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Der Siebenerkreis, Randsiedler des Judentums und gottesfürchtige Heiden
ОглавлениеNach den Zeugnissen der Apostelgeschichte löste die Tötung des Stephanus eine Zentrifugalbewegung aus: weg von Jerusalem. Betroffen waren aber lediglich die führenden Köpfe des Stephanuskreises. In der Apostelgeschichte firmieren sie unter der Bezeichnung „die Zerstreuten“ (Apg 8,4; 11,19). Exemplarische Traditionen, die Lukas in sein Werk eingearbeitet hat, erzählen (1) von Philippus, dem zweiten Mann nach Stephanus im Siebenerkreis, wie er sich an Randsiedler des Judentums wendet: in „der Stadt Samariens“ (Apg 8,4–8) und im Küstengebiet zwischen Caesarea und Aschdod (Apg 8,26–40), sowie (2) von „Zerstreuten“ in Antiochien, die sich an „Griechen“, also an Heiden wenden (Apg 11,19–30). Auch Damaskus muss ein Ziel des Siebenerkreises gewesen sein (vgl. S. 40).
Für die Samaritaner musste die Vorstellung eines neuen (spirituellen) Tempels für das Gottesvolk in seinen zwölf Stämmen, also ohne judäische Dominanz, ansprechend sein. Bestand doch ein geradezu aggressives und z.T. gewaltbereites Konkurrenzverhältnis zwischen Samaritanern und dem Tempelstaat, der Samaria nicht mehr zu Israel zählte. Seit der Zerstörung des samaritanischen Tempels auf dem Berg Garizim 128 v. Chr. durch Johannes Hyrkan I. war das bis dahin paritätische Machtverhältnis eindeutig zu Gunsten Jerusalems entschieden. Mit der Verkündigung des „neuen Tempels“ für die Samaritaner als Teil des Gottesvolkes in der Linie der theologisch weitergeführten Tempelkritik des Stephanus wurde ein wichtiger Programmpunkt der Gottesherrschaftsvorstellung Jesu (S. 20f.) eingelöst.
Viel weitreichender sind die Folgen, die mit der exemplarischen Erzählung von der Taufe „eines Mannes, eines Äthiopiers, eines Eunuchen, eines Beamten der Kandake, der Königin der Äthiopier“ (Apg 8,27) durch Philippus verbunden sind. Im lukanischen Kontext soll „Eunuch“ als Titel gelesen werden, der mit „Beamter der Kandake“ erklärt wird, parallel zum Titel „Kandake“, der mit „Königin der Äthiopier“ erläutert wird. In diesem Fall handelt es sich – wie an der Wallfahrt nach Jerusalem zu sehen ist – um einen Proselyten. War jener Mann jedoch wirklich ein Eunuch, für orientalische Hofbeamten durchaus nichts Außergewöhnliches, so hält unsere Erzählung die Erinnerung daran fest, dass Philippus als Erster (1) einen Heiden ins Gottesvolk aufgenommen hat, wobei (2) die Taufe die Beschneidung ersetzt, die dafür eigentlich nötig gewesen wäre, aber Eunuchen wegen ihrer Zeugungsunfähigkeit generell verwehrt wird (vgl. Dtn 23,2). Eunuchen sind von der Vollmitgliedschaft im Volk Israel prinzipiell ausgeschlossen. Gemäß prophetischem Einspruch (Jes 56,3–5) wird sich das höchstens in der Endzeit ändern. Insofern hat Philippus (3) bereits nach den Regeln für den „neuen Tempel“ gehandelt. Als historisches Aktionsfeld ist für den Vorfall an die via maris zu denken, eine Hauptverkehrsader zwischen Ägypten und Mesopotamien, an der auch die Städte liegen, in denen man Philippus „findet“ (vgl. Apg 8,40): Aschdod und Caesarea.
Gemäß Apg 11,26 wurden die Jesusjünger in Antiochien zum ersten Mal Christen genannt. Lukas stellt diese Benennung in den Zusammenhang mit der Tatsache, dass es der christlichen Gemeinde von Antiochien gelungen ist, einen ehemaligen Erzfeind, nämlich Paulus, in die eigenen Reihen aufzunehmen (Apg 11,25f.). Das ist für Lukas ein ekklesiologisches Leitbild. Derartig integrativ Handelnde verdienen den Namen „Christen“.
Was allerdings die historische Spurensuche angeht, so ist es auffällig, dass nach Apg 9,27f. eine solche Integration bereits in der Jerusalemer Urgemeinde gelang – ebenfalls durch die Vermittlung des Barnabas, so dass der Name „Christen“ bereits für die Jerusalemer gerechtfertigt gewesen wäre. Dass Lukas die Bezeichnung an dieser Stelle nicht einbringt, hängt vermutlich damit zusammen, dass sie gemäß seinen Traditionen speziell mit der Stadt Antiochien verbunden war. Außerdem: Das Verb χϱηματίζειν ist der Amtssprache entnommen. Die römische Verwaltung also gab den Jesusjüngern diesen Namen. Dem entspricht auch die Bezeichnung: χϱιστανοί, („Christianer“). Sie ist, latinisierend, nach Art derjenigen Adjektive gebildet, die im Lateinischen die Parteigänger einer Person bezeichnen, und wäre in unserem Fall konkret mit „Anhänger des Christus“ zu übersetzen.
Wie kommen, so die Frage, römische Magistrate dazu, Jesusjünger in Antiochien mit einer amtlichen Gruppenbezeichnung zu belegen und als Anhänger des Christus zu kennzeichnen? Die vorgeschlagene historische Rekonstruktion lautet: In Antiochien nahmen „Zerstreute“ des Siebenerkreises in größerem Umfang und programmatisch Heiden ins Gottesvolk auf – und zwar ohne Beschneidung. Die jüdischen Synagogalgemeinden der Stadt wehrten sich gegen diese Gruppe, die zwar unter dem Dachverband der Synagoge Nutznießer der jüdischen Privilegien im Römischen Reich war, andererseits aber durch ihre Missionspraxis die klaren Konturen des Judentums von innen her aufweichte. Die demonstrative Absetzung war nur mit Hilfe der römischen Magistrate durchführbar. Unter der Bezeichnung „Christianer“ wurde die Gruppe der Jesusjünger samt ihrer neu gewonnenen Anhänger erstmals als eigenständige Fraktionierung außerhalb des Synagogalverbandes gekennzeichnet. In diesem Zusammenhang sind verschiedene Differenzierungen nötig.
Beschneidung
Beschneidung ist im alten Orient nichts Besonderes, aber sie wird nicht von allen Völkern praktiziert, z.B. nicht von den Philistern; für die Babylonier und Assyrer fehlen die Hinweise. Das Judentum stellte die Beschneidung besonders dann in den Vordergrund, wenn das Umfeld sie nicht praktizierte: während des babylonischen Exils, besonders aber während der Makkabäerkämpfe angesichts der Gefahr hellenistischer Überfremdung. Als das Bundeszeichen schlechthin (vgl. Gen 17,2.11) war die Beschneidung immer zugleich „identity marker“, mit dem sich Juden von den anderen Völkern absetzten. Mit den Augen von Griechen und Römern betrachtet, sah die Sache jedoch anders aus: Beschneidung galt als obszön, weil die Eichel freilag, was den Schönheitsidealen zuwiderlief. Beschneidung wurde also nicht aus religiösen, sondern aus ästhetischen und kulturellen Gründen abgelehnt. Trotzdem war das Judentum als Religion für Griechen und Römer ansprechend, besonders wegen seines Eingottglaubens, seiner hoch stehenden Ethik und seiner häuslichen Bräuche, insbesondere der Sabbatriten. Anders als im Tempel von Jerusalem, wo Nichtbeschnittenen der Zugang zum liturgischen Bereich unter Androhung der Todesstrafe untersagt blieb, durften in der Diaspora Heiden, die mit dem Judentum sympathisierten, an den Gottesdiensten in den Synagogen teilnehmen. Der Begriff, unter dem diese Sympathisanten in jüdischer wie paganer Literatur firmieren, lautet „Gottesfürchtige“. Einerseits waren die jüdischen Diasporasynagogen stolz auf diese Klientel, denn Gottesfürchtige stammten oft aus der Bildungsschicht und bekleideten Ämter in städtischen Gremien. Andererseits blieben die Grenzlinien klar gezogen: Als Vollmitglied der Synagoge (und das heißt des Gottesvolkes) galt nur, wer beschnitten war. Ganz praktisch wirkte sich das z.B. darin aus, dass Gottesfürchtige von der Feier des Paschamahles ausgeschlossen blieben. Die berühmte Spenderinschrift von Aphrodisias zeigt unmissverständlich ihre Stellung in der Gemeinde: Ihre Namen stehen deutlich abgesetzt hinter denen der Vollmitglieder und Proselyten.
Diese fest gefügten Strukturen wurden durch die Aktivitäten der Jesusjünger in Antiochien durchkreuzt. Sie nahmen gemäß Apg 11,20 auch Griechen als Vollmitglieder in das Gottesvolk auf: durch die Taufe ohne Beschneidung. Dieses Vorgehen blieb nicht ohne Rückwirkungen und Konsequenzen. Antiochien war mit etwa einer halben Million Einwohner nach Rom und Alexandrien die drittgrößte Stadt im Römischen Reich, sie war Handelsknotenpunkt für den Landweg zwischen Kleinasien und Ägypten, ihr Hafen Einfallstor für die Verbindung nach Mesopotamien und Persien. Der kaiserliche Legat von Syrien hatte seinen Sitz in Antiochien. Als zentrale Verwaltungs- und Handelsmetropole hatte Antiochien ein hellenistisches Overhead, erkennbar an den Sprachen: Griechisch war die Sprache der städtischen Elite, insbesondere in Verwaltung und Politik. Die einheimische Bevölkerung und die Landbevölkerung sprachen Syrisch. Die Jesusanhänger aus dem Umkreis der „Sieben“, die nach Apg 11,20 aus Zypern und Kyrene stammten, sprachen – außer griechisch – vielleicht die Dialekte ihrer Heimat, sicher aber nicht Syrisch. Wenn sie „den Griechen“ das Evangelium verkündeten, wandten sie sich an die führenden Schichten der Stadt – und fanden sie im Umkreis der Synagogen: die Gottesfürchtigen.
Seit Gründung der Stadt 300 v. Chr. nämlich gab es in Antiochien eine starke jüdische Minorität, die für das 1. Jahrhundert auf etwa 45.000–60.000 geschätzt wird. Nach Josephus zeigten die Juden in Antiochien eine besonders offene, ja geradezu werbende Haltung gegenüber den Griechen: „Und sie (sc. die Juden) zogen durch ihre Gottesdienste eine große Menge von Griechen an und machten sie in gewisser Weise zu einem Teil von ihnen selbst“ (Bellum Judaic. VII 45). Damit ist auf die besondere Pflege des Sympathisantenkreises der Gottesfürchtigen angespielt. Im Blick auf die Durchsetzung und Erhaltung besonderer Privilegien, die die Judenschaft in Antiochien genoss, werden sie nicht ohne Bedeutung gewesen sein: Selbst wenn die rechtliche Gleichstellung mit den Griechen der Stadt, wie sie Josephus behauptet (Antiqu. XII 119; Bellum Judaic. VII 44), auf eine kleine Zahl von alteingesessenen vornehmen Juden beschränkt gewesen sein sollte, besaß die Gesamtjudenschaft auf jeden Fall korporative Privilegien, unter denen das Versammlungsrecht, das Recht, den Sabbat zu halten und die Tempelsteuer nach Jerusalem abzuführen, die wichtigsten waren. Die Jesusanhänger, die nach Antiochien kamen, waren rechtlich Teil dieser Judenschaft, wohnten in ihren Gebieten und trafen sich in den gleichen Synagogen. Mit ihrem Angebot, ohne Beschneidung, allein durch die Taufe, als Vollmitglieder in das Gottesvolk aufgenommen zu werden, rannten sie bei den Gottesfürchtigen offene Türen ein. Aber sie versetzten damit dem über Jahrhunderte auf politischer und religiöser Ebene etablierten Beziehungsgeflecht zwischen Juden und Griechen einen empfindlichen Schlag. Das konnte nicht ohne Reaktion bleiben. (1) Mit der Aufgabe der Beschneidung wurde ein „identity marker“ des Judentums angegriffen und jüdisches Selbstverständnis in seinen klaren Konturen von innen her aufgeweicht. Bereits knapp zwei Jahrhunderte zuvor hatten toratreue Juden ein derartiges Ansinnen von „Reformjuden“ am Jerusalemer Tempel, die von Antiochos Epiphanes IV. unterstützt wurden, unter Einsatz des eigenen Lebens erfolgreich bekämpft (Makkabäer). (2) Neben der theologischen bzw. anthropologischen spielt auch eine religionspolitische Komponente eine Rolle: Mit der Missionierung der Jesusjünger unter den Gottesfürchtigen begann ein Streit um die gleiche Klientel, die hinsichtlich ihrer Lobbyfunktion in den Städten von besonderer Bedeutung war. Die Jesusjünger boten mehr (volle Mitgliedschaft) zu niedrigerem Preis (ohne Beschneidung). Die jüdischen Synagogen wehrten sich gegen diese „feindliche Übernahme“. (3) Rechtliche Konsequenzen: Der Erfolg der Jesusjünger verdankte sich der Plattform, die die jüdischen Synagogalgemeinden für ihre Aktionen (unfreiwillig) bereitstellten. Sie partizipierten an Privilegien, deren ethnische Basis sie durch ihr Missionsangebot ohne Beschneidung aufzulösen begannen. Um den eigenen Status zu bewahren, trennte sich die jüdische „Bürgerschaft“ in Antiochien von diesen gefährlichen Schmarotzern in den eigenen Reihen, ein Schritt, der ohne die römische Verwaltung rechtswirksam nicht durchzuführen war: „Es wurden aber registriert zum ersten Mal in Antiochien die (Jesus-)Schüler als Christianer“ (Apg 11,26).