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Religiöse Symbolik und Kontemplation

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Die Verknüpfung von Weltvermessung mit Weltanschauung, geographischem Wissen mit Heilsgeschichte deutet bereits an, wie unterschiedlich vormoderne Karten zu lesen waren. Sie eigneten sich, um Wissen im Gedächtnis zu verankern, kontemplativ zu verarbeiten und assoziativ zu ergänzen. In der lateinischen Christenheit griffen die Kartographen das religiöse Deutungspotential auf, um – wie in einigen Beatus-Karten – die Verbreitung des Glaubens zu verkünden oder etwa anhand der Jerusalemzentrierung zur Kontemplation anzuregen. Die islamische Kartographie nutzte dieses Potential weniger, auch wenn die Berechnung der Gebetsrichtung nach Mekka die Weltsicht bestimmte.

Beatus-Apokalypsen

Der Apokalypsenkommentar, den Beatus von Liébana zwischen 776 und 786 im asturischen Kloster St. Martin verfasste, enthält in 14 der insgesamt 34 bekannten Abschriften eine Weltkarte, die zumeist dem Prolog des zweitens Buches nachgestellt ist. Dort diskutiert Beatus die sieben Sendschreiben und die Aussendung der Apostel nach dem Pfingstereignis. Die recht verschiedenen Weltkarten, die allesamt auf das 10. bis 13. Jahrhundert datiert werden, füllen in der Regel eine Doppelseite. Nach Osten ausgerichtet, zeigen sie am oberen Kartenrand das ummauerte Paradies, das Sinnbild der beginnenden Schöpfungsgeschichte. In einigen Versionen entspringen dort die vier Paradiesflüsse, in anderen ist der Sündenfall festgehalten: Adam und Eva, die ihre Nacktheit zu verbergen suchen, stehen neben dem Baum der Erkenntnis, in welchem sich die Schlange windet. Die vom Ozean umgebene Oikumene ist gemäß dem TO-Schema in drei mit Bergketten, Flüssen, Stadtsymbolen und Ortsnamen ausgestaltete Kontinente geteilt; ein vierter Erdteil, ein wüstes Land großer Hitze, schließt sich wie eine südliche Hemisphäre an.

Diskussion um Antipoden

Die Verbreitung des Christentums über die Oikumene ist nur in einigen dieser Karten klar zu erkennen, am deutlichsten in der 1086 im Cluniazenserkloster Sahagún gefertigten Osma-Beatus-Karte (s. Abb. S. 11). Denn dort sind die von einem Heiligenschein umrahmten Häupter der zwölf Apostel systematisch über die bewohnte Erde verteilt: Europa nimmt mit den sechs Aposteln Petrus und Paulus in Rom, Philippus in Gallien, Jakobus dem Älteren in Spanien, Andreas und Matthäus in Achaia und Makedonien in Südosteuropa eine Vorrangstellung ein. In Asien und Afrika missionieren Bartholomäus im kleinasiatischen Lykaonien, Johannes im mesopotamischen Assyrien, Thomas der Märtyrer in Indien, Jakobus der Jüngere in Jerusalem, Simon Zelotes in Ägypten und Matthias (der Judas Thaddäus ersetzte) in Judäa diesseits des Jordan. Die Osma-Karte zeigt zugleich die Schwierigkeit, überkommene geographische Vorstellungen mit der christlichen Heilsgeschichte zu vereinbaren. Im vierten Kontinent sucht ein Skiapode, ein Schattenfüßler, mit seinem übergroßen Fuß die Hitze der rot glühenden Sonne abzuwehren. Das Fabelwesen deutet die strittige Diskussion um die Existenz von Antipoden an. Antiken Lehren zufolge stellte die Oikumene nur einen kleinen Teil der gesamten Landmasse der Welt dar. Dass Lebewesen jenseits des heißen, undurchdringlichen Äquatorialgürtels existierten, wurde zwar nicht ausgeschlossen, aber christlichen Gelehrten stellten sich zwei Fragen, nämlich inwiefern die Gegenfüßler Nachkommen Noahs sein konnten und wie das Wort Christi zu den Antipoden gelangte. Angesichts dieser Einwände betrachtete Augustinus (354–430) die Existenz der Antipoden höchst skeptisch, während Isidor von Sevilla in den Etymologien eine ambivalente Haltung einnahm und die Besiedelung des vierten Erdteils einerseits für möglich hielt, andererseits wieder verwarf. Der Widerspruch zwischen antikem und christlichem Weltbild, naturwissenschaftlicher und biblischer Auslegung stellte die Kartographen vor Herausforderungen. So hebt die Osma-Legende zwar die außergewöhnliche Schnelligkeit des Schattenfüßlers hervor, verweigert ihm aber den Status des Menschseins.

Jerusalem und der Mittelpunkt der Oikumene

Weniger zweideutig, wenngleich nicht weniger komplex war die Diskussion um den Mittelpunkt der Oikumene. Das Alte Testament bot mit Ezechiel 5,5 („So ergeht es Jerusalem. In die Mitte der Völker setze ich es, und rings in seinen Umkreis die Länder“) eine Referenzstelle, die den Kirchenvater Hieronymus dazu anregte, in seiner Exegese Jerusalem als Nabel der Welt zu bezeichnen. Christliche Pilger schrieben diese Vorstellung fort. Der schottische Abt Adamnanus, der gegen Ende des 7. Jahrhunderts einen Traktat über die heiligen Stätten Palästinas verfasste, identifizierte sogar das Beweismittel für die Annahme, dass die Heilige Stadt im Zentrum der Welt läge, nämlich eine römische Säule nahe dem heutigen Damaskustor, die am Tag der Sommersonnenwende keinen Schatten werfe. In den frühen christlichen Karten schlug sich diese Auffassung zunächst nicht nieder, auch wenn dort oft überdimensionierte Architektursymbole den Ort der Passion und Auferstehung Christi auszeichnen. So ist Jerusalem auf der um 775 entstandenen Vatikanischen Isidor-Karte mittels eines sternförmigen, doppelten Mauerrings, in vielen Beatus-Karten mittels aufwendiger Stadtvignetten akzentuiert. Die geographische Mitte der Oikumene liegt aber in der Regel im östlichen Mittelmeer mit seiner griechischen Inselwelt. Noch die um 1200 datierte Sawley-Karte ist auf das innerhalb eines Kreises aus zwölf Kykladeninseln gelegene antike Heiligtum Delos zentriert, während das Heilige Land nach Osten in den asiatischen Kontinent verschoben ist. Eine nachhaltige Wende in der kartographischen Darstellung ist wohl erst mit den Kreuzzügen des ausgehenden 11. bis 13. Jahrhunderts zu verzeichnen. Durch das Bestreben, das von Muslimen besetzte Heilige Land zurückzuerobern, erlangte der Gedanke der Jerusalemzentrierung neuen Auftrieb. Schon Papst Urban II. griff in seiner Kreuzzugsrede in Clermont 1095 die Nabel-Metapher des Hieronymus auf. In der ein gutes Jahrzehnt später entworfenen Oxford-Karte (um 1110) rückt das 1099 eroberte Jerusalem erstmals ganz in das Zentrum der geosteten Welt. Der Name „Hierusalem“ ist in Großbuchstaben in den Balken des T eingeschrieben. Der Schriftzug dominiert die gesamte biblische Geographie. Aber erst der Verlust der im Jahr 1187 von Saladin besetzten und 1244 endgültig an die Muslime gefallenen Stadt bewirkte, dass sie vielfach in die Bildmitte gesetzt wurde und sich reale Stadt und himmlisches Jerusalem vereinten. In der Folge beherrschte die spirituelle Hoffnung auf Erlösung die großformatigen Weltkarten von Hereford und Ebstorf ebenso wie deren kleinformatigen Vorläufer, die Londoner Psalterkarte (s. Abb. S. 403).

Visualisierung von örtlichen Gegebenheiten

Das schematische Idealbild von Jerusalem in Form eines Kreises oder Quadrats prägt zudem die in Kreuzfahrerschriften und astronomisch-geographischen Kompilationen überlieferten Situs-Karten. 14 Radpläne und zwei Vierecke des 12. bis 15. Jahrhunderts dieses Typs sind bislang bekannt. Sie verzeichnen die wichtigsten heiligen Stätten des Neuen Testaments innerhalb und außerhalb der Stadtmauern, darunter Felsendom und Grabeskirche mit dem Felsen Golgatha, außerhalb etwa den Ölberg, das Tal Josaphat und Bethanien. Die Visualisierung der örtlichen Gegebenheiten basierte auf dem Wissen von Kreuz- und Wallfahrern, die aus religiösen wie weltlichen Motiven in das Heilige Land gepilgert waren. Die Ansichten auf Situs-Plänen und Weltkarten vermittelten dem Betrachter nicht nur eine Vorstellung von der Gestalt Jerusalems und dem Weg dorthin, sondern gaben ihm auch die Gelegenheit, sich die Passionsgeschichte zu vergegenwärtigen und kontemplativ den Spuren Christi zu folgen.

Eine vergleichbar starke Ausprägung religiöser Symbolik ist in arabisch-islamischen Weltkarten nicht zu greifen. In der Tradition des Bagdader Gelehrten al-Balchi (al-Balkhī, gest. 934 n. Chr.) entstanden stark schematisierte Raumvisionen, in denen heilige Orte nicht hervorgehoben sind, aber exaktere Regionalkarten die allgemeine Weltsicht ergänzen. Al-Balchis Werk, anscheinend ein kurzer Kommentar zu einem Kartenatlas, hat sich nur in Kopien und Weiterführungen seiner Schüler erhalten. Die von etwa 20 regionalen Ausschnitten begleitete Weltkarte ist in ein Konvolut von geographischen Traktaten über die islamisch beherrschten Provinzen und angrenzende Länder eingebunden. Im Gegensatz zu den christlichen weisen die abstrakten Weltkarten der Balchi-Schule eine Orientierung nach Süden auf; bis auf Bergketten, Inseln und Flusslinien sind praktisch keine graphischen Zeichen vorhanden. Kennzeichen sind standardisierte Farben und geometrische Formen. Kreise bezeichnen die Binnenmeere wie Kaspisches Meer und Aralsee ebenso wie die Inseln im kegelförmigen Mittelmeer oder im Indischen Ozean. Erkennen lassen sich die administrativen Grenzen der im Text erläuterten Provinzen; die Toponyme oder Punkte der Städte sind vereinzelt durch Handelsstraßen miteinander verbunden. Zwar dominiert die Arabische Halbinsel mit den heiligen Stätten mehr oder weniger das Bildzentrum, während Europa als kleiner Anhang Asiens erscheint, aber Mekka und Medina unterscheiden sich nicht von den übrigen Städten. Ihre maßgebliche Bedeutung für die Geschichte des Islam geht aus den Balchi-Karten nicht hervor. Dies schließt nicht aus, dass die Karten in einem religiösen Kontext entstanden und benutzt wurden; sie repräsentieren jedoch selbst keine religiöse Weltsicht.


Weltkarte aus der Balchi-Schule, aus einer persischen Übersetzung des »Kitab al-Masalik wa-al-mamalik« (»Buch der Wege und Provinzen«) von al-Istachri († um 951).

Qibla-Karten

In anderen Karten und Diagrammen spiegelt sich immerhin die im Koran festgehaltene, für alle Muslime verbindliche Vorschrift wider, sich während des Gebetes zur Kaaba nach Mekka zu wenden (Sure 2,144). Astronomisch-mathematische Kalkulationen mittels Astrolabium halfen, den Längen- und Breitengrad islamischer Siedlungen zu bestimmen und für die Ausrichtung der Gebetsnische (mihrāb) nach Mekka zu nutzen. Das Verfahren hatte Auswirkungen auf die Varianten der nach der Gebetsrichtung benannten Qibla-Karten: Weit verbreitet war der um eine quadratische Kaaba gezogene Kreis mit vier Himmelsrichtungen. Er wurde in wenigstens vier, gelegentlich in bis zu 72 Sektoren unterteilt, in die man Städte und Regionen einschrieb. So war mittels der Himmelsrichtung grob die Richtung nach Mekka abzulesen. Darüber hinaus sind Diagramme überliefert, die die Azimutlinie nach Mekka für ausgewählte Orte vergleichend festhalten. Eine Zeichnung aus der Abhandlung des ägyptischen Gelehrten al-Dimyati (s. Abb. S. 123) illustriert etwa den abweichenden Winkel, in dem ein Ort zu Mekka steht, für Kairo, Jerusalem, Damaskus und Aleppo. Auch Versinnbildlichungen der Kaaba, zuweilen mit zusätzlichen Details wie dem Schwarzen Stein, verweisen auf das religiöse Weltenzentrum und können mit einer kontemplativen Betrachtung einhergehen. Trotzdem lässt sich eine den christlich-lateinischen Karten vergleichbare Verschränkung von religiöser Weltdeutung und geographischer Visualisierung in arabisch-islamischen Kulturen nicht erkennen.

wbg Weltgeschichte Bd. III

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