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3.2 Freiheit, Gleichheit und Solidarität
ОглавлениеEine pädagogische Interpretation des Kontroversitätsgebots hätte zu berücksichtigen, dass ein erziehender Unterricht mit Bildungsanspruch darauf gerichtet ist, Heranwachsende für ein Leben in Selbstbestimmung freizusetzen. Geht man davon aus, dass die selbstbestimmte Lebensführung einen Freiraum benötigt, der im Miteinanderumgehen von Menschen nicht notwendigerweise gegeben ist, sondern allererst hergestellt und stabilisiert werden muss, so folgt hieraus, dass es verkürzt wäre, Bildung allein als die Entwicklung von Selbstbestimmungsfähigkeit zu begreifen. Erziehender Unterricht wäre darüber hinaus an den Anspruch zu knüpfen, Heranwachsende hineinzuziehen in »the ongoing, lifelong challenge to bring their freedom into dialogue with the world«, und zwar »in such a way […] that my capacity to take initiative does not destroy the opportunities for others to take initiative, to bring their beginnings into the world as well« (Biesta 2018, S. 41f.). Dieser Anspruch beruht auf der Annahme, »that it is only under the condition of plurality that action for all – and hence subject-ness for all – is possible« (Biesta 2017b, S. 11), was freilich selbst wiederum voraussetzt, dass überhaupt ein Interesse daran besteht, dass »everyone has the opportunity to act and exist as subject« (ebd.). In Beschreibungen eines erziehenden Unterrichts mit Bildungsanspruch wird von dieser Voraussetzung ausgegangen, weshalb Unterricht in diesem Sinne immer auch darauf bezogen ist, Schüler/innen darin zu unterstützen, eine Haltung zu entwickeln, die im Kern darin besteht, auch anderen Menschen die Freiheit einzuräumen bzw. allererst zu eröffnen, ihr Leben selbstbestimmt zu führen. Der Anspruch eines erziehenden Unterrichts, Bildung zu ermöglichen, darf in diesem Sinne nicht individualistisch missverstanden werden, sondern schließt mit ein, Heranwachsenden dabei zu helfen, nicht nur ein gelingendes Leben zu führen, sondern auch Verantwortung für ein gelingendes Zusammenleben zu übernehmen.
Gert Biesta hat vorgeschlagen, die normative Bezugsgröße, von der hier die Rede ist, als eine Ausrichtung an den Werten der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität zu präzisieren. Die Idee eines erziehenden Unterrichts mit Bildungsanspruch steht demzufolge mit der Idee einer demokratischen Form des Zusammenlebens in einem irreduziblen Zusammenhang. Entscheidend ist hierbei, dass die besagte Werteorientierung nicht sinnvoll als eine Werteorientierung neben anderen verstanden werden kann, sondern vielmehr als die Bedingung der Möglichkeit dafür begriffen werden muss, dass Menschen überhaupt Spielräume haben, um eine eigene Werteorientierung entwickeln und ihr Leben im Lichte dieser Werteorientierung führen zu können. »Democracy is not just about any set of values, but is about a set of values that provides a ›framing‹ for the question of how we can live together in plurality on the assumption that plurality is in principle desirable« (Biesta 2017a, S. 16). Die eigene Lebensform selbst zu wählen, setzt eine Form des Zusammenlebens voraus, in der Menschen sich wechselseitig die Freiheit zugestehen, ihr Leben selbstbestimmt zu führen. Von daher ist ein Zusammenleben in Pluralität auf eine ›kritische Masse‹ von Menschen angewiesen, die dazu bereit und fähig sind, sich selbst zu begrenzen und anderen Menschen die Freiheit einzuräumen, ihr Leben im Lichte einer eigenen Werteorientierung zu führen. Weil aber die Möglichkeit von Menschen, ihr Leben selbstbestimmt zu führen, aufgrund von bestimmten Umständen beeinträchtigt sein kann, verlangt ein Votum für »Gleichfreiheit« (Balibar 2012) zugleich nach einem Votum für Solidarität.
Die Freiheit, auf die ein erziehender Unterricht mit Bildungsanspruch bezogen ist, ist dementsprechend nicht zu verstehen als die Freiheit, das zu tun, was man will. In einem entsprechend ausgerichteten Unterricht werden Schüler/innen deshalb auch nicht dazu aufgefordert, sich irgendwie zu einem Sachverhalt zu positionieren. Vielmehr geht es darum, diesen dabei zu helfen, die Fähigkeit zu entwickeln, Urteile zu bilden, die in spezifischer Hinsicht rechtfertigbar sind – nämlich »in light of the democratic values of equality, liberty and solidarity« (Biesta 2017a, S. 28). Fasst man Freiheit in diesem Sinne nicht vorschnell als »neo-liberal-freedom«, sondern eben als »democratic freedom« auf (Biesta 2017b, S. 79), so erfordert dies in der Konsequenz auch eine spezifische Auslegung des Kontroversitätsgebots. Die These lautet: Die Werteorientierung, die für einen erziehenden Unterricht mit Bildungsanspruch maßgeblich ist, verlangt nach einer spezifischen Umgrenzung der Sachverhalte, die im schulischen Unterricht nichtdirektiv thematisiert werden sollten.
Offenkundig gibt es in modernen Gesellschaften Kontroversen, die nur dadurch entstehen und stabil gehalten werden, dass Positionen vertreten werden, die mit der Werteorientierung eines erziehenden Unterrichts konfligieren. Es wäre nun geradezu widersinnig, Schüler/innen auf der einen Seite dazu aufzufordern, eigene Positionen unter Berücksichtigung des Freiheitsanspruchs anderer Menschen zu entwerfen, auf der anderen Seite aber Sachverhalte als offen zu thematisieren, im Falle derer eine öffentliche Kontroverse nur deshalb besteht, weil Positionen eingenommen werden, die den Anspruch der Gleichfreiheit unterlaufen. Gehen wir davon aus, dass Bildung eine Entwicklung der Haltung impliziert, allen Menschen die gleiche Freiheit zuzugestehen, ihr Leben im Lichte einer eigenen Werteorientierung zu führen, so ist es schlichtweg nicht begründbar, im Kontext eines erziehenden Unterrichts Positionen, die diesem Anspruch entsprechen, auf einer Stufe mit Positionen zu thematisieren, die den besagten Anspruch unterlaufen, d. h. Menschen nicht die gleiche Freiheit einräumen, eine eigene Werteorientierung zu finden, zu leben und weiterzuentwickeln. Letztere können im Kontext schulischen Unterricht nicht als gleichberechtigt behandelt werden, ohne damit den Bildungsanspruch ad absurdum zu führen. Wollte man nämlich für die Position votieren, dass tatsächlich alles, was in einer Gesellschaft kontrovers diskutiert wird, auch im Kontext eines erziehenden Unterrichts als kontrovers thematisiert werden sollte, so müsste man rechtfertigen, warum überhaupt für eine Erziehung als Ermöglichung von Bildung votiert wird, wenn man doch gleichzeitig dazu bereit ist, den damit verbundenen Anspruch, jeden Einzelnen als Selbstzweck zu betrachten und zu behandeln, preiszugeben oder zumindest zu relativieren, indem Positionen als gleichberechtigt behandelt werden, die mit einer solchen Orientierung inkompatibel sind. Das Kontroversitätsgebot verlangt aus pädagogischer Warte nicht nur, dass bestimmte öffentliche Kontroversen im Kontext schulischen Unterrichts als kontrovers thematisiert werden. Das Kontroversitätsgebot gebietet es darüber hinaus auch, dass in diesem Zusammenhang bestimmte Positionen entweder außen vor bleiben oder aber der Kritik ausgesetzt werden.