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Betrachtet man die internationale Debatte darüber, was im Unterricht direktiv vermittelt werden darf, so stößt man auf zumindest vier unterschiedliche Kriterien. Das erste Kriterium besagt, dass in der Schule alles, was in der Gesellschaft tatsächlich umstritten ist, als kontrovers behandelt werden sollte. Dieses verhaltensbezogene (behavioral) Kriterium ist problematisch, weil es Personen mit beliebig abwegigen Auffassungen das Recht einräumt, etwas als kontrovers zu deklarieren. Dies könnte etwas für die Leugnung des Holocaust gelten oder für Ansichten über den Klimawandel oder die Coronakrise, die mit dem Stand der Wissenschaft unvereinbar sind. Jede haltlose Verschwörungstheorie müsste im Klassenzimmer ernstgenommen werden und dürfte nicht direktiv zurückgewiesen werden.

Das epistemische Kriterium, wie es insbesondere von Michael Hand (2008) vertreten wird, setzt hier ein: Demnach sollen im Unterricht jene Auffassungen direktiv vertreten werden, die durch Argumente und Evidenz begründet sind. Hand geht davon aus, dass gewisse Fragen epistemisch geklärt sind und deshalb im Unterricht nicht offengehalten werden sollen. Sein Hauptinteresse gilt moralischen Fragen, aber das Kriterium lässt sich ebenso auf Aussagen über Fakten beziehen. Hand scheint es für unmittelbar einleuchtend zu halten, dass epistemisch geklärte Auffassungen unter Angabe der relevante Gründe vermittelt werden dürfen: Was sollte dagegen sprechen, das zu vertreten, was wahr ist?

Darüber hinaus entwickelt Hand ein Argument für das epistemische Kriterium, das sich auf die Bedeutung rationalen Denkens und Handelns für das menschliche Wohlergehen bezieht (vgl. Hand 2008, S. 218). Das Argument lautet, dass es die Entwicklung rationaler Einstellungen – und damit letztlich das Wohlergehen der Lernenden – untergräbt, wenn begründete Auffassungen im Unterricht nicht direktiv vertreten werden: Nimmt die Lehrperson in allen Fällen eine epistemisch neutrale Haltung ein und behandelt selbst offensichtliche Wahrheiten als kontrovers, können Lernende demnach die Haltung entwickeln, dass Argumente und Evidenz nicht von entscheidender Bedeutung sind: Selbst wenn alles für eine bestimmte Auffassung spricht, so die vermittelte Botschaft, kann man immer noch anderer Meinung sein. Ein Unterricht, der auf die Förderung der Rationalität ausgerichtet ist, sollte deshalb nach Hand nicht epistemisch neutral bleiben.

Die Diskussion um Hands Ansatz bezieht sich unter anderem auf die Frage, ob rational begründete Positionsbezüge der Lehrperson für die Entwicklung rationaler Haltungen und Fähigkeiten unabdingbar sind (dazu Warnick & Spencer 2014, Gregory 2014, Tillson 2017). Es geht hier also nicht um das angestrebte Ziel, die Förderung von Rationalität, sondern um den instrumentellen Zusammenhang zwischen der Unterrichtskommunikation und diesem Ziel. Beispielsweise wird eingewandt, dass sich Rationalität fördern lässt, wenn man als Lehrperson keine inhaltlichen Wertauffassungen vermittelt, sondern die Lernenden direktiv in prozedurale rationale Praktiken einführt (vgl. Gregory 2014).

Ein weiterer Einwand besagt, dass das epistemische Kriterium die politische Debatte im Schulzimmer zu stark einschränkt, da politisch relevante Positionen existieren, die epistemischen Ansprüchen nicht genügen, es aber doch verdienen, kontrovers diskutiert zu werden. Diana Hess und Paula McAvoy (2015, S. 168–169) haben vor diesem Hintergrund das Kriterium der politischen Authentizität entwickelt, gemäss dem nicht alle gesellschaftlich kontroversen Fragen als kontrovers zu behandeln sind, aber zumindest diejenigen, die Eingang in den politischen Diskurs gefunden haben. Dieses Kriterium lässt viel Spielraum für problematische moralische oder politische Positionen und abwegige empirische Auffassungen – diese müssen im Klassenzimmer ernstgenommen werden, sobald sie den politischen Mainstream erreichen.

Im Weiteren wird das sogenannte politische Kriterium diskutiert. Dieses besagt gemäß gängigen Darstellungen, dass diejenigen moralischen oder politischen Gehalte direktiv vermittelt werden sollen, die sich aus Grundwerten oder -prinzipien ergeben, die im liberaldemokratischen Kontext allgemein anerkannt sind. Drerup (2021) vertritt dieses Prinzip in Verbindung mit einem epistemischen Prinzip, das in seiner Fassung im Wesentlichen in der Wissenschaftsorientierung des Unterrichts begründet ist, sich zugleich aber auch auf normative und politische Fragen beziehen soll.

Hand (2008, S. 227) wendet gegen das politische Kriterium ein, die Tatsache eines gesellschaftlichen Konsenses in bestimmten Wertfragen biete keine Rechtfertigung dafür, die entsprechenden Gehalte direktiv zu vermitteln: In der Tat ist faktische Einigkeit keine Garantie für epistemische Korrektheit. Jedoch ist auch zu fragen, ob epistemische Korrektheit für sich genommen bereits als Rechtfertigung für die schulische Vermittlung von Gehalten dienen kann. Unterricht an öffentlichen Schulen, so könnte man argumentieren, ist ein Aspekt staatlichen Handelns und muss wie andere Formen politischer Machtausübung speziell gerechtfertigt werden. Hand wendet sich gegen diese Sichtweise, da er der Auffassung ist, dass rationalistische Formen der Moralerziehung nicht als Machtausübung zu sehen sind und deshalb nicht weiter gerechtfertigt werden müssen: Direktiver Unterricht, der Lernende mit Gründen zu überzeugen versucht, ist nach Hand eine Art rationaler Beratung (vgl. Hand 2008, S. 224). Dies verkennt, dass schulischer Unterricht, auch wenn er rational ausgerichtet ist, auf asymmetrischen politischen und schulischen Strukturen beruht: Nicht nur werden Lernende politisch zum Unterricht verpflichtet, die Lehrperson hat zudem weitreichende Verfügungsmacht über sie. Gerade jüngere Schülerinnen und Schüler werden die ihnen vermittelten moralischen Gehalte möglicherweise nicht deshalb akzeptieren, weil sie die präsentierten Gründe einsehen, sondern eher, weil sie von der Lehrperson abhängig sind. Dazu kommt ihre kognitive Unterlegenheit, die sie geneigt macht, der als Expertin auftretenden Lehrperson zu glauben.

In diesem Zusammenhang kann die epistemische Berechtigung (oder Autorität), eine Aussage zu machen, von der pädagogischen Autorität unterschieden werden – d. h. der Berechtigung, den Gehalt der Aussage pädagogisch zu vermitteln. Letztere muss im Rahmen der öffentlichen Schule an politische Erwägungen – d. h. an Fragen politischer Legitimität – zurückgebunden werden. Die Frage der Legitimität betrifft die Rechtfertigung politischer Machtausübung (vgl. Rawls 1993).

Wie also soll pädagogisch und politisch entschieden werden, was vermittelt werden soll oder darf? Die Frage ist, ob man hier nicht doch wieder auf das epistemische Kriterium zurückgreifen muss: Demnach wäre es legitim, diejenigen Gehalte zu vermitteln, die epistemisch geklärt (bzw. wahr oder richtig) sind. Die Lehrperson als (moralische) Expertin würde diese Gehalte unter Angabe guter Gründe weitergeben. Man könnte annehmen, dass es sich hierbei um objektive Gründe handeln wird, die von den Lernenden ungeachtet ihrer subjektiven Einstellungen akzeptiert werden sollten. In politischer Perspektive ist diese Sichtweise problematisch, weil umstritten ist, welche Gründe objektiv gültig sind. Auch besteht kein Konsens darüber, wer als moralischer Experte zu gelten hat (vgl. Estlund 2008, S. 4). In der politischen Philosophie wird die Idee diskutiert, wonach politische Legitimität nicht an objektive, sondern »öffentliche« Gründe gebunden sein soll (vgl. Peter 2019): Demnach sind diejenigen politischen Maßnahmen legitim, die öffentlich rechtfertigbar sind (vgl. Rawls 1993, S. 137). Öffentliche Rechtfertigbarkeit ist sowohl von objektiver Richtigkeit als auch von faktischer Übereinstimmung zu unterscheiden. Auch wenn gewisse Auffassungen objektiv richtig sind, so die Idee, werden Meinungsverschiedenheiten über sie weiterbestehen. Dies gilt insbesondere für religiös-weltanschauliche Dispute: Die Rechtfertigung politischer Maßnahmen soll deshalb nicht auf umstrittene weltanschauliche Positionen abstellen, sondern in dieser Hinsicht neutral sein.

Zugleich ist klar, dass es im moralischen Bereich kaum Auffassungen gibt, die tatsächlich unbestritten sind. Öffentliche Rechtfertigung muss folglich von vornherein gewisse politische oder weltanschauliche Positionen ausschließen, z. B. rassistische Auffassungen, nach denen bestimmte Gruppen von Menschen geringeren moralischen Wert haben als andere. Am öffentlichen Rechtfertigungsprozess können nur diejenigen teilnehmen, die andere in basaler Weise als Gleiche anerkennen und bereit sind, sich unter Ausklammerung kontroverser Auffassungen an der Entwicklung weitherum akzeptabler Regelungen zu beteiligen.

Dieses Modell, das seine Wurzeln im sogenannten politischen Liberalismus hat (vgl. Larmore 1988 und 1990; vgl. Rawls 1993; vgl. Nussbaum 2011), unterscheidet also drei Arten von Auffassungen: Neben den politisch inakzepablen Positionen und denjenienigen Auffassungen, über die ein Konsens erzielt werden kann, gibt es Auffassungen, die im liberaldemokratischen Kontext als akzeptabel gelten, obwohl sie umstritten sind. Die Rede ist auch von einem vernünftigen Dissens (reasonable disagreement) in weltanschaulichen oder politischen Fragen. Überträgt man diese Sichtweise auf die Frage des direktiven Unterrichtens, kommt man zum Schluss, dass öffentlich rechtfertigbare Auffassungen vermittelt werden dürfen, während inakzeptable Positionen direktiv zurückgewiesen werden sollen vgl. (Giesinger 2021). Die »vernünftigerweise umstrittenen« Auffassungen sollen nicht als falsch abgestempelt, gleichzeitig aber auch nicht vermittelt werden.

Betrachten wir nochmals das epistemische Kriterium. Insofern sich dieses auf objektive Wahrheiten oder Gründe bezieht, unterscheidet es sich in seinem Geltungsbereich klar vom politischen Kriterium: Man wird dann davon ausgehen, dass es im moralischen Bereich stets objektiv gültige Antworten gibt, über die man sich nicht vernünftigerweise streiten kann. Hand vertritt jedoch nicht diese Sichtweise, sondern übernimmt die Idee vernünftiger Meinungsverschiedenheiten aus der politischen Philosophie. Im Anschluss an Rawls schreibt er: »Human beings, exercising their powers of reason in the absence of coercion, will come to different conclusions on matters of morality because the relevant evidence and argument is subject to more than one plausible interpretation« (Hand 2018, S. 5). Dies ist aus Hands Sicht von unmittelbarer Bedeutung für das Problem moralischer Erziehung: Diese sollte sich in ihren direktiven Formen auf moralische Auffassungen beschränken, über die man nicht vernünftigerweise unterschiedlicher Meinung sein kann.

Folgt man dieser Ausdeutung des epistemischen Kriteriums, so unterscheidet es sich hinsichtlich seines Geltungsbereichs nicht wesentlich vom politischen Kritierium. Aus beiden Kriterien ergibt sich etwa, dass religiöse Auffassungen, die sich im Rahmen liberaldemokratischer Vorgaben bewegen, nicht direktiv vertreten werden sollen, grundlegende moralisch-politische Prinzipien hingegen schon.

Die Debatte um Kontroversität und direktives Unterrichten setzt in diesem Sinne den Rahmen für Überlegungen dazu, ob Lehrer ihren Meinungen mitteilen sollen oder dürfen.

Ungeachtet der Begründung oder des Geltungsbereichs des jeweiligen Kriteriums beziehen sich diese Überlegungen auf Auffassungen, die weder direktiv vermittelt noch zurückgewiesen werden dürfen. Gemäß dem politischen Kriterium (in seiner politisch-liberalen Fassung) sowie Hands Version des epistemischen Kriteriums handelt es sich dabei um Sichtweisen, die vernünftigerweise umstritten sind.

Im Einzelnen ist näher zu diskutieren, welche Sichtweisen dies betrifft. Nach Hand (2007) etwa gehört die Frage der moralischen Beurteilung homosexueller Handlungen nicht in den Bereich dessen, was vernünftigerweise kontrovers ist. Fragen der Suizidbeihilfe und Sterbehilfe sind nach meiner Einschätzung in diesem Bereich anzusiedeln: Selbst wenn religiöse Argumente ausgeklammert werden, ergeben sich gute Gründe für oder gegen die jeweiligen Praktiken.

Aus der Debatte um direktive Vermittlung lässt sich jedoch nicht ableiten, ob Lehrpersonen zu diesen und ähnlichen Themen ihre Meinung sagen sollen oder nicht. Man kann aber festhalten, dass das Mitteilen vernünftigerweise kontroverser Auffassungen dann problematisch ist, wenn es einem Vermitteln gleichkommt.

Dürfen Lehrer ihre Meinung sagen?

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