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Das Nein der Empörung und sein Geheimnis

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Sein Buch „Menschen. Die Geschichte von Gott“ (deutsch 1990, Titel der Originalausgabe 1989: „Mensen als verhaal van God“) beginnt Edward Schillebeeckx mit einem Abschnitt, den er überschreibt: „Radikale Kontrasterfahrungen in unserer menschlichen Geschichte“.

„Sie bilden eine menschliche Grunderfahrung, die ich als solche für ein vor-religiöses und somit allen Menschen zugängliches Grunderlebnis halte, nämlich das Veto, das der Mensch gegen die Welt, wie diese ist, erfährt. […] Was wir als Wirklichkeit erfahren, was wir auch täglich von dieser Wirklichkeit zu sehen und zu hören bekommen, ist offensichtlich nicht ‚in Ordnung’; es ist etwas grundlegend falsch. Diese Wirklichkeit steckt voller Widersprüche. Deshalb ist die menschliche Erfahrung von Leiden und Übel, von Unterdrückung und Unglück Basis und Ursprung eines grundlegenden Neins, das Menschen über die Tatsache ihres In-der-Welt-Seins aussprechen. Diese Erfahrung ist auch gewisser, evidenter als alles, was Philosophie und Wissenschaften uns an verifizierbarem oder falsifizierbarem ‚Wissen’ darbieten können. Empörung (nicht einmal ein wissenschaftlicher Terminus) scheint eine Grunderfahrung unseres Lebens in der Welt zu sein.“ (Schillebeeckx 1990, 27)

Das grundlegende Nein, das die Begegnung mit Leiden und Unglück, mit Elend und Gewalt und den unsäglichen Verletzungen, die Menschen einander antun, in denen heraufbeschwört, die sich dieser Begegnung aussetzen, bleibt nicht unwidersprochen. Neben Ereignissen und Taten, die von menschenverachtender Grausamkeit, von Leiden, Machtmissbrauch und Terror sprechen, gibt es Fragmente des Guten, gibt es immer wieder ein Aufleuchten von Schönheit und Sinn. „Es scheint sogar unter Unterdrückten mehr Freude und Gesang zu geben als bei Unterdrückern.“ (Schillebeeckx 1990, 27) Sofern diese Widersprüchlichkeit der Empörung ihr Recht zu nehmen scheint und statt dessen eher Grund gibt zu einer zynischen oder auch nur ratlosen Relativierung und Gleichgültigkeit gegenüber Dunkelheit und Licht im menschlichen Leben, wird sie selber zum Gegenstand jenes grundlegenden Nein der Empörung: „Trotz all seines Elends ist der Mensch zu stolz, um das Böse als gleichberechtigt mit dem Guten anzusehen“ (Schillebeeckx 1990, 28).

Dennoch kann dieses rätselhafte Miteinander von Licht und Dunkelheit, von Demütigung und Größe, Zerstörung und Hingabe, Entstellung und Schönheit, von Hass und Vergebung dem Nein der Empörung seine Kraft nehmen, und zwar besonders deshalb, weil es immer wieder unmöglich ist, klare Unterscheidungen vorzunehmen, die aus dem Bösen das Gute herauswaschen würden wie Goldstaub aus dem Sand. Denn beides wurzelt offensichtlich in denselben Menschen. Angesichts der Unauflöslichkeit der Widersprüche ist die Versuchung allgegenwärtig, jegliche Betroffenheit aufzugeben, vor dem Bösen nicht mehr zu erschrecken und auch angesichts des Guten nicht mehr zu staunen und das, was nach seiner fördernden oder zerstörerischen auf das Leben „wirklich“ gut und „wirklich“ böse ist, zu verharmlosen und zu banalisieren. Hinzu kommt schließlich, dass wir nicht wissen, was den Sieg davon tragen wird. Warum sollen wir uns engagieren in einem Nein, wenn wir damit am Ende nur ganz furchtbar unterlegen sein werden? „Aus der Geschichte wissen wir nicht einmal, was in diesem Gemisch die Oberhand gewinnen wird, nicht einmal, ob, von diesem tatsächlichen Geschehen aus gesehen, ein letztes Wort zu hören sein wird.“ (Schillebeeckx 1990, 28)

Nimmt man dieses Nichtwissen, nimmt man die Versuchung zur Relativierung des Bösen und zu seiner Banalisierung, nimmt man auch nur die Ratlosigkeit angesichts des Rätsels, das der Mensch selber aufgibt, so ist klar, dass das Nein der Empörung, so spontan es sich angesichts all dessen einstellt, was Menschen und ihr Leben zerstört, eine eigene Anstrengung braucht, um sich nicht unterdrücken zu lassen. Diese Anstrengung hat einen Namen. Ethik steckt darin, aber auch von Religion kann hier gesprochen werden.

„Darin steckt Ethik, und vielleicht sogar mehr. […] Diese Weigerung des Menschen, sich mit einer solchen Situation abzufinden, bietet eine erhellende Perspektive. Sie enthüllt eine Offenheit auf eine andere Situation hin, die durchaus Anspruch auf unser Ja hat. Man kann es als einen Konsens mit ‚dem Unbekannten’ bezeichnen, dem inhaltlich nicht einmal positiv Bestimmbaren: einer besseren, einer anderen Welt, die in Wirklichkeit noch nirgends gegeben ist. Oder noch anders: mit der bloßen Feststellung der Möglichkeit, unsere Welt besser zu machen; Offenheit auf das Unbekannte und auf das Bessere hin. […]

Das grundlegende Veto des Menschen gegen das Böse erschließt deshalb ein inhaltlich nicht bestimmtes und somit ‚offenes Ja’, das genauso unumstößlich ist wie das menschliche Nein; eigentlich sogar noch stärker, weil gerade das offene Ja diesen Widerstand begründet und ermöglicht. Außerdem gibt es, gelegentlich, fragmentarische, aber wirkliche Erfahrungen von Sinn und Glück kleinen und größeren Ausmaßes, die das ‚offene Ja’ immer wieder neu nähren, bestärken und aufrechterhalten. In dieser Erfahrung finden Gläubige und Agnostiker einander. […]

Menschen, die an Gott glauben, geben dieser einen, zweiseitigen Grunderfahrung einen religiösen Inhalt. Das ‚offene Ja’ erhält dann mehr Zielrichtung und Relief. Sein Ursprung ist nicht so sehr, oder zumindest nicht direkt, die Transzendenz ‚des Göttlichen’ – die unaussprechlich und anonym ist, sich nicht in Worte fassen lässt – als vielmehr – wenigstens für Christen – das erkennbare menschliche Antlitz dieser Transzendenz, wie es unter uns im Menschen Jesus erschienen ist, den wir als Christus und Sohn Gottes bekennen. So geht für Christen das grundlegende Murren der Menschheit in eine begründete Hoffnung über. Etwas von einem Seufzer der Barmherzigkeit, des Erbarmens, steckt in den tiefsten Tiefen der Wirklichkeit, gläubige Menschen vernehmen darin den Namen Gott.“ (Schillebeeckx 1990, 28f)

Das Nein der Empörung geht also notwendigerweise zusammen mit einem Ja zur Möglichkeit einer anderen, einer besseren Welt; und es ist nicht ausgeschlossen, das Entstehen von Religion mit dieser „zweiseitigen Grunderfahrung“ zusammen zu bringen. In der „Leidenschaft für das ‚Heil-sein’ von Natur und Weltgeschichte, von Gesellschaft und Menschen untereinander“ erkennt Schillebeeckx „ein Geheimnis, das viele Menschen – unter welchem Namen auch immer – Gott nennen“ (Schillebeeckx 1990, 19).

Religion und Bildung in Kirche und Gesellschaft

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