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3.2.Sozialräumliche Erzählung zum BTHG am Beispiel Ludwig-Steil-Hof

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Der Ludwig-Steil-Hof ist ein Komplexträger mit ca. 600 Mitarbeitenden, der im Bereich der Jugendhilfe, der Psychosozialen Rehabilitation, Schulen, Berufliche Bildung und Altenhilfe tätig ist. Im Bereich der Psychosozialen Rehabilitation, auf den sich dieses Beispiel bezieht, arbeiten ca. 90 Mitarbeitende verschiedener Professionen, die 92 Personen in „besonderen Wohnformen“10 (inklusive Tagesstrukturangebot) und 60 Personen ambulant unterstützen. Dieser Bereich wird von der Autorin des vorliegenden Textes geleitet.

Auf der organisational-systemischen Ebene war und ist natürlich auch der Ludwig-Steil-Hof gezwungen, die mit dem BTHG einhergehende veränderte Gesetzeslage auf die eigenen Strukturen anzupassen. Doch statt eine Stabsabteilung damit zu beauftragen, sich möglichst viel Expertise „drauf zu schaffen“, um dieses Wissen dann im Widerspruch zum dritten Prinzip der Sozialraumorientierung bedarfsgerecht auf unterschiedliche Personenkreise wie Mitarbeitende, Klient/innen, Angehörige und rechtliche Betreuer/innen zu verteilen, wurde und wird im Ludwig-Steil-Hof ein anderer Weg gegangen: nämlich der Weg des Narratives der sozialräumlichen Erzählung, wie er zum Anfang dieses Beitrags beschrieben wurde und der nun, wie oben angekündigt, am Beispiel geschärft wird.

Die Geschichte beginnt mit einem abstrakten Schock. Dieser trat ein, als die Autorin dieses Kapitels zum ersten Mal darauf hinwies, dass das BTHG kommen und im Grunde alles Bisherige verändern, zumindest jedoch in Frage stellen werde. Abstrakt war dieser Schock, weil zu diesem Zeitpunkt noch niemand wirklich wusste, was das genau bedeuten würde. Der Schock wurde nicht kleiner, als (zunächst) den Mitarbeitenden klar wurde, worin die Veränderungen im Einzelnen bestehen (z. B. das Ende der „Vollpension“ mit Essensanlieferungen aus der Großküche und für die Klient/innen zubereitete Brotplatten zum Frühstück und Abendbrot – hin zu gemeinschaftlichem Kochen in den Wohngruppen). Und dies, so mussten die Klient/innen und die Mitarbeitenden lernen, auf der Basis von ca. 133 € im Monat, die im Rahmen der getrennten Leistungen, nach Abzug von Strom, Kleidung, Teilhabe, Bildung (ca. 91 Cent/Monat) etc. ab dem 01.01.2020 auf der Basis der Grundsicherung (Regelbedarfsgruppe 2, derzeit 382 €/Monat) jeder und jedem zur Verfügung stehen.11 In diesem Zusammenhang kamen immer mehr Fragen auf, die es zu klären galt. Wir konzentrieren uns hier auf die Relevanz für die sozialräumliche Erzählung. Diese bestand zunächst darin, dass Klient/innen und Mitarbeitende in unterschiedlichen Konstellationen gemeinsame Teams bildeten, um sich zum einen die Inhalte des Gesetzestextes zu erarbeiten und zum anderen Konsequenzen daraus zu ziehen. Da nun in der Zusammenarbeit keine Trennung mehr zwischen Mitarbeitenden und Klient/innen bestand, wurden auch die Prinzipien der Sozialraumorientierung für alle gleichermaßen bedeutsam. Im Sinn des ersten Prinzips wurde unter Berücksichtigung einer ausgewogenen Arbeitsverteilung zwischen Klient/innen und Mitarbeitenden eine Klärung der gegenseitigen Erwartungen12 herbeigeführt. Genau genommen haben sich beide Parteien gegenseitig aktiviert.

Diese Aktivität wirkte und wirkt sich in der Erzählung auf die drei folgenden Prinzipien dahingehend aus, dass die „gemischten“ Teams in der Folge Veranstaltungen durchgeführt haben, in den Klient/innen rechtlichen Betreuer/innen und ihren Angehörigen „beigebracht“ haben, welche Auswirkungen das BTHG auf diese und sich selbst haben. Die Tatsache, dass sich die Klient/innen dies getraut haben, löste ein gesteigertes Selbstbewusstsein aus. Zudem haben Mitarbeitende, rechtliche Betreuer/innen und Angehörige die Klient/innen auf eine Weise kennen gelernt, die dafür sorgte, dass Beziehungen neu gestaltet und intensiviert wurden und werden.

Neben der Tatsache, dass sich Beziehungen und dadurch sozialräumliche Bezüge der Klient/innen durch die konsequente Anwendung der Prinzipien verändert haben, sind diese zum Teil inzwischen an einer Fachhochschule als Lehrbeauftragte für das Thema BTHG tätig. Studierende lernen von denen, die sie unterstützen sollen, somit unmittelbar, dass sie nicht lediglich nicht härter arbeiten sollen als die Klient/innen, sondern zugleich, dass dies gar nicht nötig ist.

Dies zeigt exemplarisch, wie die Umsetzung des zweiten Prinzips der Sozialraumorientierung möglich ist. Doch ein spürbarer Erfolg kann für alle Beteiligten nur dann entstehen, wenn dauerhaft und somit nachhaltig die Prinzipien auch in der Lehre so vermittelt werden, dass sie in der sogenannten Praxis ankommen. Das Projekt, dass Klient/innen Lehre übernehmen, ist dafür eine geeignete Möglichkeit. Um das zu verdeutlichen, wird hier abschließend von diesem Ereignis sozusagen aus dem Nähkästchen berichtet.

Zunächst gilt es festzustellen, dass der Übernahme der Lehre eine ganze Reihe von Prozessen im Ludwig-Steil-Hof vorausgegangen war. Über Tandems von Mitarbeitenden und Klient/innen wurden einzelne Themen erarbeitet, in verschiedenen Kleingruppen wurden Vorträge vorbereitet, bis zu Generalproben geübt usw. Die Veranstaltungen mit den rechtlichen Betreuer/innen und den Angehörigen fanden in vertrauten Umgebungen statt. Erst mit diesen Erfahrungen war es möglich, eine Veranstaltung in der Fachhochschule durchzuführen.

Die Veranstaltung, an der Studierende aus Bachelor- und Masterstudiengängen sowie Praktiker/innen aus einer anderen Einrichtung teilnahmen, war in zwei Teile gegliedert. Am Vormittag gab es eine allgemeine Einführung in das Thema BTHG, am Nachmittag kamen dann Klient/innen und Mitarbeitende des Ludwig-Steil-Hofs, um ihre Perspektiven vorzustellen. An dieser Stelle mag man den Mut der Klient/innen bewundern, sich dieser Situation zu stellen, doch noch mehr Bewunderung verdient, wie es gelang, Inhalte zu vermitteln. Ein Klient fasste die Auswirkungen des BTHG so zusammen: „Das bedeutet, dass uns der Arsch nicht mehr hinterhergetragen wird.“ Besser kann aktivierende Arbeit nicht auf den Punkt gebracht werden. Andere wiesen darauf hin, dass im Sozialhilfebetrag kein Geld für Tabak eingepreist ist. Und auf die Nachfrage, an welcher Stelle denn dann Einsparungen gemacht würden, um den Tabak finanzieren zu können, wurden durchweg Aspekte genannt, die in der Sozialhilfeberechnung für Teilhabe an der Gesellschaft vorgesehen sind. Handfester können Erkenntnisse hinsichtlich der Differenz zwischen Theorie und Praxis nicht sein. Als Dozierende konnten wir dabei zusehen, wie bei allen Beteiligten die unterschiedlichen Perspektiven Lernerfolge evozierten. Der immerwährende Ruf nach Partizipation löste sich sukzessive zugunsten eines Verständnisses von Zusammenarbeit („Arbeite nicht härter als der/die Klient/innen“ und auch „Arbeite nicht weniger als die Fachkraft“) auf.

Die Veranstaltung endete mit der Bitte einer Studierenden, sich in einem halben Jahr wieder zu begegnen, um von den weiteren Erfahrungen des beschrittenen Weges zu erfahren. So wurde es dann auch verabredet.

Als Vertreter der Hochschule war es dem Autor des Artikels wichtig, den Lehrauftrag zu honorieren. Dies geschah in Form eines Gutscheins für einen Cafébesuch, der einer Klientin stellvertretend überreicht wurde und der im Anschluss an die Veranstaltung direkt eingelöst wurde. Zwei weitere Stunden saßen wir nun (im kleineren Kreis) im Café zusammen – miteinander und durcheinander, es gab viel zu erzählen. Und da vom Gutschein ein stattlicher Betrag übrig blieb, verständigte man sich kurzerhand auf ein weiteres Treffen. Sozialräumlich kann also berichtet werden, dass sich dieser für alle Beteiligten an diesem Tag deutlich erweitert hat. Und um im zweiten Prinzip zu bleiben: Genau das ist der Unterschied zwischen „aktivierender Arbeit“ und „betreuender Tätigkeit“.

Sozialraumorientierung 4.0

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