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Daniel Cohn-Bendit / Claus Leggewie Pluralität und Toleranz – alte Werte neu entdeckt1
ОглавлениеIm Kampf gegen Diskriminierung dürfen wir uns nicht auseinanderdividieren.
Die das schreiben, sind alt, weiß, männlich, privilegiert. In den Augen mancher (und es werden mehr), sollten solche Leute mal schön den Mund halten. Das ist nicht völlig falsch. Sie sollten tatsächlich besser zuhören, keine vorlauten Ratschläge geben, Privilegien aufgeben, anderen den Vortritt lassen. Wer mal rüde unterbrochen wird, kann eventuell besser nachvollziehen, wie es Menschen ergangen ist, denen der Zugang zur breiteren Öffentlichkeit verwehrt blieb oder deren Äußerungen dort geringgeschätzt werden.
Die Klagen alter, weißer, privilegierter Männer (und es werden mehr), dass man ihnen das Wort abschneidet, sie nicht respektiert, ihre Äußerungen heruntermacht, ihre Auftritte stört und verhindert, beruhen oft auf reinem Hörensagen. Doch immer häufiger auch auf realen, messbaren Beschränkungen der Meinungsfreiheit, die bekanntlich weder auf Altersgruppen noch auf ethnischer Zugehörigkeit noch auf sexueller Orientierung beruht, sondern nur als universales Recht für alle funktionieren kann.
Von einer Zensur, einer Schweigespirale, einem Maulkorb für alte weiße Männer mit Macht und Einfluss kann in diesem Land bislang keine Rede sein. Haltungen und Einstellungen zu überdenken, die man für selbstverständlich erachtet hat, ist kein bedauernswertes Alters-Schicksal, sondern eher eine Chance und wieder ein kleines Privileg.
So weit, so gut. Doch lehrt die Erfahrung sozialer Bewegungen, die ins Sektenwesen abgerutscht sind, dass Opposition bereits in sich plural sein muss und eine Atmosphäre des Respekts rundum notwendig ist. Wir wissen, wovon wir reden: Die 68er-Bewegung ist in irrwitzige Sekten zerfallen, falsche Radikalität führte zum Scheitern. Besser ist man vereint, statt dem Narzissmus der allerkleinsten Differenz zu frönen. Oder marschiert allein, aber nicht unter der Bedingung, dass sich alle anderen unterordnen. Widerstand nimmt wirkliche, mächtige Gegner ins Visier und darf sich nicht selbst auf der Suche nach Abweichlern und Verrätern in den eigenen Reihen entkräften.
Besonders fatal ist die Ansage, man dürfe nicht mehr gegen eine Diskriminierung aufstehen, wenn man sie nicht am eigenen Leib erfahren hat. Man dürfe am Ende nicht einmal die Poesie einer Schwarzen (Amanda Gorman) von einer Weißen (Marieke Lucas Rijneveld) übersetzen lassen, selbst wenn die Autorin mit dem Ergebnis durchaus zufrieden war. Kultur lebt von der Übersetzung, der Grenzüberschreitung, der Aneignung durch, pardon: Bastarde, die sich gegen Reinheitsgebote aller Art aufgelehnt haben.
Die moralische Größe und der politische Erfolg von Bewegungen gegen jede Form von Diskriminierung beruhten stets darauf, dass sich nicht allein ›Betroffene‹ zur Wehr setzten, sondern dass sich auch andere betroffen fühlten. Und dass diese auch eine von anderen erfahrene Diskriminierung so in Zweifel zogen und bekämpften, als wäre sie ihnen selbst widerfahren. Das war der Fall in der Bürgerrechtsbewegung der Afro-Amerikaner, in der Martin Luther King jr. gegen Malcolm X und Louis Farrakhan Recht behalten hat. Ebenso bei der feministischen Bewegung, in den Kämpfen der Arbeiterbewegung und der Migrantinnen und Migranten. Deren Erfolg beschränkte sich nie auf das (durchaus notwendige) self-empowerment, sondern war angewiesen auf breitere Unterstützung. Und diese Kämpfe waren nie allein auf die Bestätigung partikularer Identitäten aus und erst recht nicht auf die Korrektur von Sprechweisen fixiert, sondern Teil eines größeren und nicht endenden Freiheitskampfes der Menschheit.
People of Colour und Transmenschen müssen sich heute fragen, ob sie die Unterstützung anderer, die nicht direkt betroffen sind, tatsächlich zurückweisen wollen. Ihre, unsere schärfsten Gegner werden sich freuen und die innere Kluft so lange vertiefen, bis eine ihnen gefährliche Opposition abstürzt. Dass im vergangenen Januar bei der Stichwahl im US-Staat Georgia ein jüdischer und ein afro-amerikanischer Kandidat in den Senat einzogen (was keine Kleinigkeit ist!), lag an der wechselseitigen Unterstützung beider Minderheiten, die auf die Geschichte der US-Bürgerrechtsbewegung zurückverweist. Sam Cookes Slogan »A Change is Gonna Come« beinhaltete, dass privilegierte Weiße, darunter viele Juden, den Kampf der Schwarzen im Süden aktiv unterstützten.
Linke Identitätspolitik kann sich auf ’68 berufen, aber nur auf das ›andere ’68‹ der Neuen Rechten, die damals den ›Ethno-Pluralismus‹ und den Kult der Reinheit erfand. Richard Nixon erkannte die Gelegenheit und politisierte die heute fünf absurden Rassen-Kategorien im US-Zensus (›White‹, ›Black‹, ›Hispanic‹, ›American Indian/Alaska Native‹, ›Asian/Pacific Islander‹, plus ›other‹), um die demokratische ›Regenbogenkoalition‹ zu spalten – bis heute mit Erfolg. Trumps Republikaner, aber auch die jüngsten, von der rechten SVP initiierten Volksentscheide in der Schweiz sind ein Mimikry der rassistischen und sexistischen weißen Mehrheit, die sich selbst zu einer verfolgten Minderheit stilisiert. Wer in seinem Willen zur Veränderung nicht auf Pluralität und Toleranz setzt, hat schon verloren.
1Eine vorangehende Fassung dieses Beitrags wurde in der taz veröffentlicht.