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Zwei selbstständige Gemeindeteile in Jerusalem

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Befreit man die lukanischen Texte von ihren geschichtstheologischen Konstruktionen und beleuchtet die Traditionen in Apg 6–8 sozialgeschichtlich, ergibt sich: Wir stoßen in Jerusalem auf zwei sprachlich und kulturell unterschiedlich geprägte Gemeindeteile mit einem jeweils eigenen Repräsentations- bzw. Führungsgremium. Die Zwölf bildeten den Kern der aramäisch sprechenden Jesusgruppe, die von Galiläa (wieder zurück) nach Jerusalem gezogen ist, in Apg 6,1 „Hebräer“ genannt. Die „Sieben“ bildeten das Leitungsgremium eines griechisch sprechenden Gemeindeteils, in Apg 6,1 „Hellenisten“ genannt. Stehen die Zwölf als Symbol für das endzeitlich versammelte Israel in seinen zwölf Stämmen, so fungieren die Sieben in Analogie zu Leitungsgremien jüdischer Diasporagemeinden. Ihre Namen (Apg 6,5) sind in der griechischen Welt gang und gäbe. Bezeichnenderweise fehlen solche, die die jüdische Identität plakativ demonstrieren würden. Am Ende der Liste wird der Name eines Proselyten genannt, also eines Griechen, der sich hat beschneiden lassen und zum Judentum übergetreten ist: Nikolaus aus Antiochien. Das Herkunftsmilieu dieses Gemeindeteils sind die Diasporasynagogen in Jerusalem, also der Ort, an dem auch der Streit mit Stephanus lokalisiert wird. In Apg 6,9 werden fünf Landsmannschaften genannt, für die vermutlich je eine eigene Synagoge vorauszusetzen ist. Wie wir besonders gut aus der (griechisch verfassten) Spenderinschrift für einen Synagogenneubau in Jerusalem erkennen können (Theodotos-Inschrift; vor 70 n. Chr.), handelt es sich bei diesen Diasporasynagogen in Jerusalem um religiöse und kulturelle Zentren für Diasporajuden bestimmter Regionen. Das Gebäude diente als Gottesdienstraum, Schule und Herberge für Pilger. Die „Vorlesung des Gesetzes“ basierte sicher auf der griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel, genauso der „Unterricht in den Geboten“. Gemäß der Theodotos-Inschrift genügte die „Herberge für diejenigen aus der Fremde“ orthodoxen Ansprüchen. Für die rituellen Waschungen war durch eine entsprechende Wasserinstallation gesorgt. Diasporasynagogen in Jerusalem waren also Anlaufstellen für Juden aus dem Ausland; sei es für einige Tage während der Festzeiten, ein Traum für viele Juden, sei es auf Dauer – für alle, die ihren Lebensabend in Jerusalem verbringen wollten oder mit ihrer ganzen Familie umsiedelten. Was sie hier suchten, war die Verbundenheit mit dem Zentrum des Judentums, dem Tempel, eingebunden in ein durch und durch jüdisches Milieu. Boten die Diasporasynagogen zunächst eine Hilfe, um sich in der fremden Stadt zurechtzufinden, so entstanden hier auf Dauer gleichzeitig Enklaven, in denen über Generationen hinweg die regionale Kultur der Heimat weitergepflegt wurde, vor allem natürlich die griechische Sprache, vielleicht sogar der eigene Dialekt. Damit ergibt sich ein merkwürdiges Paradox: Waren die Juden in der Diaspora über die Sprache in das gesellschaftliche Leben eingebunden, aber durch ihre Religion ausgegrenzt, so verband Diasporajuden in Jerusalem mit den aramäisch sprechenden Palästinajuden die gleiche Religion, aber die Sprache wirkte trennend.

Die in Apg 6,1 genannten „Hellenisten“ stammten aus diesem Milieu. Außer den „Sieben“ (vgl. Apg 21,8) im Leitungsgremium sind uns nur wenige weitere mit Namen bekannt: Josef Barnabas, ein Levit, dessen Familie aus Zypern stammt, Maria mit ihrem Sohn Johannes Markus, vielleicht gehörten auch Hananias und Saphira dazu. Sie alle waren begütert. Von Barnabas sowie vom Ehepaar Hananias und Saphira wird erzählt, dass sie Teile ihres Besitzes an die Gemeinde abgegeben haben (Apg 4,36f.; 5,1–11). Für Diasporajuden stand Almosengeben hoch im Kurs. Man kann damit einen Schatz im Himmel erwerben (vgl. Sir 29,10f.) bzw. wie mit einem Opfer im Tempel Sünden tilgen (vgl. Tob 4,11; 12,8f.), ein Aspekt, der gerade für die Diaspora besonders wichtig war. Lukas hat diese Einzelnachrichten in seinen Summarien Apg 2,42–47; 4,32–35 verallgemeinert und im Sinn einer (freiwilligen) Gütergemeinschaft stilisiert, wobei er auf alttestamentliche (Dtn 15,4) sowie hellenistische Ideale vom goldenen Anfang (saturnisches Zeitalter) anspielt. Im Blick auf die namentlich Genannten ist jedoch stets nur die Rede davon, dass sie Landbesitz verkauften und das Geld abgaben; die wenigen Häuser wurden ja als Versammlungsräume gebraucht (vgl. Apg 12,12).

Wir stoßen also auf einen innergemeindlichen Güterausgleich, präziser: Begüterte unter den Diasporajuden („Hellenisten“) öffneten ihre Häuser als Versammlungsräume und stellten – je nach Bedarf – ihre finanziellen Ressourcen zur Verfügung: für die Aufwendungen der Gemeindemähler (vgl. Apg 2,46) und für Bedürftige. Damit war insbesondere den galiläischen Jesusjüngern geholfen, die (wie Jesus selbst) zum großen Teil mittellos gewesen sein dürften. Außerdem konnte das in Apg 6,1 angesprochene „Witwenproblem“ in diesem Rahmen eine mögliche „Lösung“ finden: Wie die in Jerusalem gefundenen griechischen Ossuarien zeigen, waren unter den Jerusalemheimkehrern besonders viele Frauen. Ohne Familienclan waren sie möglicherweise bald auf materielle Fürsorge, sicher aber auf menschliche Anbindung angewiesen. Die für Gäste geöffneten christlichen Hausversammlungen mussten diesbezüglich viel versprechend sein. Probleme konnten allerdings dadurch entstehen, dass das aus dem Verkauf erzielte Geld „zu Füßen der Apostel“ gelegt wurde (vgl. Apg 4,35.37; 5,2) und dadurch zunächst in der Verwaltung des aramäisch sprechenden Gemeindeteils, also der Zwölf, stand.

Stillschweigend vorausgesetzt sind nach Sprachgrenzen getrennte Versammlungen in den Häusern, wobei den Hebräern ein Haus der Hellenisten zur Verfügung gestanden haben muss. Ihre liturgische Heimat jedoch hatten analog dazu die Hebräer im Tempelgottesdienst, die Hellenisten dagegen im Synagogalgottesdienst, wo ihre „Muttersprache“ gesprochen wurde. Inhaltlich verbindend für beide Gemeindeteile waren die Jesustraditionen, die in den Häusern gepflegt wurden. Im Vordergrund dürfte die Lokaltradition der Passionsgeschichte gestanden haben.

Zwei Fragen sind noch zu klären: Wie kam der Erstkontakt zu den Hellenisten zustande? Das hat mit der Sprachkompetenz zu tun. Was war für die Diasporajuden an den Traditionen der galiläischen Jesusjünger so anziehend? Das wiederum hängt mit dem Tod des Stephanus zusammen.

Sprache verbindet

Der Brückenschlag ging kaum von den Mitgliedern der Diasporasynagogen aus. In ihren griechischen Synagogalenklaven haben sie über Generationen hinweg die griechische Sprachkultur gepflegt. Auf Seiten der galiläischen Jesusjünger sieht die Sache jedoch anders aus. Zwei unter den Zwölfen tragen griechische Namen: Andreas und Philippus. Beide stammten nach Joh 1,44 aus Betsaida, besser: Julias, wie der Tetrarch Herodes Philippus (4 v. Chr.–34 n. Chr.) seine stark hellenisierte Hauptstadt (nach der Tochter des Kaisers Augustus) umbenannt hat. Explizit hat das Johannesevangelium die beiden Namen Andreas und Philippus als Kontaktpersonen zu den Griechen narrativ bewahrt (Joh 12,20–22). Auch für Petrus, den Bruder des Andreas, sind Griechischkenntnisse vorauszusetzen. Weder seine Missionsreisen (1 Kor 9,5) noch seine Tischgemeinschaft mit den „Heiden“ in Antiochien (Gal 2,12) sind anders denkbar. Bereits in allererster Stunde also wurden von originären Traditionsträgern die Jesuserinnerungen ins Griechische „übersetzt“ – und damit ein gewaltiger Transformationsprozess zu Gunsten der griechischen Sprach- und Denkwelt in Gang gebracht. In dieser Sprache haben die Jesusgeschichten die Welt „erobert“.

In seiner Apostelgeschichte beleuchtet Lukas diese Prozesse in theologischer Tiefenschärfe. An den markanten Brüchen und wegweisenden Übergängen sieht er den Geist Gottes am Werk: beim Übergang der Jesusbotschaft von den aramäisch sprechenden Jesusjüngern zu den Juden aus allen Völkern: Pfingsten (Apg 2,1–41); bei der Transformation der Lebensweise mittelloser Wanderradikaler in die Gütergemeinschaft Sesshafter, in der die Sozialutopie des goldenen Zeitalters realisiert wird: „zweites Pfingsten“ (Apg 4,31–35); beim Sterben des Stephanus, der – erfüllt vom Heiligen Geist – visionär den Tempel Gottes sieht, wie er vom Urbild her gedacht (Apg 7,44) und von den Propheten eingefordert wird (Apg 7,48–50): nämlich Gott im Himmel thronend und neben ihm, die Engelsverheißung von Lk 1,32f. sowie die Prozessaussage Jesu in Lk 22,69 einlösend, Jesus als Menschensohn (Apg 7,55f.).

Jesuanisches Erbe trennt

Wie schon an dieser Vision zu sehen ist, die bei Lukas zu einer geradezu wie Lynchjustiz anmutenden Hinrichtung führt, war die Tempelkritik des Stephanus Stein des Anstoßes innerhalb der Diasporasynagogen. Wie sie konkret ausgesehen haben mag, ist schwer zu sagen. Lukas stellt Stephanus in eine Traditionslinie mit Jesus. Er lässt gegen Stephanus den Vorwurf aussprechen, den man gemäß der urchristlichen Tradition gegen Jesus selbst erhoben hat (vgl. Mk 14,58). Er, Stephanus, habe gesagt: „Jesus, der Nazoräer, wird diesen Ort auflösen“ (Apg 6,14). Der theologische Endpunkt dieser Tempelkritik ist dann erreicht, wenn der Tod Jesu als deren Erfüllung gedeutet wird: In diesem Akt habe Gott Jesus selbst als Sühneplatte (des neuen Tempels) installiert und damit die Wirkkraft des mit dem Jerusalemer Tempel verbundenen Kultes außer Kraft gesetzt. Alle scheinbaren Entsühnungen Israels, wie sie der Hohepriester Jahr für Jahr vornahm, wenn er die Sühneplatte im Allerheiligsten mit Blut besprengte (vgl. Lev 16), werden damit für wirkungslos erklärt – gegenüber der einen Entsühnung, wie sie Gott mit dem Blut Jesu vorgenommen habe: „Ihn (sc. Jesus) hat Gott hingestellt als Sühneort (ἱλαςτήϱιον) … in seinem Blut … wegen des Hingehenlassens der zuvor geschehenen Sünden in der Zeit der Zurückhaltung Gottes …“ (vgl. Röm 3,25f.). Diese geradezu materialistische Identifizierung Jesu mit der Sühneplatte des Tempels findet ihr Pendant in der Vorstellung von der Gemeinde als Tempel (1 Kor 3,16). Beides ist in den authentischen Paulusbriefen derart exzeptionell, dass mit alten Traditionen zu rechnen ist, wie sie Paulus vermutlich in Antiochien, dem Wirkungskreis der Siebenerepigonen, gelernt hat. Unabhängig davon, wie weit diese kritisch provozierende Tempeltheologie bei Stephanus bereits entwickelt war, sie knüpft an die Tempelkritik Jesu an und führt sie offensichtlich herausfordernd fort.

Warum ist eine derartige Tempelkritik ausgerechnet für Diasporajuden anziehend, die doch wegen des Tempels nach Jerusalem gekommen sind? Für Diasporajuden war der Tempel das Identifikationssymbol schlechthin: An das Heiligtum in Jerusalem führten sie ihre Tempelsteuer ab und vernetzten sich dadurch als Juden weltweit. Allerdings praktizierten sie in der Diaspora einen Gottesdienst, der im Gegensatz zum Kult an paganen Tempeln ohne blutige Opfer und ohne Tempelhandel auskam. Darin sahen sie die Überlegenheit ihrer eigenen Religion. Gottesdienst ist Wortereignis, Kult wird spiritualisiert. Gebete werden als „Opfer“ bezeichnet, hinsichtlich der Sündenvergebung ersetzen Almosen die blutigen Opfer. In der Diaspora bezeichneten Juden ihre Synagogen mit dem gleichen Begriff, den sie auch für den Tempel in Jerusalem gebrauchten: πϱοσευχή (Bethaus). Im Land Israel angekommen, konnte allerdings über die πϱοσευχή schlechthin Enttäuschung aufkommen. Blutige Opfer wurden hier dargebracht, die Geschäftemacherei florierte – wie in heidnischen Tempeln auch. Natürlich haben es nicht alle so gesehen; vor allem diejenigen nicht, denen es gelungen war, sich in Jerusalem zu etablieren und mit der sadduzäischen Oberschicht sowie mit der Tempelaristokratie, die ihrerseits kulturell stark hellenisiert war, in gute Kontakte zu treten. Andere aber, weniger Erfolgreiche und deshalb Enttäuschte, konnten sich in Jesu Tempelkritik nicht nur wieder finden, sondern im „neuen Tempel“ eine eschatologische Perspektive entdecken. In diesem Horizont kann man sich den in Apg 6,8–7,60 exemplarisch erzählten Konflikt innerhalb der Diasporasynagogen erklären – und gleichzeitig die mögliche Weiterleitung der Sache, d.h. ihres Sprechers Stephanus, an den Hohenpriester.

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