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2. Schulen, Lehrer, Positionen

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Als exemplarische Gestalten des Übergangs von der Früh- zur Hochscholastik sind Wilhelm von Auxerre (gest. 1231 oder 1237) und Wilhelm von Auvergne (gest. 1249 als Bischof von Paris) zu nennen. Beide lehrten als Weltgeistliche in Paris Theologie und nahmen intensiv an der Entdeckung und Aneignung der neuen wissenschaftlichen Fragen und Methoden teil. Beide verfassten umfängliche Gesamtdarstellungen des theologischen Überlieferungsstoffes, in welchen sie den neuen methodischen Ansätzen durchaus Raum gaben. Für die eigentlichen Inhalte der Heilswahrheit insistierten sie jedoch auf den besonderen Erkenntnisweg der Intuition bzw. der göttlichen Illumination.

Als ihre Fortsetzer können die Vertreter der „älteren Franziskanerschule“ gelten. Die unter der Leitung des Alexander von Hales in Zusammenarbeit mit Ordensgenossen und Schülern verfasste „Summa Halensis“ (begonnen nach 1235, unvollendet) unternahm den Versuch, das Theologieprogramm Augustins in der Gestalt, welche es bei den Viktorinern (s.o. S. 59f.) gewonnen hatte, unter den neuen Bedingungen mit einer neuartigen Fülle theologiegeschichtlicher Rückbezüge fortzuführen. Zwischen der affektiv-voluntativ begründeten, eigentlich theologischen und der philosophisch-metaphysischen, intellektuellen Erkenntnis nahm sie zuordnende Unterscheidungen durch Differenzierung zwischen den Gegenstandsbereichen und den heilsgeschichtlichen Standorten vor.

Diese Ansätze wurden fortgeführt durch den Franziskaner Bonaventura (eigentlich Johannes Fidanza, ca. 1217–1274), seit 1257 Professor der Theologie in Paris und Ordensgeneral (s.o. S. 76), seit 1273 Kardinal und wesentlich mit der Vorbereitung des 2. Konzils von Lyon betraut. In seinen akademisch-theologischen Werken reklamierte er für die Theologie den Rang der eigentlichen Grund- und Leitwissenschaft. Die selbstverständlich im Konsens mit der rechtgläubigen Tradition ausgelegte Bibel, in deren Zentrum der Weg und das Werk Jesu Christi, des inkarnierten Logos, stehen, ist das verstehensnotwendige Gottesbuch. Es macht das Buch der geschöpflichen Natur, dem Gott ebenfalls das Bild seines Wesens und seines Willens eingestiftet hat, unter den seit dem Sündenfall herrschenden Bedingungen überhaupt erst lesbar. Erst die von der Offenbarung in Christus und der Schrift her erschlossene Weltwirklichkeit vermag zum Gegenstand wirklich sachhaltiger Einsicht zu werden. Es ist also vielmehr die Philosophie, welche der Theologie bedarf, um ihre Anliegen zu verwirklichen, als umgekehrt. Gottes Handeln in der Schöpfung wie in der gnadenhaften Wiederherstellung der gefallenen Schöpfung wird als Reihe von kontingent-geschichtlichen Willensakten gedeutet. In Aufnahme von Gedanken, deren Wurzeln bei Augustin liegen und die in der Frühscholastik weitergesponnen worden sind, betont Bonaventura, dass es Gottes souveräner, unhinterfragbarer Wille ist, der dem Menschen die Erlösung schenkt und geschichtlich-kontingent die Bedingungen setzt, in denen er sein Ziel realisiert. Dem entspricht eine Sicht des Menschen, die dessen Eigentümlichkeit als willensbestimmtes Wesen betont. Während seiner Tätigkeit als Ordensgeneral hat Bonaventura seine theologischen Ansätze auch für Predigten und vor allem für mystische Schriften fruchtbar gemacht.

Die Theologie des Dominikanerordens gewann erstmalig ein deutlich erkennbares, selbständiges Profil in dem Deutschen Albrecht von Lauingen (Albertus Magnus, ca. 1200–1280). Als junger Mann trat er in Padua in den gerade gegründeten Orden ein. Von 1243–1248 lernte und lehrte er in Paris. Ansonsten war er als Lehrer am Ordensstudium, hauptsächlich in Köln, und in anderen Funktionen in seinem Orden tätig; zeitweilig war er Bischof von Regensburg sowie Kreuzzugsprediger und päpstlicher Nuntius. Zeit seines wissenschaftlichen Lebens hat Albert nach einer enzyklopädischen Gesamtschau des Wissensstoffs seiner Zeit gestrebt. Er begann mit theologischen Arbeiten (Sentenzenkommentar) und kommentierte dann die Schriften des christlichen Neuplatonikers (Pseudo-)Dionysius Areopagita sowie das Corpus Aristotelicum. Für Wissensgebiete, die er hier nicht repräsentiert fand, suchte er anderweitig Autoritäten auf. Den Wahrheitsanspruch der Philosophie ordnete er dem der Kirchenlehre strikt unter. Allerdings räumte er der Theologie keinen erkenntnistheoretischen Sonderstatus ein und wich damit etwa von den zeitgenössischen Lehrern im Franziskanerorden deutlich ab.

Der bedeutendste Schüler Alberts war Thomas von Aquin (1224/25–1274). Von seiner hochadligen Familie bestimmt für das Kloster Monte Cassino und dessen Abtswürde, brach er aus den Konventionen aus: In Neapel, wo er seine wissenschaftliche Grundbildung erwarb, trat er gegen den Willen seiner Familie in den Dominikanerorden ein. Diese Bindung bestimmte sein weiteres Leben. Sie führte ihn zunächst an das Ordensstudium in Köln, wo er sich Albertus Magnus anschloss. Ihm folgte er nach Paris und von dort aus wieder nach Köln. Mit 27 Jahren erwarb er dann in Paris die Magisterwürde. Wegen des Mendikantenstreits (s.o. S. 108) erlangte er erst 1257 die Würde eines magister regens. Nach einem Aufenthalt in Rom, wo er an der Kurie die theologischen Studien zu organisieren hatte, kehrte er nach Paris zurück. 1272 wurde er vom Orden ermächtigt, an einem Ort eigener Wahl ein Generalstudium zu errichten; er wandte sich daraufhin nach Neapel. Der Tod ereilte ihn auf dem Wege zum 2. Konzil von Lyon. – Das Werk des Aquinaten umfasst alle Gattungen damaliger theologischer und philosophischer Schriftstellerei. Am Anfang steht ein Kommentar zu den Sentenzen. Die Bibelkommentare nähern sich in der Form den Quaestionensammlungen. Wie in der Theologie, so versicherte sich Thomas auch in der Philosophie der vorgegebenen Grundlagen der eigenen konstruktiven Arbeiten. In seinen Aristoteles-Kommentaren verfolgt er kritische Fragestellungen: Er unternimmt es, aus den Kommentaren den „echten“ Aristoteles herauszuschälen; Averroes wird ihm aus dem autoritativen „commentator“ zum „depravator“ (Verderber) der Lehre des Philosophen.

Neben den Kommentaren zu Aristoteles stehen auch solche zu Boethius, zu Pseudo-Dionysius Areopagita und dem Neuplatoniker Proklus.

Gleichsam zwischen den Kommentarwerken und den großen selbständigen Entfaltungen des eigenen Ansatzes stehen die kleinen Werke (opuscula), zumeist hervorgegangen aus akademischen Disputationen, sowie Streit- und andere Gelegenheitsschriften.

Seine theologische Position hat Thomas zweimal in eigenständigen Systementwürfen ausgearbeitet. Die Summa contra Gentiles (gegen die Heiden, also primär Muslime) verfasste Thomas auf Anregung seines Ordensbruders Raimund von Peñaforte (s.o. S. 109); es wird in der Forschung diskutiert, ob sich das Buch zugleich auch in apologetischer Absicht an die „Averroisten“ in der Pariser Artistenfakultät (s.o. S. 111) richtet. Den Gesamtertrag seines Denkens hat Thomas dann in der „Summa Theologica“ niedergelegt. Er begann sie 1266 und brach die Arbeit aus unbekannten Gründen im III. Hauptteil 1273 ab; Schüler ergänzten später das Fehlende, indem sie auf die inhaltlich entsprechenden Ausführungen des Sentenzenkommentars zurückgriffen.

„Da der Lehrer der katholischen Wahrheit nicht nur die Fortgeschrittenen bilden muss, sondern es ihm auch obliegt, die Anfänger zu unterrichten …, ist es in diesem Werk unsere Absicht, das, was die christliche Religion betrifft, so vorzutragen, wie es für den Anfängerunterricht angemessen ist“. – Mit diesen Worten beginnt der Prolog der Summa Theologica des Thomas. Sie hat das Ziel, Anfänger auf die eigentliche Sinnmitte der Theologie, das Schriftstudium, vorzubereiten. Was auf den Prolog folgt, ist ein Riesenwerk, das in einer reinen Textausgabe (z.B. Rom 1886f.) 4.560 eng bedruckte Seiten füllt. Der Umfang ist bedingt durch die schiere Quantität der bewältigten Stoffmassen: Thomas erörtert den gesamten Umfang der ihm zugänglichen Lehrtradition. Neben der Schrift, den Kirchenvätern und den philosophischen Autoritäten bzw. Gesprächspartnern werden auch Texte des Kirchenrechts und neuerer Theologen extensiv zitiert und erörtert.

Die Breite und Mannigfaltigkeit des verarbeiteten Materials bezeugt sein umfassendes Erkenntnisinteresse: Vom Standpunkt des christlichen Gottesglaubens konstruiert Thomas ein Gesamtbild von Gott und Welt, Mensch und Geschichte, das sich von der anfangslosen Ewigkeit Gottes bis zur Vollendung der Welt und des Menschen erstreckt und die Grundfragen der Metaphysik und der Erkenntnistheorie ebenso detailliert behandelt wie die konkreten ethischen und rechtlichen Probleme des menschlichen Zusammenlebens in der Welt des hohen Mittelalters. Theologie wird hier zum Gesamtentwurf einer umfassenden Wirklichkeitsdeutung, die prinzipiell keinen Fragekomplex fremder Zuständigkeit anheimstellt und sich zugleich verpflichtet, den (freilich nach ihren Vorgaben gefassten!) Kriterien der Rationalität und Plausibilität zu genügen. Das mit einem schlechthin universalen Deutungsanspruch auftretende System der Theologie kann als passgenaues intellektuelles Gegenstück zum Anspruch des Papsttums auf universale Oberherrschaft in Kirche und Welt gelesen werden. Dass das System keine ausgeführte Ekklesiologie enthält, widerspricht dieser Deutung nicht, sondern stützt sie: Das Werk als Ganzes stellt und bewährt in allen seinen Einzelteilen den umfassenden Deutungs- und Leitungsanspruch der Kirche, welcher in ihrer dem Einzelnen wie der Gesellschaft insgesamt gleich notwendigen Funktion als Heilsmittlerin gründet. Auf die Tatsache, dass dieses titanische Werk Fragment geblieben ist, fällt noch einmal ein besonderes Licht, wenn man seinen kirchengeschichtlichen Kontext mitbedenkt.

Die kleinsten literarischen Einheiten des Werks sind die insgesamt ca. 3.000 articuli, also Erörterungen von Einzelfragen, die kunstgerecht im immer wiederkehrenden Schema der quaestio (s.o. S. 105) abgehandelt werden. Die einzelnen articuli sind jeweils in die Erörterung einer übergeordneten Leitfrage (quaestio) eingeordnet. Die quaestiones wiederum fächern die Themen der großen Hauptteile (partes) des Werks auf.

Der erste Hauptteil (I, pars prima) ist zunächst Vorfragen gewidmet: Vernunft und Offenbarung werden einander im Modell der sich wechselseitig fordernden Stufen zugeordnet. Der Glaube kommt dabei zu stehen als von Gott gewährte Möglichkeit der Erweiterung und Vervollkommnung des menschlichen Erkennens. Diese Vorerwägungen machen deutlich, wie sehr Thomas, gegen die augustinische Denktradition, in der Anthropologie den Vorrang der Erkenntnis vor dem Willen betont.

Die folgende Gotteslehre kann als beispielhafte Durchführung der prinzipientheoretischen Erwägungen am Stoff gelten: Dass Gott existiert, vermag der menschliche Intellekt durch den Rückschluss von den Wirkungen auf ihre Letztursache festzustellen; dass er von Ewigkeit her als dreieiniger subsistiert, ist eine geoffenbarte Glaubenswahrheit, welche die vernünftige Einsicht jedoch nicht ins Unrecht setzt, sondern sie vertieft und erweitert.

Im Anschluss daran wird die Schöpfung, kulminierend im Menschen, behandelt und die Lehre von der göttlichen Weltordnung und Weltregierung entfaltet. Gott ist als die schlechthin souveräne Erstursache aller Wirklichkeit gedacht, die sich der geschöpflichen Mittelursachen bedient. Zu diesen Mittelursachen gehört auch die als psychologisches Faktum bejahte menschliche Freiheit, deren Wirkungen jedoch immer schon durch Gott vorherbestimmt sind. Auf diese Weise wird alles Geschehen, ereigne es sich nun im Zuge des göttlichen Schöpfungs- oder Heilshandelns, auf deterministische Weise auf Gottes souveräne Allursächlichkeit zurückgeführt. In der Gnadenlehre bereiten also die prädestinatianischen Spitzensätze Augustins dem Aquinaten keine Probleme, wenngleich er sie in einen anderen theologischen und anthropologischen Kontext einordnet.

Handelt so der erste Teil von Gott selbst und von seinem Aussichherausgehen in der Schöpfung, so kehrt der zweite Hauptteil (II, pars secunda) die Blickrichtung um und beschreibt die Bewegung der Kreaturen auf die Einkehr in den Schöpfer hin.

Dieser Teil zerfällt in zwei große Unterabteilungen. Die erste (I/II, prima secundae) behandelt grundsätzlich die menschliche Bewegung zum Schöpfer und zur Vollendung hin und thematisiert dann den Menschen als Handelnden, und zwar seine Handlungsmotivationen, das Problem der Angemessenheit seiner Handlungen (Tugenden und Laster) sowie Gottes Beeinflussung des menschlichen Handelns durch das Gesetz und die Gnade. Die zweite Unterabteilung (II/II, secunda secundae) konkretisiert diese noch relativ abstrakten Überlegungen, indem sie anhand des doppelten Schemas der theologischen und der philosophischen Tugenden sowie der unterschiedlichen Lebensstände ein unvergleichlich detailreiches Normbild der menschlichen Gesellschaft zeichnet, das man in moderner Terminologie als formale und materiale Sozialtheorie bezeichnen könnte.

Der dritte Teil (III, pars tertia) konzentriert sich auf das souveräne Handeln Gottes, in welchem dieser Strebeprozess der Kreatur hin zum Schöpfer und hin zur Vollendung gründet: Person und Werk Jesu Christi werden abgehandelt, und die Lehre von den Sakramenten macht deutlich, wie die Gnade Gottes den zum Heil Prädestinierten zuteil wird und sie ans Ziel bringt – zur Vollendung, welche die Eschatologie zum Inhalt hat.

Der gesamte Prozess, in dem ein Mensch zum Heil gelangt, ist vom Anfang bis zum Ende von Gott her gestaltet: Am Anfang steht die Prädestination, in Jesus Christus eröffnet er die Möglichkeit des Heils, in den Sakramenten wird den Menschen das Heil wirkursächlich zugeteilt – Thomas hat in der Sakramentenlehre erstmals mit dem aristotelischen Ursache-Wirkungsschema plausibel gemacht, dass der äußerliche Sakramentsvollzug das innere Wirken Gottes am Seelengrund nicht allein abbildet, sondern ursächlich bewirkt. Im Schöpfungs-, Erlösungs- und Heiligungsprozess vollzieht Gott mit innerer Notwendigkeit sein ewiges Wesen – dieser Gedanke stammt letztlich von Augustin, und Thomas hat ihn in Vermittlungen von Denkern des 12. Jahrhunderts übernommen.

Schon dieser kurze Überblick macht deutlich, dass hier eine im Großen wie Einzelnen höchst schwierige doppelte Synthese vorliegt: Der theologische Überlieferungsstoff wird einmal in das aus dem Neuplatonismus stammende Schema des Ausgangs der Kreatur aus ihrem göttlichen Grund und deren Rückkehr in ihn gespannt. R. Seeberg hat diese Bewegung auf die prägnante Formel „von Gott – zu Gott – durch Christus“ (Theologie des Duns Scotus, 638) gebracht. Den in diesem Schema liegenden pantheistischen Tendenzen wirkt zum andern das auf Gottes Handeln in immer neuen Wendungen angewandte aristotelische Kausalschema entgegen: Gott wird als Urheber von seinen Wirkungen strikt unterschieden.

Vor allem mit dieser engen Anlehnung an Aristoteles befand sich Thomas in gefährlicher Nachbarschaft: Obwohl er sich in einem polemischen Traktat deutlich von den radikalen Aristotelikern in der Pariser Artisten-Fakultät (Siger von Brabant, Boethius von Dacien) distanziert hatte, rückten auch einige seiner Sätze ins Zwielicht, als der Pariser Bischof Stephan Tempier und Robert von Kilwardby, der Erzbischof von Canterbury, unabhängig voneinander 1277 lange Reihen von Thesen der beiden Genannten zensurierten. Sein Orden stand jedoch hinter ihm: Seit 1278 erließen die Generalkapitel Statuten, die die Lehre des Aquinaten für alle Ordensangehörigen verpflichtend machten. 1323 sprach ihn Papst Johannes XXII. heilig.

Die Lehre des Aquinaten blieb weiterhin allein im Dominikanerorden verpflichtend. Erst seit der Reformation wurde ihr gesamtkirchliche Autorität zugesprochen: Pius V. erhob Thomas 1567 zum Kirchenlehrer und stellte ihn in eine Reihe mit Ambrosius, Hieronymus und Gregor d. Gr.; der Codex Iuris Canonici von 1917 legte den philosophischen und theologischen Unterricht in den kirchlichen Ausbildungsstätten auf die Lehre des Thomas fest (can. 1366, §2; abgeschwächt im Codex Iuris Canonici von 1983, can. 251f.).

Die unvergleichliche Erfolgsgeschichte der Lehre des Thomas in der Neuzeit, die einige seiner heutigen Verehrer freilich auch als eine Geschichte der Fehlaneignungen bedauern, darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sein kühner Vermittlungsversuch zwischen damals modernem Denken und christlich-theologischer Tradition zunächst nur eine Option neben anderen darstellte und zudem massive Bestreitungen erfuhr. Der nicht ordensgebundene Heinrich von Gent (gest. 1293) betonte mit expliziter Wendung gegen Thomas Grundsätze, die auch die frühere Franziskanertheologie stark gemacht hatte: In der Anthropologie behauptete er den Vorrang des Willens gegenüber dem Intellekt und insistierte für die Gegenstände der Theologie auf einer besonderen, auf göttlicher Erleuchtung basierenden Weise der Erkenntnis.

Es war der aus Nordengland oder Schottland stammende Franziskaner Johannes Duns Scotus (gest. Köln 1308), welcher die an Augustin orientierten Einwände gegen Thomas bündelte und zugleich philosophisch derart auf eine neue Ebene erhob, dass sich ein wirklicher Gegenentwurf abzeichnete. Die peregrinatio academica führte ihn nach Oxford, Paris und zuletzt an das Studium seines Ordens in Köln; da er nur etwa 40 Jahre alt wurde, ist sein Lebenswerk Fragment geblieben. Die wichtigste Quelle für seine Theologie ist sein großer Sentenzenkommentar, der aus Vorlesungen in Oxford entstanden ist (Opus Oxoniense); daneben stehen Kommentare zu Aristoteles und anderen (spät)antiken Schriftstellern sowie Einzelabhandlungen, die sich auch auf mathematische und naturwissenschaftliche Themen erstrecken.

Erkenntnistheoretisch wertet Duns Scotus die konkret-individuellen Einzeldinge gegenüber den (weiterhin realistisch verstandenen!) Allgemeinbegriffen erheblich auf. In der Anthropologie räumt er dem Willen den Primat über die Erkenntnis/ den Intellekt ein. Auch Gott fasst er als grundlos-spontanen Willen; Gott will sich primär selbst, und darum will er auch die Schöpfung, welche er liebt, weil er sie will. Gottes Wille ist an keine vorgegebene Regel des Guten gebunden: Gott ist wesensmäßig gut, und darum ist der Inhalt seines kontingenten Willens mit innerer Notwendigkeit gut. Schranken hat sein Wollen allein an seiner wesenhaften Güte und an der Unmöglichkeit des Selbstwiderspruchs. Souverän, aufgrund seiner unbegrenzten Allmacht (potentia absoluta) legt sich Gott darauf fest, in bestimmten Fällen zuverlässig in bestimmter Weise zu handeln: Gott vollzieht in seiner Offenbarung die Selbstbindung seiner potentia absoluta an seine geordnete Allmacht (potentia ordinata). Gegenstand der theologischen Erkenntnis ist Gott, sofern er sich und seinen Willen kundgetan hat, also in seiner potentia ordinata, und zwar unter den Bedingungen des in Sünde gefallenen Menschengeschlechts.

Gottes Selbstoffenbarung und seine positiven Ratschlüsse liegen in der Schrift und der sie zuverlässig erläuternden Tradition der Kirche vor, welche ihrerseits die Wahrheit von Schrift und Tradition autoritativ verbürgt. Die Erörterung dieses Bestandes an Wahrheiten ist der Theologie aufgegeben. Man hat diese Erkenntnishaltung als „kirchlichen Positivismus“ charakterisiert. Das ist nicht falsch, muss allerdings präzisiert werden. Die bislang angesprochenen theologischen Positionen und die weiter aus ihnen zu ziehenden Folgerungen sind auf der Grundlage präzisester philosophischer Überlegungen ausgearbeitet. Dass die Theologie einen spezifisch anderen Erkenntnisgegenstand hat als die Philosophie und dass ihre Aussagen deshalb einen spezifisch anderen erkenntnistheoretischen Status haben, das sind bei Duns Scotus Sätze, die ihrerseits Anspruch auf philosophisch-rationale Plausibilität erheben. Weiterhin wird der vorgegebene Autoritätsstoff von ihm mit bislang ungekannter begrifflicher Schärfe analysiert und rekonstruiert. Auf diese Weise soll erwiesen werden, dass die theologischen Sätze zwar nicht denknotwendig, aber doch gedanklich möglich sind. Wo das nicht gelingt bzw. wo gedankliche Alternativen zur positiven Kirchenlehre einen höheren Grad an Plausibilität aufweisen, markiert Duns Scotus das, schließt sich jedoch der – manchmal freilich umgedeuteten – Kirchenlehre an.

In seiner Anthropologie betont Duns Scotus wie in der Gotteslehre den Freiheitsaspekt. Der in sich grundlose menschliche Wille ist nicht durch den Naturzusammenhang determiniert. Anders steht es mit seinem Verhältnis zu Gott. Hier gilt die Prädestinationsvorstellung. Gott setzt allerdings seinen ewigen Prädestinationsratschluss so um, dass darin gerade der subjektiv freie Wille des Individuums zur Wirkung kommt. Der Glaube ist ineins ein Werk des Willens, der den Intellekt bestimmt, und der Gnade (fides acquisita und infusa). Als Vorbedingung der heiligmachenden Gnade fordert Gott vom Menschen eine bestimmte Willensbetätigung, die anfanghafte Reue über seine Sünden (attritio). Dieser Willensleistung schreibt er kraft seines Heilsratschlusses, also kraft seiner potentia ordinata, den Wert eines Verdienstes zu, das Gott nicht annimmt, weil sein objektiver Wertgehalt ihn dazu nötigt (meritum de condigno), sondern weil er es aus gnadenhaft frei gesetzten Billigkeitsgründen der Annahme (acceptatio) für würdig befindet (meritum de congruo). So wird die Gott-Mensch-Beziehung, freilich vor dem Hintergrund der Prädestinationslehre, als das Verhältnis zweier freier, willensbestimmter Partner vorgestellt und analysiert. Pelagianisch will diese Fassung der Gnadenlehre dezidiert nicht sein: Es ist ja Gottes gnadenhafte Selbstbestimmung, die ein menschliches Werk überhaupt erst akzeptabel und verdienstlich macht.

Auch dieser Vorstellungskreis hat seine bestimmenden Wurzeln im Denken Augustins, und Duns Scotus steht mit seinen systematischen Zuspitzungen in einer bestimmten Traditionslinie theologischen Denkens im 12. Jahrhundert, das genau diesen Gedankenkreis gegen den anderen, von Thomas (s.o. S. 116) bevorzugten stark gemacht hatte.

Thomas von Aquin und Duns Scotus repräsentieren jeweils systematische Ansätze, in deren Zentrum die differenzierte Zuordnung von Glauben und Denken, kirchlicher Überlieferung und erneuerter Wissenschaft stand. Sie vertraten diese Intention jedoch in charakteristisch unterschiedlichen Akzentuierungen: Während bei Thomas die Betonung mehr auf die differenzierte Zuordnung fällt, liegt sie bei Duns Scotus eher auf der differenzierten Zuordnung.

Thomas starb, als das Papsttum nach der Vernichtung der Staufer äußerlich auf der Höhe seiner Macht stand. Duns Scotus musste 1303 zeitweilig aus Paris weichen, weil er sich der Mitwirkung an einer kirchenpolitischen Aktion des französischen Königs gegen Papst Bonifaz VIII. verweigerte, welche in die Vorgeschichte der Katastrophe von Anagni (s.o. S. 71f.) gehört.

Ökumenische Kirchengeschichte

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