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Die neuen Universitäten
ОглавлениеUm die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert formierte sich die Organisation von Studium und Wissenschaft im Abendland neu. Den Anfang machten Paris (Philosophie/Theologie) und Bologna (Geistliches und Weltliches Recht). Eine weitere frühe „Volluniversität“ entstand in Oxford.
Der Unterrichtsbetrieb war hier wie anderswo bislang in eine Vielzahl voneinander unabhängiger Schulen zersplittert gewesen, die ihrerseits vorwiegend von kirchlichen Institutionen abhängig waren (Bischofs- oder Stiftskirchen, Klöster). Nun schlossen sich die Lehrer und Studenten dieser Schulen insgesamt zu Korporationen zusammen, die am ehesten den Zünften und Gilden der Handwerker und Kaufleute vergleichbar waren, sich jedoch durch bedeutende Privilegien von diesen unterschieden: So waren Universitätsangehörige, wie Kleriker, von der allgemeinen weltlichen Gerichtsbarkeit dispensiert (privilegium fori). In Paris waren die magistri, also die zur Ausübung selbständiger Lehre Berechtigten, die Träger der Universität. Unter diesen bildeten die magistri regentes, also fest besoldete und angestellte Lehrer, am ehesten vergleichbar mit dem hergebrachten ordentlichen Professor, noch einmal eine eigene Schicht. In Bologna dagegen machten die Studenten die Universität aus; als deren Angestellte fungierten die Hochschullehrer.
Die Universitätsangehörigen standen zwar unter der Aufsicht des Ortsbischofs, regelten jedoch ihre inneren Angelegenheiten weitgehend selbst. Statuten fixierten die Abläufe des Lehrens und Lernens sowie die Karrierewege. Päpstliche, später auch kaiserliche Privilegien lockerten die Einbindung in die kirchlichen und weltlichen Herrschaftsstrukturen am Ort. Weiterhin gewährleistete die Bindung der Universitäten an die höchste(n) Autorität(en) des Abendlandes die gegenseitige Anerkennung akademischer Grade und Rechte: Die an einer Universität erworbene Lehrbefugnis war grundsätzlich auch an allen anderen gültig.
Intern war der Lehrbetrieb nach Fakultäten gegliedert. Jeder Student musste zunächst in der Artistenfakultät Philosophie/artes studieren; erst dann konnte er sich in einer der oberen Fakultäten (Theologie, Geistliches/Weltliches Recht, Medizin) einer Einzelwissenschaft widmen.
Im akademischen Ausbildungsgang sorgte ein differenziertes System der Graduierungen dafür, dass fortgeschrittene Studenten sich sogleich am Lehrbetrieb der jeweils von ihnen absolvierten Studienphase beteiligten.
Für das Verständnis der Theologiegeschichte des (späten) Mittelalters ist dabei sowohl in institutionen- wie in geistesgeschichtlicher Perspektive generell die Tatsache in Rechnung zu stellen, dass (auch) das eigentliche Studium der Theologie einer hauchdünnen Elite vorbehalten war: Es qualifizierte, wie das Studium des Kirchenrechts, für den akademischen Beruf selbst sowie für wenige herausgehobene Leitungspositionen in den Orden und im Weltklerus. Zum (ersten) akademischen Massenfach mit zeitlich erheblich reduzierten Studienplänen und kurzgefassten, handlichen Lehrbüchern wurde die Theologie erst im Zuge der Reformation.
Allerdings ist zu beachten, dass gerade durch die Bettelorden und ihre breit gestreuten, zwar unterhalb des universitären Niveaus, aber durchaus in Fühlung mit den Universitäten arbeitenden theologischen Ausbildungsstätten bestimmte Resultate wissenschaftlich-theologischer Arbeit durch Beispiel- und Lehrbuchliteratur zunehmend Eingang in die Predigt und die Seelsorge fanden.
Auch im Kirchenrecht sind vergleichbare Vorgänge der außerakademischen Rezeption und Tradition zu beobachten. Durch das vorherrschend an der Einzeltat orientierte Verständnis von Sünde war die gewissenhafte Verwaltung des Bußsakraments auf zuverlässige und aktuelle Rechtskenntnisse angewiesen. So wurden die Niederlassungen der Bettelorden, an deren Angehörige hier die höchsten Ansprüche gestellt wurden, in den Städten zugleich Zentren der Rezeption und Ausstrahlung des (weltlichen und kirchlichen) Rechts.
Nachdem die ersten Universitäten als frei-spontane Zusammenschlüsse entstanden waren, kam es dann auch zu geplanten Gründungen durch geistliche und weltliche Instanzen, zunächst in Süditalien (Neapel 1224: Friedrich II.) und auf der Iberischen Halbinsel.
Der streng formalisierte Lehrbetrieb zielte einerseits auf Wissensvermittlung, anderseits auf die Einsicht in den Prozess der Genese von gesichertem Wissen. Dem ersten Zweck diente die Vorlesung (lectio), in der autoritative Grundlagentexte fortlaufend erklärt wurden – in der Theologie gewann neben der Bibel die Sentenzensammlung des Petrus Lombardus an Bedeutung. Alexander von Hales (gest. ca. 1245) war der erste magister regens, der in Paris Vorlesungen über sie hielt. In der Philosophie wurden zunehmend die Schriften des Aristoteles Gegenstände der Vorlesungen, im Kirchenrecht das Decretum Gratiani und die folgenden Dekretalensammlungen (s.u. S. 108f.). So entstanden umfangreiche Kommentarwerke, deren Basis studentische Nachschriften (reportationes) bildeten; wenn der Lehrer diese noch einmal gründlich überarbeitete, wurden aus den reportationes „ordinationes“, welche sich also durch einen erheblich höheren Grad an Zuverlässigkeit auszeichnen. In der Theologie begann die schier unübersehbare Reihe der Sentenzenkommentare, die bis ins 16. Jahrhundert hinein nicht abreißen sollte. Diese verschachtelten Texte lesen sich nicht eben leicht. Der kontinuierliche Rückbezug auf gemeinsame Traditionsgrundlagen und Problemzusammenhänge ermöglicht jedoch sehr detaillierte problemgeschichtliche Analysen.
Neben den Sentenzenkommentaren verdienen die Bibelkommentierungen Beachtung; die wichtigsten schuf der Franziskaner Nikolaus von Lyra (gest. 1349). Sie verbuchen einmal getreulich die ältere Auslegungstradition; zum andern hat Nikolaus viel Mühe auf Realien wie die biblische Landes- und Altertumskunde gewandt und hier vielfach auch von älteren und gleichzeitigen jüdischen Auslegern profitiert. Noch Luther benutzte diese Werke, die bis ins 17. Jahrhundert nachgedruckt wurden.
Probleme, die sich bei der Kommentierung des Stoffs ergaben, wurden in regelmäßigen Disputationen traktiert, die hochschuldidaktisch etwa die Funktion heutiger Haupt- oder Oberseminare hatten: Unter der Anleitung eines Professors (Magisters) wurde der Problemgehalt zu einer schulgerechten Frage (quaestio) geformt. Die thetische Erstantwort auf die Frage wurde dann durch Gegenargumente nach den Regeln der Logik so lange auf die Probe gestellt, bis sie als bewiesen oder widerlegt gelten konnte. Dann formulierte eine Lösung (solutio) den Ertrag. Auf dieser Basis wurden dann noch einmal alle Gegenargumente detailliert widerlegt. Derartige Veranstaltungen fanden sowohl im alltäglichen Lehrbetrieb als auch zu besonderen Anlässen statt. Disputationen, deren Themen nicht durch die Stoffe des Lehrbetriebs vorgegeben waren, nannte man „disputationes de quolibet“ oder „disputationes quodlibetales“. In diesem Rahmen konnten auch Tagesaktualitäten akademisch traktiert werden.
Weiterhin zählten zu den Aufgaben der akademischen Lehrer auch Predigten für die Universitätsangehörigen.
Wie viele Predigten wurden auch Disputationen niedergeschrieben und publiziert. Das in ihnen erprobte und eingeübte Schema wurde dann literarisch auf andere Gebiete übertragen. Auch Bibel- und Sentenzenkommentare wurden so gestaltet, dass aus dem vorliegenden Stoff quaestiones gebildet und diese dann schulmäßig abgehandelt wurden; die Kommentare verwandelten sich so in Quaestionen-Sammlungen. – Diese Methode der formalisierten dialogischen Wahrheitssuche war ungemein zählebig – noch Luther und Eck betätigten sie virtuos bei der Leipziger Disputation (1519). Sodann konnten auch ganze Wissensgebiete in freier Stoffdisposition als lange, kompliziert untergliederte Reihen von Quaestionen abgehandelt werden – so ergab sich ein neuartiger Typus von „Summen“.
Die seit dem Humanismus geäußerte Kritik an diesem Formalismus leuchtet dem modernen Leser unmittelbar ein. Das darf aber nicht über gewichtige Vorzüge hinwegtäuschen: Einmal ist es für die historische Wahrnehmung von besonderem Reiz, dass jede These immer im Kontext ihrer Gegenthesen präsentiert wird; auch Optionen, die im Verlauf der Kirchen- und Theologiegeschichte an den Rand gedrängt worden sind, blieben so dauerhaft präsent. Zum andern ist zu beachten, dass in dieser starren Weise der Wissensorganisation und -vermittlung die Erinnerung daran erhalten ist, dass Wissen nur dann wirklich vermittelt werden kann, wenn im Prozess der Aneignung dessen Genese selbst rekapituliert wird.
Für die Geschichte der Theologie waren die wissenschaftsorganisatorischen Neuerungen von schwerlich zu überschätzender Bedeutung: Sie wurde dauerhaft eingebunden in den Gesprächskontext aller wissenschaftlichen Bemühungen; sie konnte und musste sich als Wissenschaft im Kontext anderer Wissenschaften artikulieren und ihre Geltungsansprüche so formulieren, dass sie in diesem Kontext argumentationsfähig waren. Dass sie innerhalb dieses Zusammenhanges die besonders hervorgehobene Stellung einer Leitwissenschaft hinsichtlich der letzten, im Glauben verbürgten Gründe und Grenzen aller Wissenschaft innehatte, ergab sich zwangsläufig – standen doch die Universitäten insgesamt weiter unter kirchlicher Aufsicht. Von besonderer Bedeutung ist es gerade angesichts dieser Tatsache, dass sich im Zuge der Ausbildung des akademischen Fächerkanons die Philosophie in der artes-Fakultät zwar relativ verselbständigte, dass aber dennoch die Verbindung mit der Theologie erhalten blieb: Wer Theologie studieren wollte, musste zunächst den philosophischen Studiengang durchlaufen und sich als Student der Theologie seinerseits am philosophischen Lehrbetrieb beteiligen. Der Wissenschaftsbetrieb der Philosophie blieb so für theologische Impulse und Rückfragen offen, was auch zu Grenzstreitigkeiten führen konnte.
Selbstverständlich war diese Verflechtung aus neuzeitlicher Sicht auch mit Restriktionen verbunden: „Freie“ Wissenschaft ohne Rückbindung an kirchlich verbürgte Autoritätsvorgaben war im Mittelalter schlechterdings undenkbar. Positiv ist jedenfalls zu vermerken, dass die Ausdifferenzierung und Verselbständigung der Fächer gerade nicht zur wechselseitigen Abschottung führte, sondern, bei allem Wissen um die spezifischen Unterschiede der Wissensbereiche, zur wechselseitigen Förderung und Befruchtung: Wer in seinem philosophischen Studium die neuen Möglichkeiten der denkenden Erkenntnis der natürlichen und sozialen Welt samt deren Rückbindung an ihren transzendenten Grund kennengelernt hatte, musste mit innerer Notwendigkeit diese Möglichkeiten auch bei der wissenschaftlichen Bearbeitung des verbindlichen theologischen Lehrstoffs in der Bibel und in der kirchlichen Lehrüberlieferung erproben und den Versuch unternehmen, den überlieferten Stoff in einen den Möglichkeiten wissenschaftlicher Weltdeutung kompatiblen Entwurf der Gesamtdeutung von Gott, Welt, Mensch und Geschichte zu überführen. Dass diese Versuche auf ihre Weise dem Anspruch des Papsttums auf Oberherrschaft über die abendländische Welt ungesucht entgegenkamen und zuarbeiteten, liegt auf der Hand.
Wie Theologie und Philosophie im universitären Lehren und Lernen miteinander kooperierten und wie beide in die Kirche hineinwirken konnten, das lässt sich an einem konkreten Lebensgang anschaulich exemplifizieren: Der ca. 1168 geborene Robert Grosseteste lehrte seit etwa 1200 in Oxford die artes, also Philosophie. 1209 ging er zum Studium der Theologie nach Paris. Nach seiner Rückkehr nach Oxford lehrte er wieder dort und wurde 1214 Kanzler, also kirchlich beauftragter Leiter der Universität. 1225 wurde er zum Priester geweiht und erhielt bald darauf ein Archidiakonat in Leicester. 1235 wurde er Bischof von Lincoln und wirkte bis zu seinem Tode 1253 als eifriger Kirchenreformer sowie als Verfechter der „Freiheit“ der Kirche nach kurialer Lesart. Wissenschaftlich wirkte er als Übersetzer griechisch-patristischer Schriften, vor allem jedoch als Übersetzer und Kommentator von Schriften des Aristoteles und seiner Kommentatoren. Diese philosophischen Impulse machte er für eigenständige Arbeiten zur Naturwissenschaft und -philosophie fruchtbar, von denen er sich Impulse für die Schriftauslegung erhoffte. Dogmatisch-theologisch versuchte er, die neuen Methoden und Einsichten in die überkommene augustinisch-neuplatonische Denk- und Vorstellungswelt zu integrieren. In seiner Person vereinigten sich Interesse für die „neue“ Wissenschaft und kirchliches Engagement in Übereinstimmung mit päpstlich-kurialem Gestaltungswillen.
Als akademischer Lehrer und Universitätskanzler in Oxford schützte und förderte Grosseteste die dortige Niederlassung der Franziskaner, auch als Lehrer stellte er sich den Bettelmönchen zur Verfügung, so dass er füglich als Begründer der Oxforder Franziskanerschule gelten kann, ohne doch dem Orden angehört zu haben. Auch als Bischof förderte er nach Kräften die Tätigkeit der Bettelorden.
Hiermit ist ein weiterer Faktor benannt, welcher die Theologie des 13. Jahrhunderts unverwechselbar prägte. Die neuen Orden wurden zu den wichtigsten Trägern der neuen Bewegungen in Philosophie und Theologie, und zwar auch an den Universitäten.
Für die Biografien der wissenschaftlich tätigen Franziskaner und Dominikaner, aber später auch der Augustiner und der älteren Orden, wurde der mehrmalige Wechsel zwischen den ordenseigenen Bildungsinstitutionen und den Universitäten charakteristisch. Mit den Bettelorden wandte sich also gerade eine intellektuelle und religiöse Elite den neuen geistigen Möglichkeiten zu, die von ihren institutionellen Anfängen wie von ihrer Programmatik her besonders eng mit dem erneuerten Papsttum und seinem Anspruch auf Oberherrschaft in Kirche und Welt verbunden waren.
Der Dominikanerorden hatte sich, wie gezeigt (s.o. S. 78), von Anfang an programmatisch und gezielt die Stätten der Wissenschaft und der akademischen Lehre zu bevorzugten Orten seiner Wirksamkeit auserkoren. Schon 1217 wurde die Niederlassung des Ordens in Paris gegründet. Mit Roland von Cremona (gest. wohl 1259), der 1219 in den Orden aufgenommen worden war, stellten die Dominikaner schon 1229 ihren ersten theologischen Lehrer an der zentralen Hochschule des Abendlandes. – Im Franziskanerorden war der Vorstoß in die Welt der intellektuellen Elite zunächst mit Hemmungen belastet, die im ursprünglichen Lebensideal seines Stifters wurzelten. Ein strategisch wohlerwogener Ausgriff auf die akademische Welt hat nicht stattgefunden. Vielmehr muss die Verbindung von radikaler Askese und intensiver kirchlicher Frömmigkeit gerade für Intellektuelle unwiderstehlich attraktiv gewesen sein: Alexander Halesius war schon seit geraumer Zeit magister regens, also ordentlicher Professor der Theologie, als er 1236 etwa 50-jährig dem Franziskanerorden beitrat und diesen damit symbolisch im abendländischen Zentrum theologischen Lehrens und Lernens etablierte. Dass dieser Ausgriff der Bettelorden in die akademische Welt konfliktträchtig war, offenbarte der „Mendikantenstreit“ an der Pariser Universität (akute Phase 1252–57). Wilhelm von St. Amour, der Wortführer der dem Weltklerus angehörenden Hochschullehrer, wies zunächst in denunziatorischer Absicht auf die Aktualisierung der joachitischen Geschichtsspekulationen im „Introductorius in evangelium aeternum“ des Gerhard von Borgo San Donnino (s.o. S. 76) hin, schaltete sich in den Streit des Weltklerus mit den Bettelorden um die Seelsorgerechte (s.o. S. 88) ein und forderte, die Tätigkeiten der neuen Orden auf den hergebrachten monastischen Bereich zu beschränken. In diesem Zusammenhang verwies er auf die prinzipielle Revidierbarkeit päpstlicher Rechtssetzungen und forderte die Entscheidung eines Konzils. Zu seinen literarischen Kontrahenten zählte Thomas von Aquin, dessen Rezeption in den Kreis der ordentlichen Professoren sich durch die Kontroverse erheblich verzögerte. Papst Alexander IV. stellte sich hinter die Bettelorden (1256); Wilhelm wurde zeitweilig aus Paris verbannt.