Читать книгу Zerreißproben - Группа авторов - Страница 17
ОглавлениеJan Schnellenbach
Schimpfwort (Neo-)Liberalismus?
Als ökonomischer und ideengeschichtlicher Begriff ist der Neoliberalismus eigentlich klar definiert (KOLEV 2017: 24-28). Er bezeichnet eine Phase der Theorieentwicklung, die in den 1920er-Jahren begann und die in der Bundesrepublik vor allem in den ersten beiden Jahrzehnten auch politisch einflussreich war. Der Neoliberalismus grenzte sich ab vom alten Laissez-Faire-Liberalismus, der nun oft auch etwas abschätzig als Paläoliberalismus bezeichnet wurde und eine wesentlich geringere Rolle für den Staat in der Wirtschaft sah.
Frühe Protagonisten des Neoliberalismus waren beispielsweise Franz Böhm, Walter Eucken, Friedrich A. von Hayek und Wilhelm Röpke. Diese vertraten in manchen Details durchaus unterschiedliche Positionen. Aber es einte sie die Einsicht, dass wirtschaftlicher Wettbewerb erstens aus verschiedenen Gründen wünschenswert ist und zweitens politische Voraussetzungen hat (SCHNELLENBACH 2021).
Wünschenswert ist Wettbewerb aus neoliberaler Sicht zunächst als ein Mechanismus zur Einhegung von Macht. Diese ist als wirtschaftliche Macht unmittelbar problematisch, weil sie zu Marktgleichgewichten führt, die nicht die statisch betrachtete gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt maximieren. Sie ist aber auch problematisch, weil sie Wahlmöglichkeiten reduziert, die Voraussetzung für individuelle Freiheit sind. Die Wahl zwischen Vertragspartnern zu haben, impliziert Freiheit, setzt aber auch Wettbewerb zwischen potenziellen Vertragspartnern voraus. Je mehr dieser Wettbewerb erodiert und Macht entsteht, umso mehr werden sowohl Freiheit als auch Wohlfahrt infrage gestellt.
Auch aus einer dynamischen Perspektive ist Wettbewerb wichtig. Theoretisch ist zwar unklar, ob mehr Wettbewerb stets mehr innovative Dynamik entfacht: Mit mehr Wettbewerb wird einerseits der temporäre Monopolgewinn reduziert, der erfolgreiche Innovationen belohnt, andererseits steigt der Druck, sich mit Innovationen von Wettbewerbern abzusetzen (SCHUMPETER 1942). Dies sind zwei gegenläufige Effekte. Aber empirisch wird inzwischen die Vermutung stark gestützt, dass intensiverer Wettbewerb die Innovationsneigung unter dem Strich positiv beeinflusst (SHU/STEINWENDER 2019). Die Erfolgsgeschichte des langfristigen Wirtschaftswachstums, die uns zu den Wohlstandsniveaus geführt hat, die wir inzwischen als selbstverständlich hinnehmen, verdankt sich letztendlich dem Wettbewerbsmechanismus.
Die Begründung, die neoliberale Denker dafür anführten, dass Wettbewerb wünschenswert ist, betrafen nicht nur im engeren Sinne ökonomische Ziele, sondern auch darüber hinaus gehende ethische Überlegungen. Individuelle Freiheit als zentrale Voraussetzung eines guten Lebens ist ohne Wettbewerb nicht zu haben: Wahlfreiheit als Konsument, der selbstbestimmte Abschluss eines Arbeitsvertrages, oder auch die Entscheidung, unternehmerisch zu handeln – all dies setzt eine Ordnung voraus, in der Markteintritt, Marktaustritt und der Wettbewerb unter Marktteilnehmern möglich sind.
Die zentrale Einsicht der Neoliberalen war aber, dass eine solche Wettbewerbsordnung nicht von selbst stabil bleibt. Sie wird von Kartellbildung ebenso bedroht, wie von rent-seeking (TOLLISON 2012), bei dem Unternehmen versuchen, die Politik dazu zu bringen, regulatorische Markteintrittsbarrieren zu errichten, um Marktmacht zu erhalten. Die Erhaltung von Wettbewerb ist deshalb selbst eine politische Aufgabe, und zwar die Aufgabe der Ordnungspolitik, die Spielregeln für die Märkte setzt.
Das neoliberale Programm wird im Gegensatz zum alten Laissez-faire-Liberalismus also gerade durch die (historisch gewachsene) Erkenntnis motiviert, dass der Staat aktiv werden muss, um eine funktionsfähige, liberale Wirtschaftsordnung zu erhalten. Auch die Bereitstellung öffentlicher Güter, die Regulierung von externen Effekten und die Finanzierung eines Sozialstaates gehören aus neoliberaler Sicht zu den Aufgaben des Staates. Dezidiert nicht dazu gehören jedoch beispielsweise Preismanipulationen oder die Errichtung von Marktzutrittsbarrieren, die einen funktionsfähigen Wettbewerb sabotieren.
Neoliberalismus B:
von der Ideengeschichte zur politischen Praxis
Die Verwendung des Begriffs des Neoliberalismus in der alltäglichen politischen Diskussion, aber oft auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen, hat ganz offensichtlich meist wenig mit dem oben skizzierten Verständnis zu tun. Das Neue am Neoliberalismus wird in dieser Variante nicht etwa, wie im Neoliberalismus A, relativ zum Paläoliberalismus gesehen, sondern relativ zu einer zuvor dominierenden, als progressiv verstandenen politischen Praxis. In seinen 1978 und 1979 am Collège de France gehaltenen Vorlesungen sah beispielsweise Foucault (2006) sowohl im deutschen Ordoliberalismus als auch in den liberalen Ansätzen der Chicago School eine Gegenbewegung gegen den New Deal Roosevelts und gegen die wohlfahrtsstaatlichen Reformen in Großbritannien im Anschluss an den Beveridge Report.
Aus der Perspektive derjenigen, die den Begriff im Sinne des Neoliberalismus B verwenden, erscheinen auch die 1960er- und 1970er-Jahre retrospektiv, und mehr oder weniger stark verklärt, als goldene Jahrzehnte einer sozialdemokratisch-progressiven Wirtschaftspolitik. Bis zum finalen Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods im Jahr 1973 herrschten zwischen den wichtigsten entwickelten Volkswirtschaften fixe Wechselkurse. Die keynesianische Konjunktursteuerung wurde in fast allen Ländern versucht und war ab 1967 mit der Verabschiedung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes auch in Deutschland offizielle Politik. Der Sozialstaat wurde in allen Industrieländern ausgebaut, wenn auch in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Über eine aktive Industriepolitik erfolgte eine staatliche Lenkung auch privater Investitionen.
Diese auf der linken Seite des politischen Spektrums sehr positiv bewerteten politischen Entwicklungen waren jedoch nicht lange stabil. Das System fixer Wechselkurse scheiterte an unterschiedlichen Interessen seiner Mitgliedsländer. Der Versuch der Konjunktursteuerung führte ebenso wie der Ausbau des Sozialstaates zu strukturellen Budgetdefiziten und schnell wachsenden öffentlichen Schuldenständen. Hohe, in vielen Ländern zweistellige jährliche Inflationsraten gingen mit steigender Arbeitslosigkeit einher. Und regulatorische Verkrustungen bremsten die Innovations- und Wachstumsdynamik.
Diese in jeder Hinsicht unbefriedigende Situation führte dazu, dass in vielen Industrieländern sozialdemokratische Regierungen schwere Wahlniederlagen erlitten. Carter, Callaghan und Schmidt wurden abgelöst durch Reagan, Thatcher und Kohl. Dieser in schwerwiegenden, realen Problemen der vorangegangenen sozialdemokratischen Politik begründete Umschwung der politischen Praxis hin zu einer wieder stärker auf Wettbewerb, begrenzte Staatstätigkeit und langfristiges Wachstum ausgerichteten Politik ist letztlich der Ursprung des Begriffsverständnisses als Neoliberalismus B. Hinter diesem steckt kein durchdachtes theoretisches Konzept, sondern ein politischer Reflex: Neoliberal ist jedes politische Handeln, das nicht der in der Erinnerung verklärten politischen Praxis der sozialdemokratischen Jahrzehnte entspricht.
Neoliberalismus als modernes politisches Projekt?
Auf der einen Seite wird Neoliberalismus B also als ein vor allem destruktives Projekt verstanden, das den Lauf der Geschichte vom zuvor eingeschlagenen sozialdemokratisch-progressiven Weg abgebracht hat und ihn seither hindert, auf diesen Weg zurückzukehren. Nicht umsonst gilt denjenigen, die den Begriff im Sinne des Neoliberalismus B nutzen, auch der Versuch einer Modernisierung der Sozialdemokratie in den 1990er-Jahren als neoliberales Projekt.
Auf der anderen Seite haben wir einen ideengeschichtlichen Begriff, der sich auf eine lange vergangene Phase liberalen theoretischen Denkens bezieht. Deshalb stellt sich die Frage, wie ein moderner Neoliberalismus verstanden werden könnte, der an den ursprünglichen Neoliberalismus A anknüpft.
Natürlich kann hier schon aus Platzgründen kein umfassendes politisches Programm skizziert werden. Einige wenige Stichworte müssen daher genügen. Ein moderner Neoliberalismus ist empirisch fundiert. Wir wissen inzwischen sehr viel mehr darüber, wo Märkte gut funktionieren und vor allem mit welchen besonderen Spielregeln manche Märkte flankiert werden müssen, um gut zu funktionieren. Trotzdem wird auch ein moderner Neoliberalismus auf den Ordnungsrahmen fokussiert sein, auf direkte Eingriffe in den Preismechanismus also weitestgehend verzichten. Herausforderungen, die, wie der Klimawandel, aus externen Effekten folgen, wird er durch eine Bepreisung dieser Effekte begegnen. Die Lösung des Problems erfolgt also mit dem Preismechanismus, nicht gegen ihn. Einer Ungleichheit von Einkommen und Vermögen wäre stärker mit dem Abbau von Hemmnissen für soziale Aufwärtsmobilität zu begegnen als mit sehr hohen Steuer- und Abgabenlasten.
Das Alleinstellungsmerkmal eines modernen Neoliberalismus dürfte also auf der konzeptionellen Ebene darin liegen, dass er individuelle Freiheit nicht nur als eigenständigen Wert ansieht. Vielmehr sieht er, empirisch gut begründet, individuelle Freiheit und wirtschaftlichen Wettbewerb auch als zentrale Voraussetzungen für die effiziente Lösung vieler gesellschaftlicher Probleme. Im Kern steht moderner Neoliberalismus für eine optimistische Perspektive: Ein liberaler Ordnungsrahmen kann die Innovations- und Wachstumsdynamik der Marktwirtschaft stärken, und zwar so, dass auch aktuell anstehende große, etwa ökologische Herausforderungen bewältigt werden.
Literatur
FOUCAULT, MICHEL: Die Geburt der Biopolitik. 6. Aufl. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 2006
KOLEV, STEFAN: Neoliberale Staatsverständnisse im Vergleich. 2., erweiterte und aktualisierte Aufl. Berlin [de Gruyter] 2017
SCHNELLENBACH, JAN: The Concept of Ordnungsökonomik: Rule-Based Economic Policy-Making from the Perspective of the Freiburg School. In: Public Choice, im Erscheinen
SCHUMPETER, JOSEPH A.: Capitalism, Socialism and Democracy. New York [Harper] 1942
SHU, PIAN; CLAUDIA STEINWENDER: The Impact of Trade Liberalization on Firm Productivity and Innovation. IN: LERNER, JOSH; SCOTT STERN (Hrsg.): Innovation Policy and the Economy. Bd. 19. Chicago [Chicago University Press] 2019, S. 39-68
TOLLISON, ROBERT D.: The Economic Theory of Rent-Seeking. In: Public Choice, 152, 2012, S. 73-82