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1. Neue philosophische Impulse

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Im Abendland wurde die aristotelische Philosophie bis ins 12. Jahrhundert hinein nach dem Vorgang des Boethius im Wesentlichen als reine wissenschaftliche Methodenlehre verstanden und benutzt. Erheblich extensiver und intensiver war zur selben Zeit die Aristoteles-Rezeption bei den Muslimen und Juden im Orient. Beim Vorstoß in den persischen Herrschaftsbereich lernten die Muslime durch den Kontakt mit syrischen Christen schon seit dem 7. Jahrhundert das Corpus Aristotelicum mitsamt einer reichen, vorwiegend neuplatonischen Kommentarliteratur kennen. Übersetzungen ins Arabische und weitere Kommentierungen initiierten einen Prozess der produktiven Aneignung. Dieser Aneignungsprozess war mit schwerwiegenden Problemen belastet: Einmal musste das Verhältnis der genuin aristotelischen, von der konkreten Erfahrung ausgehenden Theoriegebilde zu ihrer spekulativ-neuplatonischen Aneignungs- und Deutungsgeschichte geklärt werden; zum andern galt es, die Vereinbarkeit beider philosophischer Ansätze mit dem Offenbarungsglauben der positiven Religion „Islam“ zu erproben.

Inhaltlich konfliktträchtig waren vor allem die Gottes- und Schöpfungslehre sowie die Theorie der menschlichen Seele: Ist die Welt das endliche Resultat eines kontingenten göttlichen Schöpfungsratschlusses, oder geht sie mit ewiger Notwendigkeit aus Gottes Wesen hervor (Emanation)? Ist die menschliche Einzelseele ontologisch eigenständig, so dass sie Gegenstand jenseitigen Lohnes und jenseitiger Strafen sein kann, oder ist sie lediglich eine temporäre Erscheinungsweise des einen, überindividuellen Intellekts? Denker wie Avicenna (gest. 1037) und Averroes (gest. 1198), der zugleich höchst einflussreiche Kommentare zum Corpus Aristotelicum verfasste, erprobten Möglichkeiten des Ausgleichs und der Synthese, indem sie der Philosophie und der Offenbarungsreligion unterschiedliche Aussagebereiche zuordneten, während hiergegen al-Gazzali (gest. 1111) erkenntniskritische Einwände erhob. – Wissenssoziologisch charakteristisch für die konkrete Arbeit an diesen Problemen war der Ort, an dem sie geleistet wurde: Es waren vorwiegend Mediziner, welche die unterschiedlichen Synthesemodelle ausarbeiteten, während die berufenen Ausleger der Offenbarungsurkunden sich abseits hielten. So führten die eindrucksvollen Leistungen der arabischen Philosophie nicht zu einer dauerhaften produktiven Synthese. Mit der Vertreibung des Averroes aus Córdoba (1195) fand die Blütezeit arabisch-islamischer Philosophie ihren symbolischen Endpunkt.

Seit der Mitte des 12. Jahrhunderts kam es zunächst in Spanien und Süditalien/ Sizilien, also in den Regionen der intensivsten gegenseitigen Berührung von arabisch-muslimischem und abendländischem Kulturkreis, zu ersten Kenntnisnahmen sowohl bislang nur vom Hörensagen bekannter antiker Texte, zunächst in arabischen Übersetzungen, als auch arabisch-philosophischer Arbeiten.

Lateinische Übersetzungen entstanden in Toledo, vor allem aber am Hofe Friedrichs II., wo dessen Hofastrologe Michael Scottus in einer förmlichen Übersetzerwerkstatt die Werke des Aristoteles und des Averroes dem lateinischen Lesepublikum zugänglich machte; in dieses Umfeld gehörte auch Petrus von Hibernia, der Lehrer des Thomas von Aquin. Der Boden für solche Rezeptionsvorgänge war im Abendland schon bereitet: Es war durchaus bekannt, dass man nicht den „ganzen“ Aristoteles besaß und die „Renaissance des 12. Jahrhunderts“ verlief vielfach als Suche nach neuen Wegen zu einer systematisch verantworteten Gesamtauffassung von geistiger und gegenständlicher Welt. Hinzu kam sicherlich der Eindruck von der zivilisatorischen Überlegenheit der arabischen Welt (z.B. Mathematik, Architektur, Nautik), welchen auch die Kreuzzüge bewirkt hatten.

Fraglich war allerdings, ob sich eine produktive Synthese des überkommenen, durch Augustin und seine Rezeption geprägten Christentumsverständnisses und der neuen Möglichkeiten philosophischer Weltsicht würde erreichen lassen. Ein erster Konfliktfall konnte eher skeptisch stimmen: Die pantheistische Lehre des David von Dinant, eines Pariser Magisters, der Averroes rezipiert und Aristoteles-Studien betrieben hatte, wurde auf einer Provinzialsynode in Paris 1210 in aller Form verurteilt. Zugleich verbot diese Synode das Halten von Vorlesungen über die naturphilosophischen Schriften des Aristoteles. 1215 wurde dieses Verbot nochmals eingeschärft und auf die Metaphysik ausgedehnt. Das Interesse erlosch damit nicht: 1229 warb die neue Universität in Toulouse mit dem Hinweis, dieses Verbot habe für sie keine Geltung, geradezu um Studenten. 1231 wiederholte es Papst Gregor IX., allerdings mit der ebenso charakteristischen wie zukunftsweisenden Einschränkung, es gelte, „donec corrigantur“, also bis zur Korrektur der umstrittenen Schriften. Es hatte sich also schon zu diesem Zeitpunkt beim Papst, der in Paris Theologie und in Bologna Kirchenrecht studiert hatte, die Erkenntnis durchgesetzt, dass das sich abzeichnende neue philosophische Denken zwar potenziell gefährlich, aber dennoch für die wissenschaftliche Erkenntnis auch in der Theologie unentbehrlich war. 1255 wurde dann das Studium des Aristoteles in Paris allen Universitätsangehörigen zur Pflicht gemacht, und der Dominikaner Wilhelm von Moerbeke (gest. 1286), derjenige Übersetzer des Aristoteles und seiner spätantiken Kommentatoren, von dessen Arbeit Thomas von Aquin am meisten profitierte, war lange Zeit in einflussreichen Stellungen an der Papstkurie tätig.

Diese dürren Fakten machen auf Prozesse aufmerksam, deren mittel- und langfristige Wirkungen wohl kaum zu überschätzen sind: Anders als in der arabisch-islamischen Welt führten die anfänglichen Probleme nicht zu dauerhaften Abstoßungsreaktionen seitens derer, die zur Hut über die Reinheit der religiösen Lehre und Praxis berufen waren. Vielmehr wurde der neuen Philosophie, die ein erneuertes Gesamtverständnis von Gott, Welt und Mensch verhieß, dauerhaft die Möglichkeit eröffnet, das theologische Denken und seine Autoritätsgrundlagen in der Schrift und der rechtgläubigen Lehrüberlieferung zu durchdringen. Dass sich hier andere Wege als in der islamisch-arabischen Welt eröffneten, lag sicherlich primär darin begründet, dass die abendländische Theologie schon in ihrem normativen antiken Erbe ein erheblich höheres Maß an griechisch-philosophischem Denken in sich trug als der Islam. Für das faktische Zustandekommen der neuen Synthesen waren sicher auch die neu errichteten Universitäten und ihre relative Autonomie maßgeblich, in welcher Philosophie und Theologie sich zwar voneinander unterschieden, aber doch auch im permanenten wechselseitigen Austausch standen. Und die Tatsache, dass es in den Universitäten gerade Bettelordensangehörige, also dem Papsttum in besonderer Weise verbundene Philosophen und Theologen, waren, welche die neuen Möglichkeiten produktiv erprobten, dürfte von großer Bedeutung dafür gewesen sein, dass das neue theologische Denken von der höchsten kirchlichen Autorität kaum beeinträchtigt wurde.

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