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Wohlfahrt contra woke

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Worin also liegt der Unterschied zwischen Wohlfahrt und woke? Der gute Staat nutzt nicht Peitsche, sondern Zuckerbrot. Er macht angebotsorientierte Politik: Kommt, labt euch, und lasst uns machen. Der Staat wächst unaufhaltsam, wie die historischen Daten zeigen, und der autonome, selbstverantwortliche Mensch schrumpft.

Woke hingegen ist, was früher Jakobiner und Rote Garden erzwungen haben. Woke ist das schiere Powerplay, was Lenin kto kowo nannte, »Wer bezwingt wen?«. Ächtung und sanfter Zwang bestimmen Sprache, Denken und Verhalten. Wir ›Aufgewachten‹ entscheiden, wer die Opfer und die immergleichen Täter sind. Im Namen des anderen verteufeln wir, wer anders denkt. Wir verwirklichen die Tugendherrschaft ganz ohne Gestapo, weil wir die Produktionsmittel der Kultur besitzen. So lenken wir das Denken.

Beide bedrohen die Freiheit – der eine herrisch, der andere hilfsbereit. Man möchte sich so gern auflehnen. Aber gegen wen? Gegen die Hoheitsverwalter der Kultur, die man nicht abwählen kann? Gegen unsere fürsorglichen Regenten, die uns Vakzine und Masken sowie bis zu einem Drittel des Volkseinkommens schenken? Holen wir uns lieber eine neue Versicherungspolice vom großherzigen Staat; die Schulden zahlt die nächste Generation, wenn nicht unser Eigentum schon zu Lebzeiten im Feuer der Inflation verbrennt.

Welche Rolle könnte dabei der Journalismus spielen? Das Problem: Es gibt ›den‹ Journalismus nicht mehr, weil in digitalen Zeiten jeder sein eigener ›Verleger‹ sein kann. Ein PC und Internetanschluss genügen. Das heißt: Abertausende von Echokammern, wo nicht das wohlbedachte Argument erschallt, auch nicht ein halbwegs nachdenkliches Publikum zuhört. Es regieren der schnelle Tweet, den vor allem die eigene Gemeinde liest, die reflexhafte Empörung, die den rationalen, faktenbasierten Diskurs ersetzt.

Die zweite Echokammer sind die etablierten Medien, die einst ein nationales Publikum hatten. Sie gleichen heute eher Kirchen, wo die Gemeinde den gewünschten Wahrheiten lauscht. Solche ›Kirchenblätter‹ gab es schon immer – von links bis rechts, von säkular bis religiös. Aber die großen Blätter und TV-Sender, die sich einst um Neutralität bemühten, sind nun keine Plattformen, sondern Parteigänger, welche die traditionellen Grenzen zwischen Meinung und Nachrichten systematisch verwischen. Die Folge, wie der Zeit-Journalist Karl-Heinz Janßen schon vor Jahrzehnten ironisch notierte: »Liberale werden zwischen allen Stühlen erschossen.«

Die dritte Echokammer sind die Universitäten, theoretisch die Lordsiegelbewahrer des kritischen, evidenzbasierten Denkens. In den Geistes- und Sozialwissenschaften wird der lebhafte, aber respektvolle Disput zusehends von Gleich- und Gutdenk verdrängt. Hier wächst aber die nächste Journalisten-Generation heran, die lernt, dass ›Haltung‹ wichtiger ist als die unvoreingenommene, ergebnisoffene Recherche.

Wie das enden soll? Jeder, ob konservativ oder progressiv, muss sich wünschen: Zeit zum Aufwachen, aber im Sinne der Aufklärung, deren Prinzipien die Woken meucheln wollen, derweil der gute Staat den mündigen Bürger großherzig einschläfert. Statt großer Bruder oder netter Onkel Descartes und Kant! Statt Gutdenk Selbstdenk – aber bitte ohne Aluhüte und Verschwörungsgefasel.

1Dieses Kapitel basiert auf einem Essay in der Neuen Zürcher Zeitung vom 27. März 2021.

2https://equitablemath.org/wp-content/uploads/sites/2/2020/11/1_STRIDE1.pdf [29.9.2021]

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