Reflexion sowie soziale und individuelle Realitäten zutiefst durchdringt.
So macht die soziologische Analyse auf der Mikro- wie auf der Makroebene auf die grundlegenden Differenzen innerhalb der Gesellschaft aufmerksam, welche als Ausdruck dieser radikalen Pluralität zu verstehen sind. Auf der Mikroebene bietet sich dem Individuum – nach der Freisetzung aus den Zwängen und letzten Sicherheiten einer traditionalen und damit ständisch-feudalen Ordnung durch die Individualisierungsprozesse der letzten 200 Jahre – die Möglichkeit zur hochindividuellen Ausgestaltung der eigenen Biographie, zur Wahl unterschiedlichster Lebensweisen und Sinnkonzeptionen (wobei unbestritten bleibt, dass dadurch auch neue Zwänge entstehen).279 Auf der Makroebene stellt sich die westliche Welt gegenwärtig als funktional differenzierte Gesellschaft dar, deren Subsysteme (Wirtschaft, Politik, Familie, Religion usw.) in ihrer Systemlogik durch je unterschiedliche binäre Codes (z. B. Politik: Macht/Ohnmacht; Religion: Transzendenz/Immanenz) hervorgebracht werden, so dass im 21. Jahrhundert die Konfrontation mit verschiedenen Perspektiven und Logiken – synchron wie auch diachron, intra- wie interkulturell, zwischen den einzelnen Subsystemen wie auch innerhalb der eigenen Identitätskonstruktion – in der alltäglichen Lebenswelt der Menschen angekommen ist:
„Wenn es ein besonderes Merkmal der modernen Welt im Vergleich zu früheren gibt, dann ist es die Tatsache, dass diese Welt von unterschiedlichen, konkurrierenden, sich ergänzenden, voneinander unabhängigen, aufeinander bezogenen, widersprüchlichen, auch völlig inkompatiblen Beschreibungen aller möglichen Sachverhalte nur so strotzt. […] Die moderne Gesellschaft ist eine Gesellschaft ohne Zentrum, ohne Zentralperspektive – und da das von allen denkbaren Perspektiven her sichtbar werden kann, ist es diese Unvermitteltheit der Perspektiven, die diese miteinander vermittelt.“280
Radikale Perspektivendifferenz – das verweist auf die Grunderfahrung von Modernität, nämlich mit Unterschiedlichem konfrontiert zu werden. Denn so funktioniert das spätmoderne Leben: „schnell und multiperspektivisch, kaum steuerbar und doch permanent unter Regulierungsdruck, befasst mit lebenswichtigen Entscheidungen und doch ohne Zentrum, von dem her sich das Ganze erschließt.“281 Die Welt sieht aus unterschiedlichen Perspektiven, in unterschiedlichen Kontexten und im Hinblick auf unterschiedliche praktische Erfordernisse radikal anders aus; alle könnten recht haben, obwohl sie sich doch zum Teil erheblich widersprechen.
Spätmoderne Gesellschaften sehen davon ab und haben auch nicht mehr die Möglichkeit, diese Perspektivendifferenzen – z. B. durch machtförmige Durchsetzung und Etablierung einer Gesamtperspektive auf Gott und die Welt – zu unterdrücken und damit stillzustellen, und das führt direkt zu jener Krisenhaftigkeit der Moderne,
„die nie stillsteht und die gerade dadurch zusammengehalten wird, dass ihre Perspektiven auseinanderstreben – und doch aufeinander bezogen bleiben. Deshalb gibt es keine endgültige Beschreibung, und deshalb müssen wir immer weiter kommunizieren, deshalb verdoppeln wir permanent die Welt. Aber je mehr wir sie beschreiben, desto uneindeutiger wird sie – und je uneindeutiger sie ist, umso mehr Bedarf gibt es, sie zu beschreiben.“282
In unserer Welt ist die Utopie der einen Wahrheit hinter den vielen Plausibilitäten unvermeidlich und unhintergehbar verschwunden und hat einer Hypertopie Platz gemacht – einer Vervielfältigung der Beschreibungsorte und -gelegenheiten.283