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Karten als Memorierschemata
ОглавлениеDidaktischer Ansatz
Orosius stellte seiner christlichen Weltgeschichte »Adversus paganos historiarum libri« eine Beschreibung der drei Erdteile, ihrer Regionen und Provinzen voran. Er begründet sein Vorgehen damit, den Leser darin unterstützen zu wollen, zeitliche Abläufe etwa von Kriegen mit den konkreten Örtlichkeiten der Siege und Niederlagen zu verbinden. Das Ziel seiner geographischen Erklärungen war es, zeitliche Vorgänge räumlich zu verorten, um die Geschichte von der Erschaffung der Welt bis zur eigenen Zeit besser zu verstehen. Ein vergleichbarer didaktischer Ansatz liegt vielen mittelalterlichen Karten zugrunde. Insbesondere die schematischen Zonen- und TO-Karten wurden als Merkdiagramme und Lernschemata eingesetzt. Ihre abstrakte, auf wenige Inhalte reduzierte Form veranschaulichte die im Text gegebenen Informationen. Macrobius brachte diese Funktion in seinem »Kommentar zum Traum des Scipio« explizit zum Ausdruck, wenn zu lesen ist, dass manches Argument leichter anhand einer Zeichnung als über Sprache zu erfassen sei. Er spielte damit auf die unterschiedlichen Formen der Wissensvermittlung in Text und Bild an. Während ein Text überwiegend linear gelesen werden muss und die Informationen aufeinander aufbauen, ist graphisch präsentiertes Wissen mit einem Blick erfahrbar. Eine Anordnung in Diagrammform verknüpft und systematisiert verschiedene Wissensbestände und erzeugt Assoziationen, die weit über den Text hinausreichen.
Systematische Aufbereitung
Gerade Zonenkarten ergänzen – wie in den zahlreichen Macrobius-Abschriften – diffizile, für den Unterrichtsbetrieb konzipierte Texte der monastischen und universitären Ausbildung. Der in Chartres wirkende Gelehrte Wilhelm von Conches (um 1080–1154) griff in seiner »Philosophia« und im späteren »Dragmaticon philosophiae«, das sich an Gottfried Plantagenêt und dessen Söhne richtete, auf Diagramme zurück, um seine Schüler zur „wahren“ Erkenntnis über die sichtbaren und unsichtbaren Dinge der Welt zu führen. Noch wirkmächtiger war der um 1230 verfasste Traktat »De spera« des Johannes de Sacrobosco (um 1195–1256). Der Pariser Universitätslehrer stellte in vier kurzgefassten Kapiteln eine grundlegende astronomische Einführung bereit, die schnell als ein Standardwerk firmierte, das bis ins 17. Jahrhundert genutzt und neu aufgelegt wurde. Zahlreiche Diagramme, darunter eine Zonenkarte, halfen, den Lernstoff systematisch aufzubereiten.
Lamberts Europa
Wie eng der Zusammenhang zwischen Merkschema und Karte mitunter sein konnte, zeigt die Europadarstellung Lamberts de Saint-Omer im Genter Autograph (s. Abb. S. 217). Als Teil des »Liber Floridus«, einer um 1112/1115 entstandenen Weltchronik mit Exkursen in die Astronomie, Naturkunde und Geographie, präsentiert sie Europa gleichsam als einen Ausschnitt der Oikumene, die wenige Seiten zuvor im einfachen TO-Schema und in der Wolfenbütteler Abschrift als hemisphärische Weltkarte mit Anoikumene ins Bild gesetzt ist. Gleichmäßig verteilt sind 120 Stadtsymbole über ein Netz von Regionen und Verwaltungsdistrikten, in denen rote Umrandungen das Weströmische und das Fränkische Reich abgrenzen. Die hochgradig stilisierte Abbildung erweckt den Eindruck einer nach oben gereckten rechten Hand, bei der Spanien das Handgelenk, das Frankenreich die Handfläche und Italien den Daumen bilden. Vier Landzungen symbolisieren wie Finger die östlichen Gebiete von Skandinavien bis zur Balkanhalbinsel. Damit war es leicht, den einzelnen Gliedern Völker- und Städtenamen zuzuordnen. Ähnlich wie die weit verbreiteten mnemonischen Schreibhände ist Lamberts Europa eine graphisch aufbereitete Merkfigur, eine visuelle Gedächtnisstütze.
Solche Schemata machten Textinhalte schnell zugänglich. Eine wiederholte Betrachtung führte zur Verfestigung des vermittelten Stoffs. Dabei zeigt die Überlieferung etwa der vielfach abgeschriebenen Werke eines Wilhelm von Conches oder Johannes de Sacrobosco, dass Diagramme und Karten nicht nur der Veranschaulichung konkreter Textvorgaben, sondern auch der Vermittlung von Informationen über den Text hinaus dienten. Deshalb stehen nicht alle graphischen Elemente – wie etwa die Küstenlinien der Oikumene in manchen Zonenkarten – in Beziehung zum Begleittext. Zusätze und Modifikationen konnten dem Betrachter Weltwissen über die Lektüre hinaus anbieten und Karten zum eigenständigen Medium erheben.