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2 Störungen des Wortschatzerwerbs

2.1 Begriffsbestimmung

(semantisch­) lexikalische Störungen In der deutschsprachigen Fachliteratur werden unterschiedliche Begrifflichkeiten verwendet, um auf Störungen des Wortschatzerwerbs zu referieren. Die Bezeichnung „semantisch-lexikalische Störung“ wird von Glück / Elsing (2014a, 73) verwendet als

„umfassender Begriff […] für erhebliche, nicht altersgemäße, häufige und anhaltende Schwierigkeiten, die eigenen Äußerungsintentionen in angemessenen lexikalisch besetzten Äußerungen auszudrücken bzw. Äußerungen anderer lexikalisch zu interpretieren […]“.

Während unter „Semantische Störungen“ auch Einschränkungen im Satz- und Textverstehen fallen (sententiale semantische Störung, Crystal 1981), soll der Fokus dieses Beitrags auf den Einschränkungen auf Einzelwortebene liegen. Entsprechend des in der englischen Fachliteratur meist verwendeten Begriffs des „lexical deficit“ wird daher die Bezeichnung „lexikalische Störung“ verwendet (Ulrich 2012; Motsch et al. 2016). Lexikalische Störungen werden als Sammelbegriff für verschiedene Formen von Wortschatzstörungen verstanden:


„Lexikalische Störungen sind Störungen im Lexikoninventar (Wortschatz und Komposition des Wortschatzes), Störungen im semantischen Lexikon (Bedeutungsaufbau und Bedeutungsbeziehungen) und im Wortformlexikon (phonologische Repräsentation) sowie lexikalische Zugriffsstörungen (Wortfindung, Wortabruf und Worterkennung)“ (Rothweiler 2001, 97).

Wie aus dieser Definition deutlich wird, handelt es sich bei lexikalisch gestörten Kindern um eine heterogene Gruppe. Die unterschiedlichen Erscheinungsbilder werden in Kapitel 2.2.2 genauer in den Blick genommen.

Lexikalische Störungen treten meist in Zusammenhang mit (spezifischen) Sprachentwicklungsstörungen auf (Glück 2001; Glück / Elsing 2014a). Jedoch auch bei Kindern mit kognitiven Einschränkungen, Hörstörungen, frühkindlichem Autismus sowie erworbenen neurologischen Störungen können lexikalische Defizite beobachtet werden (McGregor 2008; Glück / Elsing 2014a; Motsch et al. 2016).

Immer stärker kristallisieren sich die engen Zusammenhänge zwischen lexikalischen Störungen und (späteren) Schriftspracherwerbsstörungen heraus (Beier / Siegmüller 2013; Motsch et al. 2016; Beitrag 5).

Prävalenz Hinsichtlich der Häufigkeit, mit der lexikalische Störungen auftreten, finden sich unterschiedliche Angaben. So ermittelten Dockrell et al. (1998) anhand einer Befragung unter britischen Sprachtherapeuten, dass 23 % der Kinder in sprachtherapeutischer Behandlung Symptome von lexikalischen Störungen zeigten. Glück / Elsing (2014a) interpretieren die Ergebnisse einer Studie von van Weerdenburg et al. (2006) dahingehend, dass 64 % der untersuchten sechs- bis achtjährigen spracherwerbsgestörten Kinder im lexikalischen Bereich auffällig waren. Im förderschulischen Kontext finden sich teilweise noch höhere Prävalenzraten: So schätzten die von Glück (2010) befragten Lehrkräfte an Schulen mit dem Förderschwerpunkt Sprache 60 % ihrer Schülerschaft als lexikalisch auffällig ein, eine Untersuchung an Drittklässlern der Sprachheilschule ermittelte bei 86 % der 212 untersuchten Kinder eine therapierelevante lexikalische Störung (Marks 2017).

Entwicklungsverlauf Typischerweise starten lexikalisch gestörte Kinder bereits verspätet in den Spracherwerb: Die ersten Wörter produzieren sie durchschnittlich erst mit 23 Monaten, also fast ein Jahr später als sprachunauffällige Kinder (Trauner et al. 2000). Im Alter von 24 Monaten erfüllen sie oftmals das diagnostische Kriterium eines „Late Talkers“, d. h. weniger als 50 verschiedene, produktiv verwendete Wörter (Hachul 2015). Für die weitere Prognose eines Late Talkers scheinen die rezeptiven sprachlichen Leistungen eine besondere Rolle zu spielen. So haben Late Talker mit zusätzlichen rezeptiven Einschränkungen ein erhöhtes Risiko, in der Folge eine manifeste Sprachentwicklungsstörung (SES) zu entwickeln, die sicher ab dem Alter von drei Jahren diagnostiziert werden kann (Schlesiger 2009; Hachul 2013, 2015; Sachse 2015). Im Vorschulalter zeigen sich lexikalische Störungen in unterschiedlichen Ausprägungen und Erscheinungsformen (Kap. 2.2.2). Spätestens zu dieser Zeit erfolgt bei den meisten lexikalisch gestörten Kindern eine sprachtherapeutische Diagnostik mit anschließender Therapie. Ab dem Vorschulalter und insbesondere mit dem Eintritt in die Schule werden gehäuft Schwierigkeiten beim Zugriff auf Lexikoneinträge (kindliche Wortfindungsstörungen) beobachtet (Glück 2010). Wortfindungsstörungen ebenso wie sententiale semantische Störungen – also Schwierigkeiten beim Verstehen von Sätzen, Texten und Geschichten – können bis ins Jugendlichen- und Erwachsenenalter persistieren. Sie erschweren den betroffenen Schülern die Aneignung schulischen Wissens, bildungs- und fachsprachlichen Vokabulars und gefährden insgesamt den schulischen Erfolg (White et al. 1990; Stothard et al. 1998; Glück 2001). Darüber hinaus entwickeln viele lexikalisch gestörte Kinder Verhaltensauffälligkeiten sowie psychische Störungen (Dannenbauer 1997; Toppelberg / Shapiro 2000).

2.2 Erscheinungsbild

2.2.1 Mögliche Symptome einer lexikalischen Störung

Im Gegensatz zu Auffälligkeiten der Aussprache oder der Grammatik sind Defizite im Bereich des Wortschatzes für Eltern, Erzieher oder Lehrer oftmals schwieriger zu erkennen. Dennoch weist eine Reihe von Auffälligkeiten in der Spontansprache, beim Benennen von Bildern sowie im Verhalten der Kinder auf mögliche lexikalische Defizite hin.


Eine ausführliche Aufstellung möglicher Symptome findet sich im SemLexKrit von

Glück, C. W. (2011a): Wortschatz- und Wortfindungstest für 6- bis 10-Jährige: WWT 6-10. 2. Aufl. Elsevier, München und bei

Motsch, H.-J., Marks, D.-K., Ulrich, T. (2016): Wortschatzsammler. Evidenzbasierte Strategietherapie lexikalischer Störungen im Kindesalter. Ernst Reinhardt, München / Basel.

unspezifische Wörter So verwenden diese Kinder vielfach allgemeine, unspezifische Wörter wie „Dings, so was, so ein Teil“. Als Verben werden „machen, tun“ in vielfältigen Kontexten als semantisch unspezifizierte Passe-par-tout-Wörter gebraucht. Aus diesem Grund werden sie auch als GAP-Verben (general all purpose) bezeichnet (Conti-Ramsden / Jones 1997). Vielfach helfen lexikalisch gestörte Kinder sich auch mit Umschreibungen, wenn ihnen die Wortform zu einem bestimmten lexikalischen Eintrag nicht zur Verfügung steht.


Umschreibungen: „Ich hab auch mal so was geesst. Das hat hier so Blätter, die sind pieksig und in der Mitte ist das gelb und schmeckt so süß.“ (= Ananas)

Substitutionen Beim Benennen werden statt des korrekten Lexems oftmals semantisch oder phonologisch verwandte Ersetzungen (= Substitutionen) verwendet (McGregor 1997; Lahey / Edwards 1999).


Während bei der semantischen Substitution Ziel- und Ersatzwort semantisch verwandt sind, besteht bei der phonologischen Substitution eine lautliche Ähnlichkeit zwischen Ziel- und Ersatzwort.


Semantische Substitutionen:

■ Schmetterling > Fliege

■ Schmetterling > Tier

Phonologische Substitutionen:

■ Schmetterling > Schmetterlini

■ reparieren > patarieren

nonverbale Kommunikationsmittel Zur Kompensation von lexikalischen Lücken oder Abrufschwierigkeiten weichen einige wortschatzauffällige Kinder stärker auf nonverbale Kommunikationsmittel aus (z. B. Zeigen statt Benennen, vermehrter Einsatz von Mimik und Gestik). In Gesprächen versuchen sie, ihr Nicht-Verstehen durch bestimmte Kommunikationsstrategien zu verdecken (z. B. auf alle Fragen mit „Ja“ antworten, ganzheitliche Antworten nach dem Muster „Was hat dir besonders gut gefallen?“ – „Alles.“, Amorosa / Noterdame 2003).

Ausweichverhalten Einige Kinder versuchen, kommunikativen Anforderungen grundsätzlich aus dem Weg zu gehen, ziehen sich aus Gesprächen zurück oder versuchen, Themenwechsel zu initiieren. Letztere stellen vor allem für Kinder mit Abrufstörungen oftmals eine Möglichkeit dar, auf ein bestimmtes Thema, eine „Insel der Sicherheit“ auszuweichen, wo sie sich lexikalisch sicher fühlen (Glück / Spreer 2015).


Themenwechsel:

■ Therapeutin: „Ein Rhönrad – was ist denn das genau für ein Sportgerät?“

■ Noah: „Irgend so ein Teil. So ein ganz großes, so ein ein für so zu machen so zum Drehen ... ähm ... Soll ich mal was von Star Wars erzählen?“

Veränderungen der Äußerungsstruktur Wie in diesem Beispiel deutlich wird, finden sich in der Spontansprache von Kindern mit lexikalischen Defiziten häufiger Satzabbrüche, -umstellungen oder Wiederholungen. Schwierigkeiten beim Zugriff auf Wörter zeigen sich zudem über häufige Pausen, die oftmals mithilfe von Floskeln oder Füllwörtern (z. B. „ähm, warte mal, also“) überbrückt werden.


Floskeln und Füllwörter: „Das ähm das ist ein warte mal das ist ein also äh so ein zum Plantschen.“ (= Schwimmflügel)

Meta­Kommentare Besonders markante Kennzeichen einer Zugriffs- oder Abrufstörung (Kap. 2.2.2) sind die sogenannten Meta-Kommentare (Glück 2010), mit denen Kinder über ihre eigenen Schwierigkeiten reflektieren.


Meta-Kommentare:

■ „Das müsste ich doch eigentlich wissen, weil ich das schon ganz oft gesehen habe.“

■ „Ach, das wusste ich doch mal.“

■ „Oh Mann, ich habs schon wieder vergessen.“

■ „Immer vergess ich alles.“

2.2.2 Störungsschwerpunkte und Subgruppen lexikalischer Störungen

Während Störungen des Wortschatzerwerbs längere Zeit pauschal als „eingeschränkter Wortschatzumfang“ bezeichnet wurden, gibt es seit einigen Jahren verstärkt Bemühungen, das sehr heterogene Erscheinungsbild lexikalisch gestörter Kinder differenzierter zu beschreiben und verschiedene Störungsschwerpunkte oder Subgruppen zu differenzieren (z. B. Kolfenbach 2002; Rupp 2008, 2013; Siegmüller / Kauschke 2006; Kauschke / Rothweiler 2007; Glück 2011a; Motsch et al. 2016). Die Grundannahme ist, dass die Identifizierung des zugrundeliegenden Störungsschwerpunktes die Ableitung von spezifischen Therapiezielen und -methoden ermöglicht, die wiederum notwendige Grundlage für effektive Interventionsmaßnahmen seien (Rupp 2008, 2013). Auch wenn der empirische Nachweis eines klaren Vorteils von modellorientiertem, störungsspezifischem therapeutischen Vorgehen nach wie vor aussteht (Kap. 4), erscheint es sinnvoll, bei der Beschreibung lexikalisch gestörter Kinder so präzise wie möglich die zugrundeliegende Schwierigkeit zu charakterisieren. Bedauerlicherweise haben sich sämtliche soeben genannte Autoren für unterschiedliche Einteilungen entschieden, was zu einer verwirrenden Vielfalt an Terminologien geführt hat.


Eine ausfiührliche Beschreibung verschiedener Klassifikationen und Einteilungen findet sich bei

Rupp, S. (2013): Semantisch-lexikalische Störungen bei Kindern. Sprachentwicklung: Blickrichtung Wortschatz. Springer, Berlin / Heidelberg.

Im Folgenden werden die auf den modellorientierten Vorschlägen von Rupp (2008, 2013) basierenden Subgruppen nach Motsch et al. (2016) vorgestellt.

quantitative lexikalische Störungen Bei quantitativen Störungen ist die Anzahl der lexikalischen Einträge eingeschränkt: Das Kind hat bisher zu wenige Wörter gelernt, also zu wenige Mappings zwischen Wortform und Referenten hergestellt. Quantitative Störungen stellen also das Störungsbild des „eingeschränkten Wortschatzes“ im eigentlichen Sinne dar. Sie zeigen sich in Schwierigkeiten sowohl beim Benennen als auch beim Verstehen von Wörtern (Kap. 3). Betroffene Kinder verwenden häufig unspezifische Wörter, Umschreibungen oder weichen auf nonverbale Kommunikationsstrategien aus (Rupp 2008, 2013; Ulrich 2012; Motsch et al. 2016).

qualitative lexikalische Störungen Bei qualitativen Störungen ist eine ausreichende Anzahl lexikalischer Einträge vorhanden – jedoch ist die Qualität der Repräsentationen im mentalen Lexikon unzureichend.

qualitative Störung auf Wortbedeutungsebene Dies kann sich zum einen auf die Wortbedeutungen (semantische Repräsentationen, Lemmata) beziehen: Es sind möglicherweise nur unspezifische semantische Merkmale gespeichert, so dass semantisch ähnliche Vertreter häufig mit aktiviert und schlecht vom Zielwort abgegrenzt werden können. Auch fehlende Vernetzungen und Verbindungen zu semantisch ähnlichen bzw. Abgrenzungen zu unterschiedlichen Vertretern führen zu diesem Bild der qualitativen lexikalischen Störung auf Wortbedeutungsebene. Betroffene Kinder verwenden häufig semantisch verwandte Ersetzungen für die Zielwörter oder greifen zu Umschreibungen (Rupp 2008, 2013; Ulrich 2012; Motsch et al. 2016).

qualitative Störung auf Wortformebene Kinder mit qualitativen lexikalischen Störungen auf Wortformebene weisen demgegenüber unzureichend differenzierte phonologische Repräsentationen (oder Wortform- oder Lexem-Repräsentationen) auf. Die phonologischen Wortformen sind unzureichend durchgliedert oder die Kinder haben nur grobe, fragmentarische Informationen über die Klanggestalt der Wörter abgespeichert. Häufige phonologische Substitutionen deuten auf derartige Schwierigkeiten bei der Speicherung und Ausdifferenzierung des Wortformwissens hin. Jedoch ist aufgrund der möglichen Rück-Aktivierungen innerhalb des Netzwerks (Kap. 1) auch denkbar, dass sich defizitäre phonologische Repräsentationen ebenso in semantischen Ersetzungen äußern könnten (McGregor 1997; McGregor et al. 2007).


Interpretation semantischer Substitutionen: „Anne benennt ein Bild von einer Libelle mit ‚Biene’. Die erste mögliche Erklärung dafür wäre, dass es sich um eine semantisch motivierte Ersetzung handelt: Anne hat bisher zu wenig differenzierende semantische Merkmale gelernt, um die Bedeutungen dieser beiden nebengeordneten Einträge voneinander abzugrenzen. Alternativ könnte diese Fehlbenennung jedoch auch durch unzureichendes Wissen auf der Wortformebene entstanden sein: Die phonologische Wortform ‚Libelle’ […] ist nur als grobes Klangfragment im Wortformlexion gespeichert. Für die Produktion ist dieser Eintrag zu ungenau. Daher wird stattdessen ein Eintrag ausgewählt, der eine semantische Ähnlichkeit mit dem Zielwort hat (daher wurde auch bereits eine Vielzahl seiner semantischen Merkmale aktiviert) und dessen phonologische Wortform leichter zugänglich ist“ (Motsch et al. 2016, 30).

Charakteristischerweise reichen defizitär gespeicherte lexikalische Einträge oftmals für das Verstehen bzw. Wiedererkennen eines Wortes aus. Aus diesem Grund erreichen Kinder mit qualitativen lexikalischen Defiziten in der Regel bessere Normwerte bei der Überprüfung des Wortverstehens (rezeptiver / passiver Wortschatz) gegenüber der Wortproduktion (expressiver / aktiver Wortschatz, Kap. 3; Nash / Donaldson 2005; Rupp 2008, 2013; Motsch et al. 2016).

Wortfindungsstörungen Eine besondere Stellung kommt den lexikalischen Zugriffs- oder Abrufstörungen (auch: kindliche Wortfindungsstörungen) zu.


„Wortabrufstörungen betreffen die Aktivierung von vorhandenen lexikalischen Einträgen für die Sprachproduktion. Das Kind verfügt über einen lexikalischen Eintrag, kann diesen für die Sprachproduktion aber nicht, nur ungenau oder nach längerem Suchen (Pause) abrufen“ (Motsch et al. 2016, 31).

Gemäß der sogenannten „Speicherhypothese“ sind Wortfindungsstörungen als Oberflächensymptom einer zugrundeliegenden, qualitativen lexikalischen Störung zu interpretieren (Rothweiler 2001; Glück 2010; Rupp 2008, 2013; Ulrich 2012).

In der Spontansprache des Kindes sehen wir somit die Symptome einer Wortfindungsstörung, diese kommen zustande durch die „unter der Oberfläche liegenden“ undifferenzierten semantischen oder phonologischen Repräsentationen. Gemäß dieses Ansatzes können qualitative lexikalische Störungen somit Abrufstörungen nach sich ziehen; liegen Abrufstörungen vor, ist aber in jedem Fall von defizitär gespeicherten lexikalischen Einträgen auszugehen.

Eine Gegenposition wird im Rahmen der sogenannten „Abrufhypothese“ vertreten: Hier sei die Speicherqualität der lexikalischen Einträge intakt, allein der Zugriff auf diese gelinge nicht (Beier / Siegmüller 2013). Empirische Evidenz für diese Hypothese gibt es bisher nicht, was sicherlich der sehr engen Verwobenheit von Speicher- und Abrufprozessen geschuldet ist (bzw. in Netzwerkmodellen gar keine Trennung von Speicherung und Abruf angenommen wird, Kap. 1). Zudem führt die Diskussion um Speicher- oder Abrufhypothese nur bedingt zu unterschiedlichen Implikationen hinsichtlich Diagnostik und Therapie. In dieser Hinsicht wesentlich lohnenswerter erscheint die Frage danach, ob die Schwierigkeiten des Kindes primär den Zugriff auf die Wortbedeutungs- oder auf die Wortforminformation betreffen. Eine Reihe von Studien deutet darauf hin, dass die Defizite wortfindungsgestörter Kinder schwerpunktmäßig subsemantisch, also in der Aktivierung und dem Abruf der Wortforminformation liegen dürften (Constable et al. 1997; German / Newman 2004; Siegmüller 2005).

typische Symptome für Abrufschwierigkeiten Kinder mit Wortfindungsstörungen zeigen als Leitsymptom ein fluktuierendes Gelingen des Wortabrufs, das sich in inkonsistentem Benennverhalten zeigt (Siegmüller 2008; Beier / Siegmüller 2013, Kap. 3): Während der Zugriff auf ein Wort in einem Moment gelingt, ist dies kurze Zeit später nicht mehr möglich. Da die Kinder die Wörter gut kennen (also verstehen können), sind ihre Leistungen in rezeptiven Wortschatztests meist nur leicht oder überhaupt nicht beeinträchtigt (German 1989). Im Gegensatz dazu bestehen erhebliche Schwierigkeiten bei der Wortproduktion (Glück 2010). Beim Benennen von Bildern oder in der Spontansprache fallen Verzögerungen in der zeitlichen Struktur der Äußerungen auf (Dockrell et al. 2001, 2003; Glück 2010). Die charakteristischen Meta-Kommentare sind Ausdruck eines hohen Störungsbewusstseins vieler Kinder mit Wortfindungsstörungen. Artikulatorisches Suchverhalten ebenso wie semantische oder phonologische Annäherungen an ein Zielwort treten ausschließlich bei dieser Form der lexikalischen Störung auf. Zudem profitieren Kinder mit Wortfindungsstörungen häufig vom Angebot semantischer oder phonologischer Abrufhilfen (Glück 2010, 2011a).


Semantische Annäherung: „Darin kann man kochen ... für’s Rührei ... die Pfanne.“

Phonologische Annäherung: „Der hatte so eine Mant... Munt... Mundharmonika.“

2.3 Hypothesen zur Verursachung

Vermutlich ist eine Reihe unterschiedlicher Faktoren an der Entstehung und Aufrechterhaltung einer lexikalischen Störung beteiligt (Glück / Elsing 2014a). Welche Faktoren im Einzelnen zur Verursachung beigetragen haben, kann nicht in allen Fällen retrospektiv rekonstruiert werden und hat auch nur eingeschränkt Relevanz für die therapeutischen Bemühungen. Aufrechterhaltende sowie verstärkende Faktoren sollten jedoch im Rahmen der sprachtherapeutischen Diagnostik identifiziert und in der Therapieplanung entsprechend berücksichtigt werden (Motsch et al. 2016).

fehlende Vorausläuferfähigkeiten Einigen Kindern fehlen wichtige kognitive bzw. vorsprachliche Fähigkeiten, um die kommunikative und repräsentative Funktion von Sprache entdecken zu können (Zollinger 2010; Kap. 1). Insbesondere bei Kindern mit umfassenden Entwicklungsstörungen bzw. kognitiven Einschränkungen ziehen Verzögerungen in vorsprachlichen Entwicklungsbereichen oftmals einen verspäteten Einstieg in den Wortschatzerwerb nach sich. So ermöglicht bspw. das Triangulieren überhaupt erst die Erkenntnis, dass Wörter als Symbole für etwas verwendet werden können. Fehlt diese Einsicht, bleibt das Verstehen der Kinder oftmals an die konkrete Situation gebunden.

fehlendes Nachfragen Wortschatzauffällige Kinder fragen insgesamt seltener nach, wenn sie auf eine lexikalische Lücke stoßen. Dies kann zum einen Ausdruck eines unzureichenden Erkennens der eigenen lexikalischen Lücken sein. Manche Kinder sind sich dem Unterschied zwischen „komplett verstehen“ und „nur halb verstehen“ gar nicht bewusst (Amorosa / Noterdame 2003).

„Ihnen fehlt meist auch der aktive und kreative Umgang mit Sprache. Sie fragen kaum nach, sie äußern weder Korrekturen noch bilden sie neue Wortformen. Die Kinder vermitteln sogar oft den Eindruck, als falle ihnen gar nicht auf, dass sie vieles nicht benennen können […]“ (Füssenich 2002, 86).

Bei anderen Kindern spiegelt diese Passivität bereits einen ersten Rückzug aus kommunikativen Situationen aufgrund wiederholter Frustrationserfahrungen wider (Dannenbauer 2001a). In jedem Fall zeigen Kinder mit lexikalischen Störungen gegenüber sprachunauffälligen Kindern eine geringere „Neugier“ für neue Wörter. So machen sie von einem der wichtigsten Antriebsmotoren der physiologischen Entwicklung, dem Fragen, nur unzureichend Gebrauch (Motsch et al. 2016; Brinton / Fujiki 1982; Hargrove et al. 1988).

Einige Kinder hatten zu wenige Gelegenheiten, die Dinge ihrer Umgebung umfassend und mit allen Sinnen zu erfahren. Fehlen konkrete, multisensorische Erfahrungen, können keine facettenreichen Konzepte aufgebaut werden, Wörter bleiben „bedeutungsleere Hülsen“ (Motsch et al. 2016, 38).

defizitärer Sprachinput Mittlerweile belegt eine ganze Reihe empirischer Untersuchungen deutliche Zusammenhänge zwischen der sozialen Schichtzugehörigkeit und der Quantität sowie der Qualität des elterlichen Sprachangebots. Eltern aus bildungsfernen Schichten sprechen weniger mit ihren Kindern und verwenden dabei weniger unterschiedliche Wörter als Eltern mit einem höheren Bildungsniveau. Zudem bevorzugen Eltern aus niedrigen sozialen Schichten einen eher direktiven Kommunikationsstil (Hart / Risley 1995; Hoff-Ginsberg 1991, 1998; Rowe 2008; Clark 2009). Diese Unterschiede schlagen sich in der Wortschatzentwicklung der Kinder nieder. So bestehen deutliche Zusammenhänge zwischen Quantität und Qualität des elterlichen Sprachangebots und dem Umfang des kindlichen Wortschatzes im Kleinkind-, Vorschul- und Schulalter (Hart / Risley 1995; Rowe 2008; Clark 2009). Dennoch stellen allein auf ungünstigen Umgebungsbedingungen basierende Wortschatzauffälligkeiten keine Indikation zur krankenkassenfinanzierten Sprachtherapie dar (AWMF-Leitlinie 2011). Vielmehr soll ein solcher „Spracherfahrungsmangel“ (Glück 2007, 160) über das Angebot einer allgemeinen Sprachförderung durch Erzieher und Lehrer ausgeglichen werden. Ungünstige Input-Bedingungen können jedoch verstärkend und aufrechterhaltend auf eine bestehende spezifische Störung der Sprachentwicklung wirken (AWMF-Leitlinie 2011).

defizitäre Mapping­Prozesse Empirische Untersuchungen haben sich der Frage gewidmet, ob bei spracherwerbsgestörten Kindern bereits die Aufnahme von neuen Wörtern in das mentale Lexikon beeinträchtigt ist. Hierzu wurden Experimente durchgeführt, bei denen sowohl spracherwerbsgestörte als auch sprachunauffällige Kinder neue Wortformen (in der Regel Pseudowörter) zu neuen Referenten (in der Regel Phantasieobjekten) lernen sollten (Kan / Windsor 2010). Es zeigte sich, dass spracherwerbsgestörte Kinder insgesamt deutlich mehr Wiederholungen eines Wortes benötigten, um eine erste lexikalische Repräsentation aufzubauen. So waren mindestens zehn Wiederholungen eines Wortes notwendig, damit die SES-Kinder dieses überhaupt wiedererkennen und den Referenten zeigen konnten (Rice et al. 1994; Kier nan / Gray 1998). Von grundlegenden Wortlernstrategien scheinen Kinder mit lexikalischen Störungen dabei in vergleichbarem Maße Gebrauch zu machen wie sprachunauffällige Kinder (Rothweiler 2001; Kauschke / Rothweiler 2007). Problematisch scheint jedoch vor allem die langfristige Speicherung neuer Einträge im mentalen Lexikon zu sein (slow mapping). Besondere Schwierigkeiten bereiten wortschatzauffälligen Kindern dabei die Einspeicherung und Ausdifferenzierung der phonologischen Wortformen sowie das Benennen der neu gelernten Wörter (Kiernan / Gray 1998; Gray 2003; Nash / Donaldson 2005). Neben dem erhöhten Aufwand, um einen ersten Eintrag für die Produktion zu etablieren, wird auch über ein häufiges „Vergessen“ bereits gelernter Wörter berichtet (Riches et al. 2005).

Defizite der phonologischen Schleife Die Schwierigkeit, stabile und differenzierte phonologische Repräsentationen auszubilden und dauerhaft abzuspeichern, sollte vor dem Hintergrund möglicher Einschränkungen der phonologischen Schleife des Arbeitsgedächtnisses gesehen werden. Studien zeigen signifikante Korrelationen zwischen der Kapazität des phonologischen Arbeitsgedächtnisses und der Fähigkeit, neue Wörter zu lernen (Adams / Gathercole 1995; Gathercole et al. 1997). Als Gruppe erreichen spracherwerbsgestörte Kinder signifikant schlechtere Leistungen beim Nachsprechen von Pseudowörtern, das in der Regel als Maß für die Kapazität der phonologischen Schleife herangezogen wird, gegenüber sprachunauffälligen Kindern (Gathercole / Baddeley 1990, 2003). Es wird daher diskutiert, ob eine reduzierte Arbeitsgedächtnis-Kapazität als zentraler diagnostischer Marker oder sogar entscheidender Verursachungsfaktor einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung angenommen werden sollte (Kany / Schöler 2014; Leonard et al. 2007). In jedem Fall ist davon auszugehen, dass die überwiegende Mehrheit lexikalisch gestörter Kinder auch Einschränkungen in der phonologischen Schleife des Arbeitsgedächtnisses zeigt. Daraus ergeben sich Schwierigkeiten v. a. bei der phonologischen Analyse und Einspeicherung längerer (drei Silben und mehr) sowie phonologisch komplexer Wörter, die ein höheres Maß an Verarbeitungskapazität beanspruchen (Ulrich 2012).

Defizite der phonologischen Bewusstheit Während kleine Kinder zunächst die Gliederung eines Wortes nach Silben bevorzugen, wird im späten Vorschulalter die Segmentierung von Wortformen nach Onset und Reim und im Schulalter schließlich nach einzelnen Phonemen möglich (Mayer 2013a, 2016a). Dies erleichtert die Ausdifferenzierung der phonologischen Wortformen im mentalen Lexikon sowie ihren Abgleich mit anderen, ähnlich klingenden Wortformen, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszuhören. Verzögerungen in der Entwicklung phonologischer Bewusstheit erschweren somit die immer feinere Durchgliederung der phonologischen Wortformen in ihre lautlichen Bestandteile sowie die Vernetzung von phonologischen Repräsentationen innerhalb des mentalen Lexikons.

Zugriffsgeschwindigkeit auf phonologische Repräsentationen Insbesondere im Kontext von kindlichen Wortfindungsstörungen kommt der Benennungsgeschwindigkeit, also der Fähigkeit, nach Vorgabe eines visuellen Reizes möglichst schnell auf eine gespeicherte phonologische Repräsentation zuzugreifen und die entsprechende Wortform zu artikulieren (Mayer 2016b), besondere Bedeutung bei. Glück (2010) nimmt bei wortfindungsgestörten Kindern eine unzureichende Automatisierung der Abrufpfade zu den Wörtern an, die sich in erhöhten Benennzeiten zeigt (Beier / Siegmüller 2013).

unzureichende Elaboration von Wortform und ­bedeutung Wie bereits ausgeführt, scheint bei vielen wortschatzauffälligen Kindern die Ausdifferenzierung und Vernetzung sowie die Einbindung von phonologischen Wortformen in das mentale Lexikon (kurz: die phonologische „Elaboration“) betroffen zu sein. Eine ungenaue phonologische Repräsentation eines Wortes reicht dann möglicherweise zum Verstehen des Wortes aus, nicht aber für die Aktivierung im Wortproduktionsprozess, so dass Abrufstörungen resultieren können (Kap. 2.2.2). Zudem erschwert die unzureichende Differenzierung phonologischer Wortformen die Entscheidung für die Zielform, wenn mehrere phonologisch ähnliche Formen gleichzeitig aktiviert werden (Kap. 1). So konnte für einige wortfindungsgestörte Kinder gezeigt werden, dass sie spezifische Schwierigkeiten damit haben, die korrekte Wortform aus einer Auswahl phonologisch ähnlicher Kandidaten zu selektieren und die nicht-zutreffenden Kandidaten im Aktivierungswettstreit zu ignorieren (German / Newman 2004; Mainela-Arnold et al. 2008, 2010; Leonard 2014; Motsch et al. 2016).

Darüber hinaus finden sich auch empirische Belege für unzureichend elaborierte semantische Repräsentationen im mentalen Lexikon lexikalisch gestörter Kinder. So zeigten einige empirische Studien mit spracherwerbsgestörten Kindern, dass diese über weniger differenzierte semantische Repräsentationen verfügten bzw. das semantische Wissen im mentalen Lexikon unzureichend vernetzt war (McGregor et al. 2002; Dockrell et al. 2003; Alt et al. 2004; Sheng / McGregor 2010a). Zudem werden Verzögerungen in der Organisation und Strukturierung des mentalen Lexikons berichtet (Siegmüller 2003; aber: McGregor / Waxman 1998 für eine Gegenthese).

eingeschränkte Verarbeitungskapazität für Sprache Schließlich sollte auf das Modell der eingeschränkten Verarbeitungskapazität (limited processing capacity framework, z. B. Ellis Weismer 1996, 2000; Ellis Weismer / Hesketh 1993, 1996, 1998) hingewiesen werden. Grundannahme ist, dass spracherwerbsgestörte Kinder nur über begrenzte Kapazitäten zur Verarbeitung von sprachlichem Material verfügen. Sie profitieren daher von einer Reduktion des Sprechtempos, einer Hervorhebung wichtiger Wörter durch Betonung sowie einer weitgehenden Reduktion weiterer Anforderungen an die sprachliche Verarbeitung (Motsch et al. 2016). Zudem zeigte sich, dass dem schnellen Vergessen neu gelernter Wörter am effektivsten durch regelmäßige „Auffrischung“ anhand von zeitlich verteilten Wiederholungen entgegengewirkt werden kann (Riches et al. 2005).

Zusammenfassung

Lexikalische Störungen sind häufige Phänomene im Kontext von (Sprach-) Entwicklungsstörungen bei Kindern. Auch wenn sie auf den ersten Blick weniger deutlich auffallen dürften als Störungen der Aussprache oder der Grammatik, können sie die Gesamtentwicklung der betroffenen Kinder nachhaltig und langfristig beeinträchtigen. Einer möglichst frühzeitigen Intervention kommt daher eine entscheidende Bedeutung zu. Diese sollte mögliche aufrechterhaltende oder verstärkende Faktoren berücksichtigen und hierzu kompensatorische Angebote machen.

Sprachtherapie mit Kindern

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