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2. Von Gender zur Intersektionalität

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Um der (spät-)modernen Vielfalt von Lebenslagen und dem damit verbundenen komplexen Ineinandergreifen von Privilegierungen und Diskriminierungen theoretisch wie praktisch gerecht werden zu können, ist es unerlässlich, zu betonen,

„dass Gender nicht isoliert betrachtet werden kann von Kategorien wie Klasse, Ethnizität, ‚Rasse‘, Religion, Lokalität, Sexualität, Nation, Alter oder Behinderung/Befähigung. Vielmehr wird herausgestellt, dass sich diese Kategorien für das einzelne Individuum erfahrbar ‚überschneiden‘, miteinander ‚verwoben‘ sind bzw. ‚sich verschränken‘. Diese Erkenntnis wird mit Begriffen wie Vielfalt, Diversität, Heterogenität, Differenzen, Interdependenzen oder Intersektionalität umschrieben.“234

Speziell das ursprünglich aus feministischen Theorien und Praktiken hervorgegangene Konzept der Intersektionalität ist inzwischen fest im Diskurs der Geschlechterforschung verankert.235 Die Wurzeln dieses Konzeptes liegen in den Erfahrungen Schwarzer Frauen, die sich weder in den Erfahrungen Weißer (Mittelschichts-)Frauen noch in denen von Schwarzen Männern wiederfanden236 und die in ihrer speziellen Unterdrückungssituation weder von anti-sexistischer noch anti-rassistischer Gesetzgebung wahrgenommen und vertreten wurden.237 So wird unter dem Begriff der Intersektionalität speziell auf die Wechselwirkungen von ungleichheitsgenerierenden Kategorien wie gender, class, race, aber auch Sexualität, Alter, (Dis-)Ability, Religion, Nationalität usw. fokussiert:

„Statt die Wirkungen von zwei, drei oder mehr Unterdrückungen lediglich zu addieren (was schon schwer genug ist), betonen die ProtagonistInnen des Konzepts, dass die Kategorien in verwobener Weise auftreten und sich wechselseitig verstärken, abschwächen oder auch verändern können.“238

Ein zentrales Element und Problem der Intersektionalitätsdebatte ist die Frage, wer aufgrund welcher Eigenschaften zu unterdrückten sozialen Gruppen gehört.239 Wegen der prinzipiellen Unabgeschlossenheit möglicher Differenzkategorien240 ist jedoch die Debatte, welche Differenzkategorien grundsätzlich in das Intersektionalitätskonzept einbezogen werden sollen, bis dato weder gelöst noch soll sie es werden. Liegt doch gerade in dieser vermeintlichen Unvollkommenheit die kritische Innovationskraft des Konzepts, denn Intersektionalität „hat das Potential, fortwährend für neue mögliche Auslassungen, Entnennungen und Exklusionen sensibel zu bleiben.“241 Gleichzeitig verweist die Unabschließbarkeit der Debatte um einzubeziehende Differenzkategorien und die Anerkennung der prinzipiellen Unmöglichkeit umfassender Repräsentation auf der Grundlage ausgrenzender Identitätsbildung auf das grundsätzliche Repräsentationsdilemma, dem jede Sichtbarmachung, Einbeziehung und Berücksichtigung minorisierter Perspektiven unterliegt, und macht die Schwierigkeiten einer nichtessenzialistischen Selbst-Repräsentation marginalisierter Frauen und Männer offenbar und benennbar.242 Allgemein bleibt diesbezüglich festzuhalten, dass die Entscheidung für diese oder jene Kategorien der Ungleichheit vom untersuchten Gegenstand und von der gewählten Untersuchungsebene abhängt.243

Die Herausforderung des Intersektionalitätsansatzes besteht nun nicht nur darin, marginalisierte Perspektiven zu integrieren, sondern in der Notwendigkeit, Herrschaftsverhältnisse und Machtdifferenzen als ko-konstruiert und kokonstitutiv zu verstehen.244 In Bezug auf jede untersuchte Ungleichheitsdimension sind sowohl die benachteiligenden wie auch die privilegierenden Effekte in den Blick zu nehmen. Damit befände sich die Geschlechterforschung inmitten eines Quantensprungs: „von der Differenz zwischen Frauen über die Dekonstruktion der Kategorie Geschlecht bis zur Verschränkung unterschiedlicher Ungleichheitsdimensionen – von der Mehrfachunterdrückung Schwarzer US-Amerikanerinnen zur ‚multiplen Positioniertheit‘ […] aller Menschen.“245 Über die Herausforderung, der multiplen Positioniertheit aller Menschen Rechnung zu tragen, hinaus zeichnet sich derzeit auch noch eine weitere Komplexitätssteigerung ab:

„denn aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen, die häufig mit Schlagwörtern wie Neoliberalismus, Informationsgesellschaft, Gentechnologie, Globalisierung etc. umschrieben werden, verändern nicht allein Konzepte von Geschlecht, Ethnizität oder Klasse […], sondern generieren womöglich neue Formen von sozialer Ungleichheit. […] Folglich stehen intersektionale Analysen vor der Herausforderung, die komplexe Gleichzeitigkeit von Wandel und Beharrungsvermögen sozialer Ungleichheitsverhältnisse an der Schwelle zum 21. Jahrhundert auszuloten.“246

Entgegen der Aufmerksamkeit im wissenschaftlichen Diskurs für die Reflexion auf die vielfältigen Differenzierungskategorien in ihren Verflechtungen und mit ihren ungleichheitsgenerierenden Effekten ist in der Gesellschaft – wohl in hohem Ausmaß als Reaktion auf die zunehmende Komplexität, verstärkt aber auch durch Strukturen, die nach wie vor die traditionelle Rollenaufteilung fördern – verschiedentlich eine Rückkehr zu stereotypen und essenzialistischen Geschlechtervorstellungen festzustellen.247 Winker/Degele dazu:

„Auf der Grundlage hierarchisierter Differenzkategorien konstruieren Individuen nicht nur unterschiedlichste Identitäten, sondern reproduzieren gleichzeitig hegemoniale symbolische Repräsentationen und hierarchisierte materialisierte Strukturen. Geschieht dies unter Rückgriff auf Naturalisierungen, dockt dies ebenso an vermeintlich sicheres wissenschaftliches wie auch an Alltagswissen an, verleiht Identitäten, Strukturen und Repräsentationen zusätzliche Glaubwürdigkeit und festigt letztlich die Reproduktion des Gesamtsystems.“248

Das Intersektionalitätskonzept überwindet die Frage nach einer einzigen Masterkategorie, indem es kein Herrschaftsverhältnis als dominant voraussetzt, sondern auf Verwobenheiten fokussiert und dementsprechend theoretisch wie methodologisch vielfältigste Differenzkategorien einbezieht – ohne dabei jedoch die Bedeutung der Kategorie Geschlecht zu reduzieren.249 Denn so sehr das Konzept der Intersektionalität einerseits an den Grenzen „traditioneller“ Genderforschung operiert, so ist andererseits doch beachtenswert, dass die Mehrzahl der VertreterInnen des Intersektionalitätskonzepts von der Genderforschung aus argumentiert und von daher Gender eine in den Analysen immer in Betracht gezogene Kategorie darstellt.250 Dieses Faktum zeigt,

„dass intersektionale Perspektiven zwar Geschlecht nicht als Masterkategorie setzen, sondern gleichwertig mit anderen Dimensionen sozialer Ungleichheit analysieren, aber dennoch mit einem normativen commitment […] bezüglich feministischer Theorietraditionen bzw. Theoriebildung einhergehen. Folglich will Intersektionalitätsforschung nicht Geschlechterforschung ersetzen, sondern diese bereichern.“251

Aktuell müssen wegen der Verzahnung von sozialen Ungleichheiten auf verschiedenen Ebenen und entlang unterschiedlicher Kategorien auch die Widerstandsformen gegen ungerechte Systeme und Strukturen angepasst und erweitert werden. Dabei kann aber durchaus wieder an Traditionen des Feminismus angeknüpft werden, „in denen emanzipatorische Bewegungen mit einem Fokus auf die Kategorie Geschlecht die Aufhebung aller Unterdrückungsstrukturen und Marginalisierungsmechanismen zum Ziel haben.“252

Praktische Theologie in der Spätmoderne

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