Читать книгу Karrieren der Gewalt - Группа авторов - Страница 10

Karrieren des Terrors

Оглавление

Demgegenüber geht es der neueren Täterforschung eben nicht darum, die Täter kurzschlüssig als verlängerten Arm ihrer Vorgesetzten, sondern als eigenständige Akteure des Vernichtungsprozesses zu deuten, mit dem dieser erst seinen Schwung und seine Dynamik erhielt. Zum Gegenstand der Forschung werden daher die allzu lang übersehenen Täter jenseits der Führungsetage, die von Wolfgang Benz angemahnten „Täterbiographien der zweiten und dritten Handlungsebene“27 in Wehrmacht, Polizei und ausländischen Kollaborationsgruppen. „Das ist das Beunruhigende: Handlungsmöglichkeiten öffnen sich in jede Richtung“, urteilte Alf Lüdtke über jene dort sichtbar werdende Palette von Hinnehmen, Mitmachen und kreativem Selberhandeln. „Jeder einzelne machte sich die Befehle zu eigen, nutzte dabei alltagsweltliche Orientierungen, vermengt mit ideologisch geprägten Vorurteilen wie mit NS-Stereotypen: Gewalt- und Mordimaginationen hatten dabei jede Chance. Die Mischungen bestimmten, was ‚man‘ tat – und wie man es tat. Unerläßlich sind biographische Erkundungen. Sie lassen ihrerseits nicht nur Einzel- oder gar Sonderfälle erkennen, markieren vielmehr das Spektrum des Möglichen.“28

In diese Richtung zielen die Beiträge dieses Bandes. Ihre Objekte sind die ‚kleinen‘ Schwungräder des Genozids und deren eigenständiger Beitrag zur Initiierung und Realisierung von Massenmord und Judenvernichtung. Dabei wird die noch bei Herbert Jäger29 durchgeführte Beschränkung auf strafrechtlich verfolgte Täter ebenso vermieden wie die ausschließliche Begrenzung auf männliche Täter, ohne daß die dabei entstehenden, z.T. gravierenden Quellenprobleme von den Autoren und Autorinnen dieses Bandes verschwiegen werden. Denn Biographien bieten zwar die größtmögliche Annäherung an die Akteure des Genozids, stoßen jedoch vielfach an die Grenzen der Rekonstruierbarkeit und lösen darum längst nicht alle Fragen. Es bleiben – auch in diesem Band – Leerstellen, die sich mit den verfügbaren Daten nicht füllen lassen. Und es bleibt selbst dort, wo derartige weiße Flecken durch die Fülle der Quellen vermieden werden können, die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit des individuellen Exempels.

Karrieren im Sinne eines beruflichen und/oder politischen Aufstiegs erfolgen nicht voraussetzungslos und ohne identifizierbare Muster. Sie erweisen sich vielmehr abhängig von gesellschaftlich offerierten Aufstiegsmöglichkeiten und -modalitäten, von persönlichen Fähigkeiten und Begabungen sowie vom Engagement des Einzelnen für eine Sache oder ein Ziel, für die dieser immer mehr zu geben und zu leisten bereit ist als andere. Nur wem es dabei gelingt, sich in den Augen seiner Vorgesetzten als engagiert, kompetent und unersetzlich darzustellen, darf mit der Honorierung in Gestalt des Erklimmens einer weiteren Stufe der Karriereleiter rechnen. Karrieren sind dabei immer auch eine Funktion von gesellschaftlich bzw. gruppenspezifisch sanktionierten Formen der Anerkennung. Politisch tun sich neue Karrierechancen vor allem beim Wechsel von Regierungen, beim Aufbau neuer Zweige der staatlichen Verwaltung sowie im Falle der Expansion eines Gemeinwesens auf. In diesem Sinne offerierte auch das NS-Regime mit der Übernahme der Macht nach 1933 sowie mit der beginnenden militärischen Expansion nach 1938/39 eine Vielzahl von neuen Möglichkeiten und Formen der beruflichen und/oder politischen Karriere.

Eine spezifische Variante dieser Karrieren war eine innerhalb des nationalsozialistischen Gewalt- und Terrorapparates. Die Spezialisierung auf verschiedene Formen der Gewaltausübung sowie die Konzeptualisierung und Durchsetzung neuer Gewaltformen etwa im Rahmen der „Befriedung“ besetzter Territorien, der Euthanasie und des Judenmords begründeten qualitativ völlig neue Karrieren der Gewalt sowie die Herausbildung eines besonderen, mobil einsetzbaren Expertentums der „Endlösung“. Die größte Aussicht, derartige Karrierewege einzuschlagen, hatten jene NS-Aktivisten, die bereits über Gewalterfahrungen verfügten oder sich als besonders engagiert erwiesen. Das Spektrum der dabei praktizierten Gewalt und deren Motivationen waren breit gefächert. Es reichte von der bürokratisch-mittelbaren Tätigkeit am Schreibtisch bis hin zur physisch-unmittelbaren Exzeßtat, von der extrinsischen bis zur intrinsischen Gewaltmotivation. Typisch indes war die Melange aus eigenständiger individueller wie staatlich verordneter Gewalt – Formen der Gewalt, die oft nur schwer zu separieren waren, sich gegenseitig bedingten und erst dadurch ihre spezifische Kraft und Dynamik entfalteten. Während der Begriff der Karriere in unserer Gesellschaft überwiegend positiv im Sinne von beruflichem Aufstieg konnotiert ist, verwenden wir ihn hier im negativen Sinne als Aufstieg innerhalb eines kriminellen Milieus der Gewalt. Dabei begreifen wir Gewalt nicht individualpsychologisch als aus psychologischen Dispositionen und Motiven ableitbare Kraft, sondern als eigenständigen situativen Sozialisationsfaktor, als Kraft, die fasziniert, anzieht und die Beteiligten partiell und zeitweise verändert.30

Die in diesem Band vorgestellten 23 Täterbiographien umspannen ein breites Spektrum nationalsozialistischer Gewaltkarrieren mit mehr oder minder deutlich ausgeprägten Korrelationen zwischen der individualpsychologischen und der gesellschaftlichen Entwicklung. Unter ihnen sind fünf Angehörige der Geheimen Staatspolizei, je drei der Ordnungspolizei und der Konzentrationslager-SS, je zwei des Sicherheitsdienstes, der Wehrmacht, der Kriminalpolizei, der „Aktion Reinhard“, der Allgemeinen SS und der Waffen-SS. Die Geschlechterverteilung ist eindeutig maskulin dominiert; es handelt sich um 21 Männer und zwei Frauen. Breiter gefächert sind dagegen die Tatorte ihrer Verbrechen; mit 13 Schauplätzen der Gewalt liegt die Sowjetunion an der Spitze, gefolgt von fünf in Polen, drei im Deutschen Reich und je einem in den Niederlanden und in Italien.

Karrieren der Gewalt

Подняться наверх