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Wie Minderheit sein?

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Eine ehrliche Wahrnehmung und Therapie der ökumenischen Amnesie müsste auch zur Klärung der Frage führen, wie in den Kirchen und Gemeinden mit der Minderheitssituation überhaupt umgegangen werden soll und wie sie theologisch zu begreifen wäre. Karl Rahner hat in diesem Zusammenhang – und mit Blick auf die katholische Kirche – von einer „planetarischen Diaspora“ gesprochen und diese als „heilsgeschichtliches Muss“ theologisch qualifiziert. (vgl. Rahner 1961, 13-47) Heute dürfte man wohl damit rechnen, dass die meisten Christinnen und Christen dieser Einschätzung für jedes „Christentum“ folgen würden. Offen ist jedoch, zu welchen Konsequenzen die theologische Deutung der Minderheitssituation als „heilsgeschichtliches Muss“ führen wird. Wie kann man sich die Verhältnisbestimmung einer Minderheitskirche zu anderen Minderheitskirchen sowie zur Gesellschaft insgesamt in Zukunft vorstellen? Soweit absehbar, sprengen die Antwortversuche die bisherigen Einteilungen und Kategorialisierungen von Migrations- und Mainline-Churches. Wer sich einige Zeit mit den Migrationsgemeinden beschäftigt, wird bald auch ein anderes Bild von den „normalen“ Kirchen bekommen. Dabei geraten bisherige Kategorialisierungen deutlich in Bewegung.

Auf der einen Seite finden sich nämlich Kirchen und Gemeinden, deren Kennzeichen vor allem der Abgrenzung nach außen dienen. Unter den Stichworten der „Profilierung“ und der „Eindeutigkeit der Verkündigung“ wird die Minderheitssituation ausdrücklich aufgegriffen und in das Selbstkonzept als bestimmendes Kriterium, wenn nicht gar als vermeintliches „Proprium“ übernommen. Als Aufgabe der Minderheit wird vor allem gesehen, die eigene Identität zu schützen und abzugrenzen. So wird eine Minderheitsidentität quasi zum Selbstläufer. Dabei kann diese durchaus ein „missionarisches“ Moment formulieren, nämlich die Einladung zum Beitritt zur Minderheit (und ihren Spielregeln) als Übertritt aus der restlichen „profillosen Mehrheit“.

Hier gibt es durchaus Parallelen zwischen manchen Migrationskirchen und Teilen der Großkirchen. Christoph Jacobs hat erst kürzlich mit Blick auf jüngere katholische Priester auf ein von ihnen repräsentiertes „Minderheits“-Selbstverständnis hingewiesen, welches aus dem Minderheitsstatus ein ästhetisches und programmatisches Projekt der eigenen Identitätsabsicherung macht. (vgl. Jacobs 2010, 313-322) Bei manchen Migrationsgemeinden lassen sich angesichts ihrer vieldimensionalen und oft schmerzhaften Minderheitsrealität vergleichbare Abgrenzungsreaktionen finden. Beide Gruppen dürften mit Leichtigkeit theologische oder biblische „Narrative“ in ihr Minderheitskonzept einbauen können („Heiliger Rest“, „Erwähltes Volk“…).

Als Alternative zu einem Minderheitskonzept der Abgrenzung und Aussonderung bietet sich auf der anderen Seite ein Minderheitskonzept an, das sich ökumenisch-dialogisch versteht. Eine solche Minderheit wäre keineswegs „profillos“, sie würde sich aber auch nicht zur Gefangenen ihres eigenen Minderheitsprofils machen lassen. Vielmehr würde sie sich aus einer kontextbewussten Selbstwahrnehmung heraus auf Prozesse ökumenischen Lernens (Ernst Lange) einlassen können. Ohne damit zu rechnen, irgendwann einmal Mehrheit oder gar „Alle“ zu sein, wäre ein Selbstverständnis als Minderheit denkbar, das sich aus der universalen Perspektive des Evangeliums nicht heraus stiehlt, das sich aber auch der eigenen Begrenztheit und kontextuellen Perspektivenbeschränkung bewusst bleibt und von daher in der Pflicht sieht, sich mit den Anderen ökumenisch lernend in Beziehung zu setzen. Minderheitskirchen in Mitteleuropa – solche mit ehemaliger Mainstream-Identität und solche mit den Kennzeichen einer migrantischen Identität – würden so entdecken und bezeugen können, was das Evangelium angesichts einer globalisierten Welt zu sagen hat.

Religion und Bildung in Kirche und Gesellschaft

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