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2. Soziale Ausschließung: ein Kennzeichen von Armut in der Spätmoderne

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Soziale Ausschließung als Kennzeichen extremer Armut wurde in Europa schon in den frühen sechziger Jahren problematisiert, und zwar von einem pastoralen Praktiker, der diese Realität seit seiner Kindheit aus eigener Erfahrung kannte. Joseph Wresinski (1917–1988), Gründer der internationalen Bewegung ATD Vierte Welt (All Together in Dignity), hat aus der Weigerung, Elend und Ausgrenzung als Fatalität hinzunehmen, einen theologischen, politischen und pädagogischen Ansatz entwickelt, der mit der Überzeugung, dass jeder Mensch geistbegabt ist, radikal ernst macht.201 Als Seelsorger in einem Notunterkunftslager bei Paris suchte er eine Zusammenarbeit mit Forschern und Forscherinnen verschiedener Disziplinen, um die Situation der im Kontext einer modernen Gesellschaft als „asozial“ angesehenen Familien zu verstehen und zu verändern. Im Anschluss an eine von Wresinski angeregte Tagung 1964 bei der UNESCO prägte der Soziologe Jules Klanfer den Begriff der sozialen Ausschließung (exclusion sociale) als Kennzeichen von Armut in den reichen Ländern.202 Er steht für ein Phänomen, das mit der an Arbeitsverhältnisse gebundenen marxistischen Begrifflichkeit der Ausbeutung nicht adäquat erfasst werden konnte.203

Wresinski versteht Armutssituationen als Momente in einem Exklusionsprozess, welcher den Betroffenen grundlegende Sicherheiten (z. B. Arbeit, Wohnung, Einkommen, Bildung, Rechtsschutz, politische Vertretung) entzieht und sie so der Möglichkeit beraubt, ihre Rechte auszuüben und ihre Verantwortungen wahrzunehmen. Laut seiner Definition, die vom französischen Wirtschafts- und Sozialrat und später vom UNO-Menschenrechtsrat übernommen wurde, führt wirtschaftliche und soziale Unsicherheit (Prekarität) „dann zu starker Armut, wenn sie mehrere Existenzbereiche berührt, wenn sie über einen längeren Zeitraum anhält, wenn sie die Möglichkeiten beeinträchtigt, aus eigener Kraft in einer absehbaren Zeit seinen Verantwortungen wieder nachzukommen und seine Rechte zurück zu erwerben.“204

Bereits 1968 spricht Wresinski von der „Brutalität von Verachtung und Gleichgültigkeit“205, die Elend hervorbringe. Inzwischen haben soziologische und wirtschaftshistorische Analysen aus unterschiedlichen Schulen gezeigt, dass die angesprochene Indifferenz strukturell zur spätmodernen Gesellschaft gehört und eine Voraussetzung für deren Funktionieren darstellt. In dieser Gesellschaftsform beruhen Verpflichtungen zwischen den Individuen (außerhalb der Familie und der engen Freunde) nicht auf traditionellen, verwandtschaftlichen oder ständischen Bindungen, sondern auf Leistung und Gegenleistung. Die Verpflichtung endet, wenn der festgelegte Zweck erfüllt ist. Außerhalb dieser Tauschbeziehung begegnen sich die Individuen mit Indifferenz, einer Haltung wohlwollender Nichtbeachtung.206 Diese Haltung verhindert die Eskalation von Konflikten207, hat aber auch zur Folge, dass Menschen, die aufgrund ihrer Situation nicht in der Lage sind, in interessegebundenen Tauschbeziehungen die erwartete Gegenleistung zu erbringen, stigmatisiert oder kriminalisiert werden, sofern sie nicht ganz aus dem Wahrnehmungsraster hinausfallen.

Seit den neunziger Jahren wird Exklusion unter dem Stichwort der „Überflüssigen“ diskutiert.208 Der Blick richtet sich auf die wachsende Anzahl von Menschen, für die es im Arbeitsmarkt keinen Platz gibt. Als neu wird wahrgenommen, dass die mit dem Fehlen von Arbeitseinkommen und beruflichem Status verbundene gesellschaftliche Disqualifizierung in breitem Maße Menschen in sehr unterschiedlichen Ausgangslagen trifft: Einheimische und Fremde, quer durch die traditionellen sozialen Schichten und Klassen. Systemtheoretisch kann ihre Situation als Konsequenz der funktionalen Differenzierung unserer Gesellschaften verstanden werden:

„Funktionssysteme schließen, wenn sie rational operieren, Personen aus oder marginalisieren sie so stark, dass dies Konsequenzen hat für den Zugang zu anderen Funktionssystemen. Keine Ausbildung, keine Arbeit, kein Einkommen, keine regulären Ehen, Kinder ohne registrierte Geburt, ohne Ausweis, ohne Zugang zu an sich vorgesehenen Anspruchsberechtigungen, keine Beteiligung an Politik, kein Zugang zur Rechtsberatung, zur Polizei oder zu Gerichten – die Liste ließe sich verlängern, und sie betrifft, je nach den Umständen, Marginalisierungen bis hin zu gänzlichem Ausschluss.“209

Praktische Theologie in der Spätmoderne

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