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2 Störungen der Aussprache

Ca. 10 bis 15 % der Kinder zeigen eine Abweichung vom regelrechten Ausspracheerwerb im Hinblick auf zeitliche oder inhaltliche Aspekte. Zeitlich bedeutet, dass sie physiologische Vereinfachungsprozesse noch zu einem untypisch späteren Zeitpunkt zeigen. Unter inhaltlichen Aspekten versteht man Veränderungen der kindlichen Aussprache, die so im regelrechten Ausspracheerwerb nicht auftreten. Das Ziel des vorliegenden Kapitels ist es, auf der Basis des zuvor beschriebenen regelrechten Ausspracheerwerbs, Ursachen, Klassifikationsmodelle und Arten von kindlichen Aussprachestörungen zu skizieren. Des Weiteren werden diagnostische und therapeutische Möglichkeiten vorgestellt und in ihrem Einsatz begründet.

2.1 Begriffsklärung


Unter einer Aussprachestörung versteht man mögliche Schwierigkeiten im Bereich Perzeption, Artikulation / Motorische Produktion und / oder phonologischer Repräsentation der Sprech-Segmente (Konsonanten und Vokale), der Phonotaktik (Silben und Wortformen) und der Prosodie (lexikalische und grammatikalische Töne, Rhythmus, Betonung und Intonation), die sich negativ auf die Verständlichkeit und Akzeptanz der Kinder auswirken können (International Expert Panel on Multilingual Children‘s Speech 2012).

Aussprachestörungen können als alleiniges Symptom einer sprachlichen Problematik, aber auch als Teilsymptom einer generellen Sprachentwicklungsstörung auftreten. Oftmals werden Kinder insbesondere wegen ihrer Ausspracheprobleme an Logopäden bzw. Sprachtherapeuten überwiesen, da Lautbildungsschwierigkeiten in der pädiatrischen Früherkennungsuntersuchung am einfachsten zu diagnostizieren sind.

organische und funktionelle Aussprachestörungen Grundsätzlich muss zwischen organischen und funktionellen Aussprachestörungen unterschieden werden. Bei organisch bedingten Aussprachestörungen lässt sich eine Ursache anamnestisch feststellen. Hierunter fallen Aussprachestörungen, die zum Beispiel durch angeborene Hörstörungen, durch Zerebralparesen (kindliche Dysarthrie), durch LKGS-Fehlbildungen oder durch kognitive Einschränkungen z. B. im Rahmen genetischer Syndrome verursacht sein können (für einen Überblick über Risikofaktoren für Aussprachestörungen s. Fox-Boyer 2016a).

Funktionelle Aussprachestörungen, d. h. Aussprachestörungen, bei denen die gesicherte Feststellung einer Ursache nicht möglich ist, treten weitaus häufiger auf. Eine Aussprachestörung mit bisher ungeklärten Status ist die verbale Entwicklungsdyspraxie. Laut Definition müsste bei einer Dyspraxie eine neurologische Grunderkrankung vorliegen. Es ist allerdings nur in sehr seltenen Fällen möglich, diese tatsächlich nachzuweisen (Schulte-Mäter 2009), so dass die verbale Entwicklungsdyspraxie unter den funktionellen Aussprachestörungen abgehandelt wird. Das folgende Kapitel bezieht sich ausschließlich auf funktionelle Aussprachestörungen.

Wandel in der Terminologie Auch Kinder mit funktionellen Aussprachestörungen stellen keine homogene Gruppe dar, wie dies ursprünglich von Van Riper (1939) angenommen wurde. Sie unterscheiden sich in ihrer Symptomatik, dem Schwergrad, ihrer Ätiologie und der Reaktion auf Therapieansätze. In seinen ersten Veröffentlichungen in den Jahren 1939 bis 1963 ging Van Riper davon aus, dass Aussprachestörungen durch mangelnde Reifung der Artikulationsbewegungen eine motorisch bedingte Problematik darstellten. Erst Ende der 1960er Jahre begannen theoretische Phonologen, sich mit der kindlichen Ausspracheentwicklung zu befassen, und mit Beginn der klinischen Phonologie in den 1980er Jahren (Grunwell 1987) wurden Aussprachestörungen auch aus linguistischer, insbesondere aus psycholinguistischer Sicht betrachtet (Ingram 1989). Seit diesem Zeitpunkt wird davon ausgegangen, dass es sich bei Aussprachestörungen um vielfältige Störungsarten innerhalb des Sprachverarbeitungsprozesses handelt.

speech sound disorder Der Wandel über die Sicht der Ursachen und Störungsebenen im Sprachverarbeitungsprozess von Aussprachestörungen reflektiert sich auch in der Terminologie: Wurden zunächst Aussprachestörungen mit dem Begriff „Artikulationsstörung“ der „Dyslalie“ belegt, setzte sich nun der Begriff der „phonetisch-phonologischen Störungen“ durch. All diese Begriffe wurden und werden in der Literatur vielfältig definiert, so dass bis heute nicht von einer einheitlichen Terminologie ausgegangen werden kann. Im Jahr 2017 kann festgestellt werden, dass sich der Begriff „speech sound disorder“ als Oberbegriff in der internationalen Literatur durchgesetzt hat.

speech sound disorder Im Deutschen wird der Begriff „speech sound disorder“ mit dem Begriff „Aussprachestörung“ als Oberbegriff für die verschiedenen Arten der Ausspracheproblematiken übersetzt. Da ein Oberbegriff Unterkategorien erfordert, ist es notwendig, sich mit Ausdifferenzierungen und damit mit veröffentlichten Klassifikationssystemen für Aussprachestörungen zu befassen. In der Literatur finden sich linguistisch-deskriptive, ätiologische, quantitative und psycholinguistische Klassifikationsansätze (Waring / Knight 2013). Daneben stehen Autoren, die davon ausgehen, dass die Klassifikation von kindlichen Aussprachestörungen nicht sinnvoll sind (Stackhouse / Wells 1997).

linguistisch-deskriptive Beschreibungen Die älteste Form der Klassifikation stellen linguistisch-deskriptive Beschreibungen dar. Sie beschreiben die Symptomatik einer Aussprachstörung entweder mithilfe einer Benennung der betroffenen Laute (veraltet: z. B. Sigmatismus, Kappazismus, Rhotazismus) oder von phonologischen Prozessen (z. B. Vorverlagerung der Velare, Plosivierung der Frikative). Ihr Ziel ist es nicht, Aussprachestörungen zu klassifizieren. Sie bieten daher weder Aussagen über mögliche Störungsebenen oder Ursachen, noch lassen sich daraus therapeutische Schritte ableiten.

Ein weiterer Ansatz der Darstellung von Aussprachestörungen sind ätiologische Klassifikationssysteme, wie z. B. von Shriberg (1994; 1997) vorgeschlagen. Dieser Ansatz entstammt der medizin-orientierten Sichtweise logopädischer Störungsbilder. Untersuchungen konnten allerdings zeigen, dass es mit ihrer Hilfe nicht möglich ist, alle betroffenen Kinder eindeutig den verschiedenen vorgeschlagenen Untergruppen zuzuteilen (Fox et al. 2002). Während einige Kinder keine ätiologischen Auffälligkeiten zeigen, zeigen sich bei anderen Kindern gleich mehrere Faktoren parallel. Ein weiterer Nachteil ist, dass sich auch hier keine therapeutischen Schritte ableiten lassen.

Quantitative Einteilungen (Van Riper 1963; Shriberg / Kiatkowski 1982) bestimmen den Schweregrad einer Aussprachestörung mithilfe der Berechnung der Anzahl betroffener Phoneme (z. B. PCC = Prozentwert korrekter Konsonanten). Untersuchungen zeigten, dass nicht alle Kinder mit einer Aussprachestörung sich in der Anzahl ihrer betroffenen Phoneme oder Konsonanten von Kindern, die sich im Regelerwerb gleichen Alters befinden, unterscheiden (Clausen / Fox-Boyer, in Vorbereitung) und auch hieraus lassen sich keine therapeutischen Schritte ableiten.

Klassifikationsansatz von Dodd In der internationalen Literatur (Überblick siehe Waring / Knight 2013) findet sich neben dem ätiologischen Klassifikationsansatz von Shriberg (1994) der psycholinguistische Klassifikationsansatz von Dodd (1995; 2005). Letzterer ist ein Ansatz, der für viele Sprachen unterschiedlicher Sprachfamilien als anwendbar beschrieben worden ist, z. B. für das Englische (Dodd 1995; 2005), Deutsche (Fox / Dodd 2001), Türkische (Topbas / Yavas 2006), Cantonesische (So 2006), Spanische (Goldstein 1996), Putonghua (Hua / Dodd 2000) und das Dänische (Clausen / Fox-Boyer, in Vorbereitung).

Waring / Knight (2013) kritisierten allerdings, dass sich der Ansatz zwar für viele Forschungsfragen eindeutig bewährt habe, der Nachweis darüber aber fehle, inwieweit eine Implementierung dieses Ansatzes in den klinischen Alltag möglich ist. Clausen und Fox-Boyer (in Vorbereitung) konnten jedoch zeigen, dass eine Implementierung in einem Land (Dänemark), in dem dieser Ansatz bislang nicht bekannt war, mit wenigen Publikationen und kurzen Schulungen implementierbar war. Diese Erfahrung konnte auch für Deutschland seit Beginn des 21. Jahrhunderts gemacht werden, auch wenn dies nicht wissenschaftlich evaluiert wurde. Bis zum Jahr 2000 wurden Aussprachestörungen in Deutschland nicht in Untergruppen eingeteilt, sondern alle Formen von Aussprachestörungen wurden in der Regel mit dem Begriff „Dyslalie“ belegt. Therapeutisch wurde fast ausschließlich die klassische Artikulationstherapie (Van Riper 1939) als einziges therapeutisches Vorgehen gelehrt und angewendet. Mithilfe zahlreicher Publikationen und Fortbildungen wurde der psycholinguistische Klassifikationsansatz von Dodd (1995; 2005) durch Fox in Deutschland implementiert, so dass es sich nun um den in Deutschland am häufigsten verwendeten Klassifikationsansatz handelt. Aus diesem Grund werden im Rahmen dieses Kapitels der Terminologie von Dodd (1995; 2005) folgend diese Unterbegriffe verwendet:

■ Artikulations- bzw. Phonetische Störung,

■ Phonologische Verzögerung,

■ Konsequente Phonologische Störung,

■ Inkonsequente Phonologische Störung.

2.2 Prävalenz

Studien zur Prävalenz von funktionellen Aussprachestörungen konnten zeigen, dass diese die häufigste Form einer Sprachentwicklungsproblematik bei Kindern darstellen, so dass Kinder mit Aussprachestörungen einen sehr großen Anteil der Klienten von Sprachtherapeuten in verschiedenen Ländern ausmachen (McLeod / Baker 2014, Mullen / Schooling 2010). Vorläufige Prävalenzangaben für Aussprachestörungen im Deutschen gehen von ca. 16 % betroffenen Kindern im Alter von drei Jahren bis zur Einschulung aus (Fox-Boyer 2014b). Diese Zahlen bestätigen Ergebnisse aus dem angloamerikanischen Bereich (Fox-Boyer 2014c).

2.3 Definitionen und Symptomatologie

Im Folgenden werden die verschiedenen Störungsarten, ihre Symptomatik, die angenommenen Störungsebenen im Sprachverarbeitungsprozess und die am häufigsten vermuteten Ursachen beschrieben. Um die angenommenen Störungsebenen innerhalb des Sprachverarbeitungsprozess und die später daraus resultierenden Therapieableitungen besser einordnen zu können, soll zunächst das Sprachverarbeitungsmodell von Stackhouse / Wells (1997) eingeführt werden (Abb. 4).


Abb. 4: Sprachverarbeitungsmodell nach Stackhouse / Wells (1997)

Sprachverarbeitungsmodell von Stackhouse / Wells (1997) Dieses Sprachverarbeitungsmodell stellt international das einzige Modell dar, das das Ziel verfolgt, den Erwerbsprozess der kindlichen Aussprache und deren Grundlagen für den späteren Lese-Rechtschreib-Erwerbsprozess darzustellen.

Repräsentation Die drei dickumrandeten Kästchen phonologische Repräsentation, semantische Repräsentation und motorisches Programm stellen Ebenen innerhalb des Langzeitgedächtnisses dar.


Als phonologische Repräsentation versteht man die Abspeicherung der korrekten Wortform, während die semantische Repräsentation die korrekte Abspeicherung der Wortbedeutung darstellt. Das motorische Programm enthält sogenannte „gestische Targets“ für die Artikulation. Hier sind Informationen über die Stellung und Bewegung der Artikulationsorgane gespeichert. Bei den gestischen Targets handelt es sich also um gespeicherte, automatisierte Bewegungsabfolgen.

Inputverarbeitung Auf der linken Seite des Modells finden sich die rezeptiven Sprachverarbeitungsanteile. Auf der Ebene der peripheren auditiven Verarbeitung findet eine Feststellung dahingehend statt, ob eine akustische Schallübertragung (z. B. das Hören eines Wortes) stattgefunden hat. Auf der Ebene der Diskrimination Sprache / Nicht-Sprache wird entschieden, ob der akustische Reiz ein Sprachsignal oder ein anderes akustisches Signal (z. B. ein Geräusch) beinhaltet. Bei Sprachsignalen findet – je nach Alter unterschiedlich detailliert – ein phonologisches Erkennen statt, d. h., die phonologischen Bestandteile des Inputs werden analysiert.

Outputverarbeitung Auf der rechten Seite des Modells finden sich die expressiven Anteile der Sprachverarbeitung. Die Ebene der motorischen Planung bestimmt z. B. den Sprechfluss, die Sprechgeschwindigkeit oder die Lautstärke, während auf der Ebene der motorischen Ausführung eine tatsächliche Umsetzung des Geplanten stattfindet.

Die phonetische Diskrimination ist eine sogenannte Offline-Ebene, die dann angesprochen wird, wenn phonetische Informationen erlernt oder identifiziert werden müssen. Diese Ebene wird z. B. angesprochen, wenn einem Kind ein isolierter Laut vorgesprochen wird und das Kind erkennen muss, um welchen Laut es sich handelt. Eine weitere Offline-Ebene stellt das motorische Programmieren dar. Mithilfe des motorischen Programmierens gelingt es dem Kind, ad hoc motorische Pläne für eine sprachliche Äußerung zu erstellen. Werden diese Pläne sehr häufig aktiviert (z. B. beim Wortlernen), gehen diese mehr und mehr in die Ebene des motorischen Programms für das zu lernende Wort über. Des Weiteren wird das motorische Programmieren beim Nachsprechen von Nichtwörtern aktiviert, da für Nichtwörter keine der Repräsentationsebenen vorhanden ist.

Stackhouse / Wells (1997) gehen davon aus, dass eine Klassifikation von Kindern mit Aussprachestörungen nicht möglich ist, sondern dass für jedes Kind ein individuelles Profil an Stärken und Schwächen innerhalb des Sprachverarbeitungsprozess erstellt werden sollte. Unterstützt man diesen Gedankengang, so ist der diagnostische Prozess für Kinder mit Aussprachestörungen sehr zeitaufwendig, da jede einzelne Ebene des Sprachverarbeitungsprozesses untersucht werden müsste. Des Weiteren wäre ein standardisiertes Diagnostikmaterial vonnöten, um diese Ebenen untersuchen zu können. Für das Deutsche bietet der TPB (Test für phonologische Bewusstheitsfähigkeiten, Fricke / Schäfer 2011) für die meisten Ebenen diese Möglichkeit; allerdings nur für Kinder im Alter von vier Jahren bis zum Ende der ersten Klasse.

2.3.1 Phonetische Störung bzw. Artikulationsstörung


Laut Fey (1992) ist die phonetische bzw. Artikulationsstörung definiert als die Unfähigkeit, ein Phon isoliert oder in jeglichem linguistischen Kontext korrekt zu realisieren. Es handelt sich also um eine Laut-Fehlbildung und nicht um eine Ersetzung oder Auslassung. Der fehlgebildete Laut wird in der Spontansprache phonologisch korrekt angewendet.

Die häufigste phonetische Fehlbildung im Deutschen ist der Sigmatismus interdentalis, addentalis oder lateralis. Die zweithäufigste phonetische Fehlbildung stellt der Schetismus lateralis dar. Zusätzlich tritt vereinzelt die sogenannte multiple Interdentalität auf, bei der alle alveolaren Laute / n l d t s z / interdental realisiert werden.

Der multiplen Interdentalität, dem Schetismus oder Sigmatismus lateralis liegt eine myofunktionelle Störung zugrunde. Dies gilt jedoch nur für ca. ein Viertel aller Fälle eines Sigmatismus inter- oder addentalis (Fox-Boyer 2016a).

Sigmatismus interoder addentalis Da ungefähr 30 bis 40 % aller monolingual deutschsprachigen Kinder (untersucht bis zum Alter von zehn Jahren) die Laute / s z ts / inter- oder addental bilden, ist zu diskutieren, ob es sich beim Sigmatismus inter- oder addentalis um eine phonetische Störung oder nur um eine Variation der Norm handelt. Es ist davon auszugehen, dass diese Formen des Sigmatismus durch Imitation oder eine fehlerhaft gelernte Artikulationsstelle verursacht werden.

Innerhalb des Sprachverarbeitungsprozesses ist daher die Ebene der motorischen Ausführung (Abb. 5) betroffen.


Abb. 5: Störungsebenen im Modell von house / Wells (1997)

2.3.2 Phonologische Verzögerung

Kinder mit einer phonologischen Verzögerung zeigen ausschließlich physiologische phonologische Prozesse, die nicht mehr adäquat für das jeweilige Alter des Kindes sind. Das bedeutet, dass ein Kind einen Prozess noch zeigt, obwohl dieser für die regelrechte Entwicklung nicht mehr altersgemäß ist.


Verzögerter Prozess: Ein Prozess gilt als verzögert, wenn er mindestens sechs Monate nach dem eigentlichen Überwindungszeitraum noch sichtbar ist (Crystal et al. 1989). Dabei ist die Länge der Verzögerung darüber hinaus unerheblich. Der verzögerte Prozess wird nie als pathologisch gewertet (Fox-Boyer 2014a).

Die Liste der physiologischen phonologischen Prozesse für das Deutsche ist begrenzt (Kap. 1.5.4). Tabelle 2 stellt diese und das Überwindungsalter für jeden einzelnen Prozess dar.

häufigste verzögerte Prozesse Zu den häufigsten verzögerten Prozessen zählen die Vorverlagerung der Velare / k g ŋ / , die Vorverlagerung der Sibilanten / ʃ ç / , die Reduktion insbesondere initialer Konsonantenverbindungen und die glottale Ersetzung von / ʁ / .

Ca. 50 % aller Kinder mit Aussprachestörungen im Deutschen sind von einer phonologischen Verzögerung betroffen (Fox / Dodd 2001). Untersucht man Kinder mit einer phonologischen Verzögerung mithilfe einer Testbatterie, die die verschiedenen Ebenen des Sprachverarbeitungsprozesses überprüft, so zeigt sich, dass diese Kinder als Gesamtgruppe genauso abschneiden wie sprachunauffällige Regelkinder gleichen Alters. Dodd (1995; 2005) geht daher davon aus, dass externe Faktoren bei diesen Kindern dazu geführt haben, dass eine meist temporäre Stagnation der Ausspracheentwicklung eingetreten ist. Externe Faktoren können rezidivierende Mittelohrproblematiken sein, die zu intermittierendem Hörverlust führen. Des Weiteren könnten laut Dodd ebenfalls belastende Situationen (z. B. die Geburt eines Geschwisterkindes oder der Verlust einer Bezugsperson) dazu führen, dass ein Kind einen Entwicklungsschritt nicht vollzieht.

2.3.3 Konsequente phonologische Störung

Kinder mit einer konsequenten phonologischen Störung zeigen mindestens einen pathologischen phonologischen Prozess. Das bedeutet, dass dieser Prozess in der regelrechten Entwicklung von monolingual-deutsch aufwachsenden Kindern nicht vorkommt. Daneben können altersgemäße oder verzögerte phonologische Prozesse auftreten.


„Pathologischer Prozess: Ein Prozess gilt als pathologisch, wenn er in der vorliegenden Form zu keinem Zeitpunkt im regelrechten Spracherwerb sichtbar ist“ (Fox-Boyer 2014c, 33).

pathologische Prozesse im Deutschen Nach Fox-Boyer (2014c) sind hierbei Probleme mit den Frikativen (z. B. Plosivierung aller Frikative), die Rückverlagerung von / t d n / , die Vokalisation von / l / und der Onsetprozess als pathologische Prozesse hervorzuheben, da diese bei Kindern mit Aussprachestörungen im Deutschen regelmäßig auftreten. Nach Fox-Boyer (2016a) zeigten die meisten von ihr untersuchten Kinder mit einer konsequenten phonologischen Störung (N = 276) regelhaft einen der folgenden pathologischen Kernprozesse:

■ Kontaktassimilation (KontaktAss),

■ Vokalisation von / l / (VOK / 1 / ),

■ Rückverlagerungen (RV),

■ allophonischer Gebrauch von Frikativen (Allo Frik),

■ Onsetprozess (OnsetP),

■ Vokalfehler (Vok),

■ Tilgung von Konsonantenverbindungen (TCC) und

■ Veränderung von Konsonantenverbindungen (VCC).


Kontaktassimilation (KontaktAss): Innerhalb der Konsonantenverbindungen / tʁ / und / dʁ / werden die Alveolare / t / und / d / konsequent nach velar verlagert. Es wird davon ausgegangen, dass dies durch die Angleichung an den uvularen Artikulationsortes des / ʁ / geschieht.

Vokalisation von / l / (VOK / 1 / ): Das Phonem / l / wird durch eine Mischung aus dem Vokal [i] und [j] ersetzt.

Manche Kinder ersetzen auch den Laut / ʁ / auf diese Art und Weise.


Rückverlagerungen (RV / t d n / ): Die Phoneme / t d n / , die eigentlich alveolar (Artikulationsstelle) gebildet werden, werden durch die Phoneme / k g ŋ / , die an einem weiter hinten liegenden Artikulationsort gebildet werden, ersetzt.

Nach Daten von Fox-Boyer (2016a) trat dieser Prozess bei 7 bis 12 % (je nach Alter) der untersuchten Kinder mit konsequenter phonologischer Störung auf. Diese zeigten die Velarisierung konstant zu 100 % als besonders stabiles Ersetzungsmuster.


Allophonischer Gebrauch von Frikativen (Allo Frik): Eine Lautklasse (hier: Frikative) wird entweder durch einen einzigen Ersatzlaut (z. B. [h s θ]) ersetzt oder Laute werden scheinbar willkürlich füreinander eingesetzt (immer wenn ein Frikativ verwendet werden soll, wird ein Frikativ verwendet, aber nicht notwendigerweise der korrekte). Der allophonische Gebrauch kann auch bei den Nasalen oder den Plosiven auftreten.

63 % der Kinder mit konsequenter phonologischer Störung zeigten den allophonischen Gebrauch von Frikativen bzw. eine vollständige Plosivierung aller Frikative (Fox-Boyer 2016a). Die Phoneme / f / bzw. / v / werden durch die Phoneme / s / bzw. / z / ersetzt. Im Prinzip handelt es sich hierbei um eine Rückverlagerung der dento-labialen Laute nach alveolar.


Onsetprozess (OnsetP): Alle Wort- und Silbenonsets in betonten Silben bis auf / m n b p d t / werden durch / h / oder / d / ersetzt.

Der Onsetprozess konnte nach Fox-Boyer (2016a) bei 19 % der Kinder mit konsequenter phonologischer Störung nachgewiesen werden. Es zeigt sich eine Ersetzung von Wortonsets (auch Konsonantenverbindungen / CC) in der Regel durch ein / h / oder / d / .


Vokalfehler (Vok): Ein Vokal wird durch einen anderen, inadäquaten Vokal ersetzt.

Tilgung von Konsonantenverbindungen (TCC): Innerhalb eines Wortes wird eine Konsonantenverbindung ausgelassen.

Unter die generelle Tilgung von Konsonantenverbindungen fällt die Tilgung von initialen Konsonantenverbindungen (TiCC) sowie die Tilgung von finalen Konsonantenverbindungen (TfCC). Es handelt sich hierbei um einen strukturellen Prozess.


Veränderung von Konsonantenverbindungen (VCC): Konsonanten innerhalb einer Konsonantenverbindung werden durch andere Konsonanten ersetzt und somit die Konsonantenverbindung verändert. Die Ersetzungen können nicht durch andere Ersetzungsprozesse (z. B. Vorverlagerung von / g / ) erklärt werden. Dies kann ein bis drei Konsonanten betreffen. Die Anzahl der Elemente bleibt jedoch erhalten.

Weitere pathologische Prozesse sind sehr heterogen und individuell, wie die Kinder auch. Tabelle 3 gibt die häufigsten pathologische Prozesse mit Beispielen wieder.

Tab. 3: Darstellung pathologischer phonologischer Prozesse im Deutschen

Pathologische Prozesse
Strukturelle Prozesse
AbkürzungErläuterungBeispiel
TICCTilgung von wortinitialen Konsonantenverbindungen: Am Anfang eines Wortes wird eine Konsonantenverbindung ausgelassen./gʁyn/ → [yn]
TFCCTilgung von wortfinalen Konsonantenverbindungen: Am Ende eines Wortes wird eine Konsonantenverbindung ausgelassen./baŋk/ → [ba]
TIKTilgung von wortinitialen Konsonanten: Am Anfang eines Wortes wird ein Konsonant ausgelassen./katse/ → [atse]
TBSTilgung betonter Silben: Innerhalb eines Wortes wird eine betonte Silbe ausgelassen./kanə/ → [nə]
IntrKIntrusive Konsonanten: Ein Konsonant, der nicht in ein bestimmtes Wort gehört, wird zusätzlich eingefügt./telefon/ → [telefʁon]
IntrVIntrusive Vokale: Ein Vokal, der nicht in ein bestimmtes Wort gehört, wird zusätzlich eingefügt./blume/ → [bəlume]
REDReduplikation: Die betonte Silbe eines Wortes wird vollständig wiederholt (Verdopplung) und die zweite Silbe wird dadurch ersetzt./ball/ → [baba]
RV /t d n/Rückverlagerung von Alveolaren /t d n/: Ein Phonem wird durch ein weiter hinten gebildetes, sonst merkmalsgleiches Phonem ersetzt./teləfon/→ [keləfoŋ]
Vok /I/Vokalisation von /I/ -> [j oder i]: Das Phonem /I/ wird durch eine Mischung aus dem Vokal [i] und [j] ersetzt./bal/ → [baj]
VCCVeränderung von Konsonantenverbindungen: Innerhalb eines Wortes wird eine Konsonantenverbindung verändert./blumə/ → [sʁumə]
MetaMetathese: Die Reihenfolge von zwei Phonemen innerhalb eines Wortes wird vertauscht./fogəl/ → [folək]
AffAffrizierung: Ein Frikativ wird durch eine Affrikate ersetzt./lœfəl/ → [lœpfəl]
FrikFrikativierung: Ein Plosiv wird durch einen Frikativ ersetzt./baum/ → [vaum]
OnsetPOnset-Prozess/ Wortbetonungsprozess: Alle betonten Wort- und Silbenonsets bis auf /m n b p d t/ werden durch /h/ oder /d/ ersetzt./bʁIlə/ → [hIlə]
AlloL (AlloFrik, AlloNas, AlloAllophonischer Gebrauch von Lautklassen: Die Lautklasse der Frikative wird durch einen einzigen Ersatzlaut ersetzt.z. B.: /f v / → [s z] /fedɐ/ → [sedɐ]
NasNasalierung: Ein Phonem wird durch einen Nasal ersetzt. Dabei bleibt der Artikulationsort meistens erhalten./dax/ → [nax]
DenasDenasalierung: Ein Nasal wird durch einen Laut ersetzt, der nicht nasal gebildet wird./na:zə/ → [la:zə]
VokVokalfehler: Ein Vokal wird durch einen anderen, inadäquaten Vokal ersetzt./teləfon/ → [tilofon]

Ursache konsequenter phonologischer Störungen Es wird ursächlich von einem kognitiv-linguistischen Defizit ausgegangen (Dodd / McCormack 1995). Als betroffene Störungsebene im Sprachverarbeitungsprozess wird ein Defizit in der phonologischen Analyse des gehörten Materials angenommen (Abb. 5), so dass es sekundär zu einer inkorrekten oder unsauberen Abspeicherung der Wortform kommt.

Ätiologische Untersuchungen konnten zeigen, dass bei über 60 % der Kinder eine positive Familienanamnese zu verzeichnen ist. Dies bedeutet, dass weitere Familienmitglieder ebenfalls sprachauffällig sind oder waren oder dass Lese-Rechtschreib-Schreibschwierigkeiten vorlagen bzw. vorliegen. Daher wird von einer starken genetischen Komponente ausgegangen. Eine konsequente phonologische Störung liegt bei ca. 20 bis 30 % der Kinder mit Aussprachestörungen vor (Fox / Dodd 2001) und gilt als besonderes Risiko für die Ausprägung einer späteren Lese-Rechtschreibstörung (Schnitzler 2015).

2.3.4 Inkonsequente phonologische Störung

Laut Definition von Dodd (1995) sind Kinder mit einer inkonsequenten phonologischen Störung nicht in der Lage, dasselbe Wort immer (konsequent) in gleicher Form auszusprechen. Bittet man ein Kind, dieselben 25 bis 30 Wörter innerhalb einer Therapiesitzung dreimal zu benennen, und realisiert das Kind mindestens 40 % dieser Wörter inkonsequent, wird von einer inkonsequenten phonologischen Störung ausgegangen. Inkonsequent bedeutet, dass mindestens eine der Äußerungen von den anderen beiden Äußerungen abweicht. Phonetische Abweichungen und Abweichungen grammatikalischer Art, z. B. eine Pluralbildung, werden hierbei ignoriert. Je nach Analysevorgehen gilt dies auch für auftretende altersgemäße phonologische Prozesse (z. B. Katze, Tatse). Neben dem Faktor Inkonsequenz zeichnen sich Kinder mit einer inkonsequenten phonologischen Störung durch weitere Faktoren aus, die sie somit eindeutig von Kindern mit verbaler Entwicklungsdyspraxie (Kap. 2.3.5), deren Kernsymptom ebenfalls die Wortrealisationsinkonsequenz ist, unterscheiden: Sie zeigen im Benennen deutlich bessere Leistungen als im spontanen Sprechen, zeigen keine oro-motorischen Auffälligkeiten, insbesondere keine Suchbewegungen. Sie haben meist ein (fast) altersgemäßes Phoninventar, d. h. eine hohe Stimulierbarkeit für die Phone der Muttersprache, zeigen vielfältige Silbenstrukturen und keine prosodischen Auffälligkeiten (Dodd et al. 2006a).

phonological assembly Dodd und Kollegen (Dodd / McCormack 1995, Dodd et al. 2006, Crosbie et al. 2005) gehen von einem Problem auf der Ebene der „phonological assembly“ aus. Sie definieren dies als die Unfähigkeit, Phoneme, die für ein Wort gebraucht werden, korrekt auszuwählen und diese in die korrekte Reihenfolge zu bringen. Im Sprachverarbeitungsmodell von Stackhouse / Wells (1997) kann dies am ehesten mit einem Defizit auf der Ebene des motorischen Programmierens angesiedelt werden, was dazu führt, dass die Kinder auch keine motorischen Programme für hochfrequente kurze Wörter aufbauen können (Abb. 5). Dies erklärt sich unter anderem dadurch, dass Kinder mit einer inkonsequenten phonologischen Störung ein deutlich eingeschränktes Arbeitsgedächtnis zeigen (Dodd et al. 2006). Bei Überprüfungen der verschiedenen Ebenen des Sprachverarbeitungsprozesses ist es diesen Kindern möglich, alle Aufgaben korrekt zu lösen, solange die Stimuli phonologisch wenig komplex und insbesondere kurz sind. Bei steigender Länge oder Komplexität tritt deutlich ein Wortlängeneffekt zutage. Des Weiteren zeigen die Kinder große Schwierigkeiten des Eigenhörens.

Die inkonsequente phonologische Störung tritt sehr selten auf. Ca. 3 bis 5 % aller Kinder mit Aussprachestörungen sind hiervon betroffen (Fox / Dodd 2001). Aufgrund der Seltenheit konnten bisher nur bei sehr wenigen Kindern ätiologische Faktoren erhoben werden. Bei einer Untersuchung an neun Kindern konnten bei sieben Kindern Schwierigkeiten unter der Geburt oder während der Schwangerschaft festgestellt werden (Fox et al. 2002). Damit unterschied sich diese Gruppe an Aussprachestörungen signifikant von den anderen Gruppen und ebenfalls von nichtsprachauffälligen Kindern im Hinblick auf diesen Faktor. Eine minimale Hirnschädigung könnte verantwortlich für die Ausprägung dieser Störung sein. Bislang existieren allerdings keinerlei Nachweise in diese Richtung.

2.3.5 Verbale Entwicklungsdyspraxie

Die verbale Entwicklungsdyspraxie (VED, anglo-amerikanisch: CAS = childhood apraxia of speech) wurde zuerst von Hadden (1891), aber insbesondere von Morley (1965) beschrieben. Sie gilt laut Davis et al. (1998) als die häufigste Fehldiagnose der Logopädie. Bis heute werden z. T. ihre Existenz, aber vor allem anzusetzende diagnostische Kriterien in der Literatur umstritten diskutiert. Daher ist es nicht ungewöhnlich, wenn erfahrene Kliniker bei ein und demselben Kind nicht notwendigerweise zu einer identischen Diagnose insbesondere dahingehend, ob es sich um eine verbale Entwicklungsdyspraxie handelt oder nicht, kommen (Davis et al. 1998). Die verbale Entwicklungsdyspraxie ist als eine sehr seltene Form der Aussprachestörung anzusehen. Laut Shriberg (1994) sind ca. 3 bis 5 % aller Kinder mit Aussprachestörung von ihr betroffen. Bei Kindern mit genetischen Syndromen ist die Auftretenshäufigkeit allerdings größer.

Das Komitee für verbale Entwicklungsdyspraxie der American Speech Language Hearing Association (ASHA 2007) empfiehlt folgende Definition für die verbale Entwicklungsdyspraxie:

“Childhood apraxia of speech (CAS) is a neurological childhood (pediatric) speech sound disorder in which the precision and consistency of movements underlying speech are impaired in the absence of neuromuscular deficits (e. g., abnormal reflexes, abnormal tone). CAS may occur as a result of known neurological impairment, in association with complex neurobehavioral disorders of known or unknown origin, or as an idiopathic neurogenic speech sound disorder. The core impairment in planning and / or programming spatiotemporal parameters of movement sequences results in errors in speech sound production and prosody” (ASHA 2007, definitions).

Kernsymptome Die VED wird in der Regel als ein Symptomkomplex beschrieben, so dass nur bei einer Summe gleichzeitig auftretender Symptome von einer verbalen Entwicklungsdyspraxie ausgegangen werden sollte. Zu den Kernsymptomen zählen (z. B. Ozanne 2005):

1. hochgradig inkonsequente Wortrealisation,

2. unvollständiges Phoninventar,

3. vielfältige unsystematische Auslassungs- und Ersetzungsprozesse,

4. auffällige Prosodie,

5. oro-motorische Schwierigkeiten, insbesondere bei Sequenzierungsübungen (Diadochokinese),

6. Suchbewegungen,

7. schlechtere willkürliche als unwillkürliche Sprechmotorik und

8. Teilsymptom einer SSES.


Der technische Bericht (technical report) des Komitees für verbale Entwicklungsdyspraxie der American Speech Language Hearing Society summiert den aktuellen Wissenstand der Forschung im Hinblick auf die Ursachen und Störungsebenen: ASHA – American Speech Language Hearing Association (2007): Childhood Apraxia of Speech. In: www.asha.org/policy, 25.1.2017

2.3.6 Phonetisch-phonologische Störungen bei mehrsprachigen Kindern

Manche Kinder zeigen Schwierigkeiten in ihrer Aussprachefähigkeit, unabhängig davon, ob sie eine, zwei oder mehrere Sprachen sprechen (Battle 2012). Nach gängiger Lehrmeinung begünstigt das Vorliegen von Mehrsprachigkeit bei Kindern das Auftreten einer Aussprachestörung jedoch nicht (Kannengieser 2015). Da es sich bei Aussprachestörungen um Schwierigkeiten während des phonologischen Erwerbs und Problemen auf Ebenen des Sprachverarbeitungssystem handelt, ist nicht davon auszugehen, dass das Erlernen einer jeweiligen Sprache einen Einfluss darauf hat, ob ein Kind eine Aussprachestörung entwickelt oder nicht.

Sprachenunabhängigkeit Das bedeutet, das Auftreten einer Aussprachestörung sollte sprachenunabhängig sein. Fox-Boyer / Salgert (2014) gehen daher von der gleichen Prävalenzrate von 5 bis 16 % einer Aussprachestörung bei mono- wie auch multilingualen Kindern aus. Es können im Erwerb der Aussprache beider Sprachen Unterschiede auftreten, je nachdem ob ein sukzessiver oder ein simultaner Zweitspracherwerb vom Kind durchlaufen wird (Kannengieser 2015). Es kann auf phonetischer Ebene in beiden Sprachen zu einem Sigmatismus oder (nur in einer Sprache) zu anderen Lautfehlbildungen kommen, die evtl. von Sprachtherapeuten in der Erstsprache des Kindes schwierig zu erkennen sind. In einem systematischen Review von Hambly und Kolleginnen konnte festgestellt werden, dass mehrsprachige Kinder mit oder ohne Aussprachestörungen generell eher atypische Lautsubstitutionen und Elisionen zeigen (Hambly et al. 2013). Laut Dodd (2005) liegt eine Aussprachestörung bei einem bilingualen Kind dann vor, wenn sie in beiden Sprachen diagnostiziert werden kann. Tatsächlich gibt es in der Literatur Darstellungen von Einzelfällen, bei denen in beiden Sprachen die gleiche Art von Aussprachestörung diagnostiziert wurde. Kohortenuntersuchungen können diese klareren Diagnosestellungen nicht für alle Kinder bestätigen: Albrecht et al. (in Vorbereitung) konnten z. B. anhand einer Stichprobe von 84 türkisch-deutschsprachigen Kindern zeigen, dass die eindeutige Zuweisung zu den Kategorien regelrechte Entwicklung vs. Aussprachestörung für einen Großteil der Kinder schwierig war. Eine Gruppe von 15 Kindern zeigte bspw. nur in einer Sprache atypische phonologische Prozesse, während die andere Sprache als unauffällig zu bewerten war. Des Weiteren gab es Kinder, die nur in einer Sprache verzögerte Prozesse zeigte, aber nicht in der anderen, oder aber in der anderen Sprache Prozesse, die als pathologisch zu werten sind. Daher muss davon ausgegangen werden, dass die Diagnose einer Aussprachestörung bei bilingualen Kindern nicht immer einfach zu stellen ist.


Fox-Boyer, A., Salgert, K. (2014): Erwerb und Störungen der Aussprache bei mehrsprachigen Kindern. In: Chilla, S., Haberzettl, S. (Hrsg.): Handbuch Spracherwerb und Sprachentwicklungsstörungen (Mehrsprachigkeit). Elsevier, München, 109-121

Fox, A. V., Ünsal, F. (2002): Lautspracherwerb bei zweisprachigen Migrantenkindern. Forum Logopädie 3, 10-15

Zusammenfassung

Kinder mit Aussprachestörungen stellen die größte Gruppe innerhalb der Kinder mit Auffälligkeiten der Sprachentwicklung dar. Sie sind allerdings keine homogene Gruppe, sondern unterscheiden sich im Hinblick auf ihre Ätiologie, den Schweregrad der Aussprachestörung und ihre Symptomatik. Aus psycholinguistischer Sicht betrachtet zeigen sie unterschiedliche Störungsebenen im Sprachverarbeitungsprozess. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, sie aus dem Blickwinkel eines Klassifikationsmodells zu betrachten, das diese Störungsebenen berücksichtigt. Das vorliegende Kapitel bezieht sich daher auf das Klassifikationsmodell von Dodd (1995; 2005).

Sprachtherapie mit Kindern

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