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Gewaltmilieus

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Es wäre verkürzt, die Biographien der Täter auf solche individualisierenden Merkmale zu reduzieren und sie aus dem Kontext ihrer Taten zu isolieren, wie dies in der strafrechtlichen Behandlung der NS-Täter jahrzehntelang der Fall war. Neben der Würdigung biographischer Muster gilt es daher immer auch die kollektiven sozialen und kulturellen Handlungszusammenhänge zu berücksichtigen, denen ein eigenständiger Sozialisationseffekt zugeschrieben werden kann. Es ist darum angebracht, den klassischen biographischen Ansatz in handlungstheoretischer Perspektive zu erweitern. Denn Hans Mommsen hat völlig recht, wenn er bezweifelt, daß es ausschließlich im Wege der biographischen Rekonstruktion gelingen kann, das Mordgeschehen wirklich transparent zu machen, zumal Täterschaft schließlich kein individuelles Phänomen, sondern ein arbeitsteiliger sozialer Akt war. Während im traditionellen individualbiographischen Ansatz den Faktoren Jahrgang und Generation, soziale Herkunft und Bildung, Ausbildung und Beruf ein großer Erklärungswert beigemessen wird, hebt jener Ansatz eher auf konkrete Handlungsfelder und auf die in ihnen gemachten Erfahrungen ab.

In den Beiträgen dieses Bandes erweisen sich mindestens drei Handlungsmilieus für die Karrieren der Gewalt als relevant, über die allesamt noch immer viel zu wenig bekannt ist: die gewalttätigen und gewaltbereiten völkisch-nationalistischen Milieus der 1920er Jahre, das nationalsozialistische Binnenmilieu der Zeit nach 1933 sowie das besondere terroristische Milieu im Generalgouvernement und in den Reichskommissariaten im deutschen Osten. Für die Zeit vor Beginn des Zweiten Weltkrieges lassen sich so mindestens drei politische Sozialisationskontexte einer „radicalizing career“ benennen, deren Prägekraft so bedeutend war, daß sie tendenziell Faktoren der generationellen Zugehörigkeit, der sozialen Herkunft und der Bildung paralysierten: eine Gewaltsozialisation der Älteren in den Grabenkämpfen und Stoßtrupps des Ersten Weltkrieges, die vielfach ihre Fortsetzung in den Freikorps der Nachkriegswirren fand; die Einbeziehung der Jüngeren in die Haß- und Gewaltkultur der radikalen völkisch-nationalistischen bzw. bereits nationalsozialistischen Organisationen der Weimarer Republik sowie schließlich eine bis zur aktiven Täterschaft reichende frühzeitige aktive Einbindung in die Organisationen des NS-Regimes.

Das Erlebnis aktiver soldatischer Gewalt und der Überschreitung bürgerlicher Gewaltgrenzen zwischen 1914 und 1918 hatten in unserem Sample Bechtolsheim, von Bomhard, von Gottberg, Szymanowski und Wirth gemacht. Dirlewanger war Führer eines MG-Stoßtrupps gewesen. Das Erleben der Stoßtruppeinsätze und das erstmalige Ausleben exzessiver Gewalt bestimmten maßgeblich sein weiteres Leben. Im „heroischen Realismus“ von Literatur und Publizistik, von Photographie und Kino erfuhr die Gewaltsozialisation des Fronterlebnisses in den Jahren der Republik, wie wir etwa aus den Analysen von Klaus Theweleit wissen,43 eine retrospektive Verherrlichung und verlängerte sich damit in die Kriegsjugendgeneration hinein. Damit entstand ein über Jahrzehnte hinaus wirksamer Deutungsfundus, der politisch-kulturell – also im Sinne einer Deutung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – umfassend ausgeschöpft wurde.

Eine deutliche Korrelation zeigt sich darüber hinaus hinsichtlich der späteren NS-Täterschaft und der Zugehörigkeit zu einer der zahlreichen republikfeindlichen, rechtsextremen und „nationalen“ Kameradschaftsbünde und Freikorpsgruppen und damit einer politischen Sozialisation im Klima entgrenzter Gewalt gegen Kommunisten, Bürgerliche und Juden, wie sie etwa Ernst von Salomon in seinem Roman „Die Geächteten“ und Emil Julius Gumbel in seiner Darstellung „Verräter verfallen der Feme“ eindrucksvoll geschildert haben.44 Mehr als die Hälfte aller hier vorgestellten Täter war bereits seit jungen Jahren in die Netzwerke rechtsextrem-völkischer Gewalt involviert.45 Von Bomhard etwa war bereits während des Weltkrieges Ordonnanz und später Adjutant des Regimentskommandeurs Ritter von Epp gewesen. Nach dem ‚Zusammenbruch‘ gehörte er dem gleichnamigen Freikorps an. Auch Bechtolsheim nahm mit diesem Verband an der blutigen Niederschlagung der Münchner Räterepublik teil. Von Gottberg hatte nach dem Ausscheiden aus der Reichswehr bis 1924 der Marinebrigade Ehrhardt angehört, die 1920 in Berlin einmarschiert war und den Kapp-Putsch ausgelöst hatte. Dirlewanger, seit 1919 Mitglied des Deutsch-Völkischen Schutz- und Trutzbundes, kämpfte bei verschiedenen Freikorps-Einheiten. Zill hatte seine ersten politischen Erfahrungen im Grenzschutz Plauen erworben. Zapp war Redner und Publizist im rechtsradikalen Milieu gewesen. Michalsen, bereits früh durch den Konflikt um Oberschlesien geprägt, gehörte seit 1924 dem Wehrwolf, einer regionalen völkischen Organisation, an. Krüger war bereits als 16jähriger im rechtsextremen Milieu aktiv. Seetzen hatte sich bereits als Schüler dem Jungstahlhelm angeschlossen. Und Tessmann war von 1925 bis 1930 Mitglied des Jungdeutschen Ordens.

Auch dies korreliert mit den Befunden von Michael Mann, wonach zwar nur 3,5 Prozent aller Weltkriegsveteranen in einem der zahlreichen Freikorps gedient hatten, aber 30 Prozent der vor der Jahrhundertwende geborenen späteren NS-Täter und noch 9 Prozent der Angehörigen der Kriegsjugendgeneration Freikorpsverbänden angehört hatten, von denen sich wiederum mehr als zwei Drittel später der NS-Bewegung anschlossen. „Thus many of the older perpetrators had engaged in political killings long before they became Nazis.“ 46 Neben der Mitgliedschaft in den Gruppierungen rechtsextrem-völkischer Gewalt fallen einige regionale Netzwerke auf. Hat Michael Wildt in seiner „Generation des Unbedingten“ die Bedeutung solcher Vernetzungen am Beispiel der Universitäten in Tübingen und Leipzig herausgearbeitet,47 so verweisen einige Darstellungen dieses Bandes auf ein frühes völkisch-nationalsozialistisches Präge- und Rekrutierungsmilieu in Kiel. Ehrlinger, Szymanowski und Seetzen hatten während der 1920er Jahre an der dortigen Universität studiert und den Kontakt – wie übrigens auch Hamann – zum frühen SD um Reinhard Heydrich gefunden. Aus diesem Milieu rekrutierte SD-Chef Heydrich 1934 etliche Angehörige der Münchner SD-Führung sowie seine frühen Juden-Referenten.48

Die Mehrzahl der späteren Täter dieses Bandes konnte eine bereits in den 1920er Jahren begonnene NS-Sozialisation nachweisen. Dirlewanger, Wirth und Zill hatten der NSDAP noch vor deren Verbot im Jahr 1923 angehört. Zur Gruppe der ‚alten Kämpfer‘, die zwischen 1926 und 1932 Mitglied der Partei geworden waren, zählten darüber hinaus Szymanowski (1926), Michalsen (1928), Hamann (1931), von Gottberg, Koch und Tessmann (1932). Der frühen SS hatten Zill (Eintrittsjahr 1926), Hamann (1931), Michalsen, von Gottberg, Reder und Tessmann (alle 1932) angehört. Seetzen, Lombard und Slottke hatten 1933 eine Mitgliedschaft in der NSDAP beantragt. Daß eine frühe NS-Mitgliedschaft allerdings kein hartes Faktum zur Erklärung von Täterbereitschaften ist, machen Bergmann, von Bomhard und Nord deutlich, die erst 1937 bzw. 1940 den Weg zur Partei Hitlers fanden. Bechtolsheim und Pallmann schließlich haben nie einer NS-Organisation angehört. Die meisten der späteren Täter waren beim Eintritt in die NS-Bewegung zwischen 20 und 30 Jahre alt (Michalsen 21, Hamann 23, Tessmann 24, Bergmann 25, Szymanowski, Dirlewanger, Seetzen und Wirth 27). Aus diesem Bild fallen Zill bzw. von Bomhard heraus, die bereits mit 17 bzw. erst mit 46 Jahren der NSDAP beitraten. Michael Mann hat diese jungen Männer daher als „prewar extremists“ bezeichnet.

Die frühe Einbindung der späteren Täter in die jeweiligen NS-Organisationen begründete eine politische Sozialisation im Klima des Hasses, des rassistischen Vorurteils, der vitalistischen Gewaltverherrlichung und der hemmungslosen Gewaltausübung, hinter der individualpsychologische Motive und Dispositionen verblassen.49 Am Beispiel von Ehrlinger, der seit 1931 einer sich selbst als „Mördersturm“ bezeichnenden Charlottenburger SA-Formation angehörte, hat Michael Wildt auf die Bedeutung des Gemeinschaft stiftenden Kampferlebnisses und die sozialisierende Macht des Gewaltkollektivs hingewiesen. Bürgerkrieg war dort zur Gewohnheit geworden. Die praktizierte Gewalt synthetisierte deren Mitglieder zur verschworenen Kampfgemeinschaft.50 „Durch die gemeinsam verübte Gewalttat war jeder mitverantwortlich, zumindest hörte man in Bar und Sturmlokal von den Blutnächten und war somit zum Mitwisser in einem durch Gewalt bestimmten Organisationsleben geworden. Wichtig war, daß die Männer der Kampfbünde gemeinsam, quasi arbeitsteilig, ihre Gewalttaten verübten. Die kollektive Aktion duldete keine ‚Unschuldigen‘. Jeder Kampfbündler, der in einer Kleingruppe bei einem Zusammenstoß beteiligt war, nahm auch aktiv an der Schlägerei, Messerstecherei oder Schießerei teil. Insofern stellten die gemeinsam betriebenen Gewalttaten eine eminent einigende Kraft dar. Gewaltsozialisation und kriminelle Komplizität verschmolzen in den Kampfbundgruppen. Ein Gewalt favorisierender Ehrenkodex und die Gewöhnung an die Gewalt bildeten zwei Seiten derselben Medaille. Durch die Permanenz der Gewaltausübung wurde die Gewalt routinisiert und zu einem Wert an sich.“51 Diese von Sven Reichardt formulierte Erkenntnis über die integrative Funktion rechter Gewalt, die sowohl für die ‚Kampfzeit‘ wie für die Kriegszeit gültig ist, war bereits Goebbels vollkommen bewußt. „Blut kittet aneinander“, lautete dessen Version.52

Neue Karrierechancen in Partei- und Staatsapparat nach 1933, definiert durch schnellen Aufstieg und gesichertes Einkommen, scheinen diese Einbindungen noch intensiviert zu haben. Aus etlichen „prewar extremists“ wurden nun „full-time Nazis“. Etwa die Hälfte der hier vorgestellten Männer ist dieser von Michael Mann klassifizierten Tätergruppe zuzurechnen, deren beruflicher und politischer Lebensmittelpunkt nach 1933 die NS-Bewegung wurde. SS, SD, Gestapo, Kripo, Schutzpolizei, Gendarmerie und das frühe System der Konzentrationslager vermittelten diesen Männern oftmals unmittelbar nach Hitlers Machtantritt eine sinnstiftende und materiell abgesicherte beruflich-politische Lebensperspektive, für die Männer wie Ehrlinger und Zapp sogar ihre bürgerliche Existenz aufgaben. Ehrlinger wurde 1934 Stabsführer der Zentralabteilung I 3 im SD-Hauptamt; Zapp avancierte 1938 zum hauptamtlichen Mitarbeiter des SD-Hauptamtes, nachdem er bereits seit 1934 dort nebenamtlich tätig gewesen war. Hamann, 1933 über die Hilfspolizei hauptamtlich zur SS gekommen, stieg bis zum Adjutanten Heydrichs auf, bevor er in der Sicherheitspolizei Karriere machte. Krüger hatte nach Jahren der Arbeitslosigkeit zunächst in der SA eine berufliche Festanstellung gefunden, bevor er 1938 nach einem Zwischenspiel als stellvertretender Leiter eines Arbeitsamtes zur Sicherheitspolizei wechselte. Seetzen bot Himmlers Gestapo unmittelbar nach Abschluß seines zweiten juristischen Staatsexamens eine beruflich-politische Karriere. Er leitete zunächst ein Konzentrationslager, bevor er 1934 eine neueingerichtete Stapo-Stelle übernahm. Ähnlich wie in dem Sample von Michael Mann, in dem knapp 10 Prozent aller späteren Täter 1933/34 eine hauptberufliche Gewaltkarriere im KL-Wesen begonnen hatten, wurde das Lagerwesen auch für Tessmann und Zill Beruf und politische Heimat. Tessmann wurde im September 1934 als Wachmann ins KL Fuhlsbüttel abgeordnet. Zill tat zunächst in den frühen KL Hohenstein, Sachsenburg und Lichtenburg Dienst, bevor er im Herbst 1936 von der Wachtruppe in den Kommandanturstab und 1939 zum ersten Schutzhaftlagerführer des KL Dachau aufstieg.53

Karin Orth hat die als „Dachauer Schule“ bezeichneten spezifischen Muster der internen SS-Sozialisation im Lager beschrieben: „Das ‚Interesse des Vaterlandes‘ und die vermeintliche Gefährlichkeit der Häftlinge waren die Bezugsgrößen, mit denen man Brutalität zu legitimieren suchte. Zudem erschien die Gewalttätigkeit als Inbegriff von Männlichkeit. Um ihres Selbstbildes willen, aus Angst vor dem Spott der ‚Kameraden‘ und vor den Sanktionen der Vorgesetzten schlugen die SS-Männer zu; nichts fürchteten sie mehr als das Verdikt der ‚Weichheit‘.“54 Im Kern seien die Männer der Konzentrationslager-SS durch die gemeinsam verübten Verbrechen zusammengehalten worden, „durch die gemeinsame dienstliche Sozialisation und Dienstausübung, die Formen der kollektiven Gewalt hervorbrachte“. Zugleich wurde der Gebrauch des Terrors durch die rechtlichen und organisatorischen Prozesse der Entgrenzung von Herrschaft forciert, die von den Akteuren als zunehmende Enthegung von Gewalt erfahren wurde und wiederum neue Gewaltpotentiale freisetzte. Emotional verstärkend kam hinzu, daß sich diese Täter vielfach in identischen SS-geprägten Lebenszusammenhängen bewegten, in denen sie sich auch sozial aufgehoben und bestätigt fühlen konnten. Hamann und Heuser haben ihre Ehefrauen in der SD-Adjutantur bzw. unter den Angehörigen der deutschen Besatzungsmacht kennengelernt. Zill lebte zusammen mit seiner Familie in der Dachauer SS-Siedlung.55 Koch bewohnte mit ihrem Mann und ihren Kindern das „Haus Buchenwald“ auf dem Gelände des gleichnamigen Konzentrationslagers.

Während einige „full-time Nazis“ wie Dirlewanger eine ununterbrochene Gewaltbiographie aufweisen konnten, die vom Stoßtrupp des Ersten Weltkrieges über das Freikorps, die frühe NSDAP-Mitgliedschaft, die SA und den Legionär im Spanischen Bürgerkrieg bis hin zum Liquidator des Warschauer Aufstandes reichte, setzte bei anderen Tätern wie Pallmann der Einstieg in eine offene kriminelle Karriere erst mit Beginn des Krieges ein. Neben die Gewaltsozialisation in den NS- und SS-Organisationen tritt somit als weiterer Erklärungsfaktor die Gewaltpraxis des nationalsozialistischen Krieges mit seinen neuen Entgrenzungen und Radikalisierungsschüben.56 Der Krieg fungierte dort als eigenständige Sozialisationsagentur, wie dies Omar Bartov schon vor Jahren für die Soldaten der Wehrmacht betont,57 Gerhard Paul für die Beamten der Kieler Gestapo nachgewiesen58 und Christopher Browning für die Angehörigen der an Mordaktionen beteiligten Polizeibataillone belegt hat, von denen die meisten eben nicht nach 1933 in NS-Organisationen sozialisiert worden waren59. Vor allem im Osten schuf der Krieg entgrenzte gewaltpraktische Handlungsspielräume für die Realisierung rassistischer Utopien, die im Sinne bestehender Umgestaltungsmentalitäten genutzt wurden.60 Hitlers Kriegsgerichtsbarkeitserlaß etwa hob die bis dato gültigen Konventionen der Kriegsmoral auf und begründete ein System der kollektiven Verantwortungslosigkeit. Das diffus-totalisierende Feindbild des „Partisanen“ und des „jüdischen Bolschewismus“ verwischte die Grenze zu anderen Verfolgtengruppen und involvierte vor allem die jüdische Bevölkerung in den Sog des Vernichtungskrieges. Die Delegation der Entscheidung über die Gewaltausübung nach ‚unten‘ öffnete dem Terror die letzten Schleusen.

In den spezifischen Gewaltmilieus des Generalgouvernements und der Reichskommissariate des deutschen Ostens fanden diese Entgrenzungsprozesse des Krieges ihren manifesten Ausdruck, steigerte sich die Gewalt zum alltäglichen Terror, der immer mehr nach dem Prinzip ‚tabula rasa‘ ausgeübt wurde.61 Für etliche Täter bildete die Milieusozialisation im Osten die dritte Stufe ihrer „radicalizing career“, die sie endgültig zu Massenmördern machte und den Einstieg in eine offene kriminelle Karriere begründete. In den Beiträgen über Dirlewanger, Ehrlinger, Gaier, Hamann, Heuser und Krüger wird die Bedeutung dieses durch eigene Normen gegenüber der Selbst- wie der Fremdgruppe, durch neue unbürgerliche Verhaltensweisen sowie durch eigene Institutionen strukturierten Milieus deutlich. Im ‚Feindesland‘ fühlte man die mitgebrachten rassistischen Vorurteile über die in Ghettos und Lagern zusammengepferchten Juden und Kriegsgefangenen bestätigt, verspürte man das Gefühl unbegrenzter Macht als „Herr über Leben und Tod“ (Pallmann) oder „König von Stanislau“ (Krüger), überschritt man auf der Basis dieser corporate identity gemeinsam mit ‚Kameraden‘ die bisherigen Grenzen des bürgerlichen Normenhorizontes. Zu den spezifischen Milieuinstitutionen und -riten des deutschen Ostens, die gleichermaßen Geborgenheit wie rauschartigen Gewaltexzeß offerierten, zählten Unterkünfte und Kasernen, „Deutsche Häuser“ und Offizierskasinos, die voyeuristische Teilnahme an öffentlich stattfindenden Exekutionen und das ungebremste Ausleben sexueller Wunschphantasien in individuellen wie kollektiven Vergewaltigungen. Gewaltexzesse, das Sich-Austoben in willkürlichen Razzien und Nacht- und Nebelaktionen in jüdischen Vierteln waren dabei nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Schwarze Kassen und aufgehäufte Lager mit geraubten Wertgegenständen waren allerorten an der Tagesordnung.62

Anschaulich hat Jürgen Matthäus dieses Milieu für Minsk beschrieben: „Dienstliches und Privatleben gingen ineinander über. In Minsk boten eine ganze Reihe von Veranstaltungen – Konzerte, Gedichtvorträge, Filmvorführungen, Theateraufführungen, Fußballspiele (,VfL Minsk gegen SS- und Polizeisportgemeinschaft‘) und andere Sportveranstaltungen – sowie ‚Kameradschaftsabende‘ in Heimen, Kasernen und Unterkünften Gelegenheit zur Zerstreuung.“ Die in der Nähe von Minsk gelegene Vernichtungsstätte Maly Trostinez habe Mitarbeitern des Kommandeurs der Sicherheitspolizei und des SD darüber hinaus als Ausflugsort und Bezugsquelle für Wertsachen aus der Hinterlassenschaft der Opfer gedient. Für Kielce im Generalgouvernement spricht Jacek Andrzej Młynarczyk in diesem Zusammenhang von der Herausbildung einer regelrechten „örtlichen Exzeßtäterszene“. Dieter Pohl berichtet für Stanislau von einem spezifischen „Besatzermilieu“, in das die verschiedenen Dienststellen eingebunden waren und das zugleich auch den Rahmen für private Kontakte absteckte.

Die Gewaltsozialisation innerhalb der NS-Bewegung sowie der nationalsozialistische Krieg können daher als situative Settings der Entgrenzung, als eigenständige Sozialisationsagenturen neben und gegen die biographischen Vorprägungen verstanden werden, die unterschiedliche generationelle und soziale Faktoren der Herkunft sowie differierende moralische Niveaus nivellierten und Verantwortlichkeiten für gewalttätiges Handeln zumindest zeitweise suspendierten bzw. paralysierten. Erst durch die entgrenzte Tat wurden die aus heterogenen Kontexten stammenden Männer zur homogenen Gruppe, die sich durch Kommunikation und beispielgebendes Handeln auf gemeinsames ‚Dichthalten‘ verständigt hatte. Allerdings begann dieser Prozeß vielfach eben nicht erst 1939, sondern hatte bereits Vorläufer in den 1920er und frühen 1930er Jahren. Die Spitzen der Gewalt, die Deportationen und der Massenmord, auf die die ältere Holocaustforschung isolierend fokussierte, erweisen sich in etlichen Biographien dieses Bandes somit nur als das Finale einer endlosen Welle alltäglicher Gewalt, die z.T. bereits mit dem Ersten Weltkrieg und der Nachkriegskrise ihren Lauf nahm.

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