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Оглавление1 Definition der Orthogeriatrie
Dieter C. Wirtz und Bernd Kladny
»Älter werden an sich ist keine Erkrankung, die es zu behandeln gilt, sondern eine gesellschaftliche Herausforderung, der die moderne Medizin in Deutschland durch neue, seniorenspezifische Versorgungsformen entgegnen kann und muss. Geriatrische Patienten sind keine alten Erwachsenen, sondern stellen ein eigenes Patientengut dar.«
(Franz Müntefering, Vizekanzler a. D. der Bundesrepublik Deutschland; Vorsitzender der BAGSO – Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen e. V.)
Bis heute gibt es keine klare und einheitliche Definition von orthogeriatrischen Patienten. Die nationale als auch internationale Literatur liefert unterschiedliche Ansätze hierzu. Im internationalen Sprachgebrauch ist die Definition des orthogeriatrischen Patienten (»orthogeriatric«) nahezu ausschließlich traumatologisch belegt, zum größten Teil sogar ausschließlich bezogen auf ältere Patienten (mind. 70 Jahre) mit prox. Femurfrakturen bzw. Schenkelhalsfrakturen. Patienten, die nicht-traumatologisch bedingte Erkrankungen des Bewegungsapparates vorweisen, werden in der Regel nicht als orthogeriatrische Patienten, sondern als ältere (»elderly«) oder gebrechliche (»frail«) Patienten bezeichnet (Sabharwal und Wilson 2015; Hoogendijk et al. 2019).
Allen Definitionen ist jedoch gemeinsam, dass es sich bei diesen älteren Patienten um eine Hochrisikogruppe handelt, bei der vergleichsweise geringfügige Veränderungen im Gesundheitszustand zu wesentlichen Beeinträchtigungen bisher alltagsrelevanter Aktivitäten führen (Hoogendijk et al. 2019; Pilotto et al. 2020). Neben dem Alter (≥ 70 Lebensjahre) gilt für die Einordnung in das geriatrische Patientengut das Vorliegen von sog. geriatrietypischen Multimorbiditäten. Die in Deutschland übliche Definition einer geriatrietypischen Multimorbidität erfolgt auf Basis der Ausarbeitungen der deutschen geriatrischen Fachgesellschaften und den Ergebnissen der sog. Essener Konsensus-Konferenz (2003) mit Festlegung von insgesamt 13 geriatrietypischen Multimorbiditätserkrankungen (GTMK) ( Tab. 1.1). Entsprechend dieser Konsensus-Empfehlung gilt ein Patient mit 70 Jahren und älter dann als geriatrisch, sobald mindestens zwei GTMK nachweisbar sind und damit ein erhöhter Versorgungsbedarf gegeben ist (Borchelt et al. 2004).
Eine andere – in der Literatur durchaus gängige – Definition des geriatrischen Patienten berücksichtigt allein das biologische Alter, unabhängig von dem Vorliegen einer geriatrietypischen Multimorbidität. Hier wird das Alter von mind. 80 Jahren festgelegt, da in dieser Altersgruppe aufgrund der alterstypisch erhöhten Vulnerabilität per se mit einem erhöhten Risiko für schwere Krankheitsverläufe und dem Auftreten von Komplikationen sowie dem Verlust der Autonomie mit Verschlechterung des Selbsthilfestatus ausgegangen werden muss (Sieber 2007).
Die hier angeführte Definition eines orthogeriatrischen Patienten orientiert sich – bezogen auf die Einstufung als geriatrischer Patient – an diesen beiden Festlegungen. Dabei muss zur Einordnung eines orthogeriatrischen Patienten neben der o. g. Zuordnung zum geriatrischen Patientengut eine orthopädische Hauptdiagnose als führende Behandlungsdiagnose (stationär und/oder ambulant) vorliegen.
Merke:
Orthogeriatrische Patienten sind definiert durch eine orthopädische Hauptdiagnose, aufgrund derer sie behandelt werden, und entweder einem Alter von mindestens 80 Jahren oder 70 Jahren und älter mit gleichzeitigem Vorliegen von mindestens 2 GTMK.
Tab. 1.1: Definition der geriatrietypischen Multimorbidität (Borchelt et al. 2004, S. 6)
MerkmalkomplexDiagnose-Kategorien
Wesentlicher Unterschied zum alterstraumatologischen Patientengut ist beim orthogeriatrischen Patienten in der Regel das Fehlen einer notfallmäßigen Behandlungsnotwendigkeit, so dass insbesondere bei planbaren Eingriffen ein präinterventioneller Zeitraum besteht. Gerade dieser sollte und muss multiprofessionell genutzt werden, um die perioperative Komplikationsrate zu senken und das Outcome zu verbessern (Wirtz und Kohlhof 2019).
Im besten Fall bleibt der Patient nur temporär durch die orthopädische Hauptdiagnose bedingt ein orthogeriatrischer Fall. Führt die orthopädische Hauptdiagnose jedoch zu einem Verlust der Selbstständigkeit im Alltag bzw. zu dem Auftreten weiterer geriatrietypischer Komorbiditäten, so muss die orthopädische Erkrankung selbst als eigenständige Beeinträchtigung und Ursache der geriatrietypischen Multimorbidität berücksichtigt werden. Beispielsweise kann durch das Vorliegen einer Girdlestone-Situation bei einem älteren Patienten (älter als 70 Jahre), der bis dahin in seinem Alter weitestgehend selbstständig und nicht geriatrisch war, für die Dauer bis zur Reimplantation und Wiederaufnahme der Mobilisation ein signifikanter Verlust der Selbständigkeit auftreten, was die Definition des orthogeriatrischen Patienten erfüllt. Ebenfalls gilt zu berücksichtigen, dass – im Einklang mit den Ergebnissen der Essener Konsensus-Konferenz – ein hohes Komplikationsrisiko im Einzelfall auch ohne Vorliegen von mind. 2 zugeordneten Merkmalkomplexen bestehen kann und dementsprechend ein Patient als orthogeriatrisch eingestuft werden muss. Dies ist beispielsweise bei periprothetischen Infektionen mit begleitender Sepsis oder auch bei Vorliegen einer Spondylodiszitis der Fall.
Merke:
Ältere Patienten, die bis zur Behandlung aufgrund einer orthopädischen Erkrankung nicht geriatrisch eingestuft wurden, können entweder aufgrund des Verlustes der Selbständigkeit während und nach der orthopädischen Behandlung sowie auch aufgrund der Schwere der orthopädischen Erkrankung zum orthogeriatrischen Patienten werden.
Entscheidend für die erfolgreiche Behandlung der orthogeriatrischen Patienten ist – analog in der Behandlung der alterstraumatologischen Patienten – das Vorhandensein eines interdisziplinären Teams, das in der Lage ist, sowohl die orthopädische Erkrankung therapeutisch (konservativ und operativ) als auch die geriatrische Multimorbidität und damit bedingte erhöhte Vulnerabilität zu adressieren. Aus dem Bereich der Alterstraumatologie sind derartige Konzepte bereits sehr erfolgreich umgesetzt und wissenschaftlich belegt worden (Rapp et al. 2020). Für den orthogeriatrischen Patienten (mit der hier vorgestellten Definition) sollten ebenfalls Versorgungskonzepte wissenschaftlich aufgearbeitet werden, um evidenzbasiert die daraus zu generierenden Vorteile auch für das orthopädische Patientengut zu erzielen.
Literatur
Borchelt M, Pientka L, Wrobel N; Gemeinsame Arbeitsgruppe der Bundesarbeitsgemeinschaft der Klinisch-Geriatrischen Einrichtungen e. V., der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie e. V. und der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie e. V. (2004) Abgrenzungskriterien der Geriatrie. Version V1.3 mit Stand vom 16.3.2004. http://www.geriatrie-drg.de/public/docs/Abgrenzungskriterien_Geriatrie_V13_16-03-04.pdf, Zugriff am 09.07.2021.
Hoogendijk EO, Afilalo J, Ensrud KE, Kowal P, Onder G, Fried LP: Frailty: implications for clinical practice and public health. Lancet (2019): 394, 1365–1375.
Pilotto A, Custodero C, Maggi S, Polidori MC, Veronese N, Ferucci L: A multidimensional approach to frailty in older people. Ageing Res Rev (2020): 60, 101047.
Rapp K, Becker C, Todd C, Rothenbacher D, Schulz C, König HH, Liener U, Hartwig E, Büchele G. The Association Between Orthogeriatric Co-Management and Mortality Following Hip Fracture. An Observational Study of 58 000 Patients From 828 Hospitals. Dtsch Arztbl Int (2020): 117, 53-59.
Sabharwal S, Wilson H. Orthogeriatrics in the management of frail older patients with a fragility fracture. Osteoporos Int. (2015): 26(10), 2387-99.
Sieber CC. Der ältere Patient–wer ist das? Internist (Berl) (2007) 48(11), 1190, 1192-4.
Wirtz DC, Kohlhof H. The geriatric patient: special aspects of peri-operative management. EFORT Open Rev. (2019): 4, 240-247.