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Beihilfe zum Ghettomord

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Der Reichskommissar Ostland, Hinrich Lohse, hatte als Etappenschritt auf dem Weg zur „endgültigen Lösung der Judenfrage“ in seinem Gebiet am 18. August 1941 „Vorläufige Richtlinien für die Behandlung der Juden“ erlassen. Diese „Mindestmaßnahmen“ ordneten an, „das flache Land […] von den Juden zu säubern“ und diese „tunlichst in Städten oder in Stadtteilen größerer Städte zu konzentrieren, die bereits eine jüdische Bevölkerung besitzen. Dort sind Ghettos zu errichten.“49 Diese Richtlinien blieben wegen des stockenden Aufbaus der Zivilverwaltung zunächst Papier. Erst Ende Oktober/Anfang November waren die Gebietskommissariate administrativ und personell imstande, mit der Umsetzung zu beginnen. Jetzt erst verfügten sie über eigene Polizeikräfte und eine rudimentäre Verwaltung. Eine der ersten Maßnahmen der neuen Besatzungsbehörden war es, die zumeist schon von der Wehrmacht eingerichteten jüdischen Wohnbezirke in feste, d.h. umzäunte und bewachte Ghettos zu verwandeln. Dieser Prozeß war in aller Regel zu Jahresende abgeschlossen.

Bechtolsheim mußte auf diese Situation reagieren. Er war jetzt nicht mehr der einzige Befehlshaber vor Ort, der entschied, wie mit den Juden zu verfahren sei. Die Macht mußte von jetzt an mit einer zivilen Verwaltung geteilt werden, die zu exekutiven Maßnahmen fähig war. Sein Lagebericht vom 3. November schien dem Rechnung zu tragen. Bezogen auf die 1,5 Millionen in Weißrußland lebenden Juden stellte er fest, daß „eine Aussiedlung in großem Maßstab, die allein Abhilfe schaffen könnte, […] z.Zt. nicht möglich“ sei. Um den Partisanen ihren Rückhalt zu nehmen, sei es aber unerläßlich, daß „das Judentum […] aus den Landbezirken entfernt, in Ghettos zusammengefaßt und von den aktiv bolschewistisch tätigen, mit den Banden weiterhin in Verbindung stehenden Elementen gesäubert“ werde.50 Es wird bei genauer Lektüre deutlich, daß jedoch von einem Einschwenken auf die Linie der Zivilverwaltung keine Rede sein kann. Obwohl er den Vorgang der Ghettoisierung akzeptierte, wird sichtbar, daß er ihn anders interpretierte – als Funktion der Partisanenabwehr – und sich gleichzeitig – wegen der damit verbundenen Gefahr bolschewistischer Zellenbildung in den Ghettos – alle Optionen für ein eigenständiges Vorgehen offenhielt. Der Lagebericht vom 10. November läßt daran keinen Zweifel. Unter dem Stichwort „Juden“ heißt es dort: „Da sie nach wie vor mit den Kommunisten und Partisanen gemeinsame Sache machen, wird die restlose Ausmerzung dieses volksfremden Elementes durchgeführt.“51 Das liest sich wie eine nachträgliche Würdigung der Aktionen von Neswish, Swierzna, Turec, Jeremice, die am Vortag in Mir ihren Abschluß gefunden hatten.

Umso mehr mußte ein Befehl überraschen, der zwei Wochen später erschien und solche Massenerschießungen ausdrücklich verbot. „Die Durchführung größerer Judenaktionen ist nicht Aufgabe der Einheiten der Division. Sie werden durch die zivile- oder Polizeibehörde durchgeführt, gegebenenfalls durch den Kommandanten in Weißruthenien angeordnet, wenn ihm dazu besondere Einheiten zur Verfügung stehen oder aber aus Sicherheitsgründen und bei Kollektivmaßnahmen. Wo kleinere oder größere Judengruppen auf dem Lande angetroffen werden, können sie entweder selbst erledigt oder aber in Ghettos an einzelnen größeren Orten, die hierzu bestimmt werden, zusammengebracht werden, wo sie dann der Zivilverwaltung bezw. dem S.-D. zu übergeben sind. Bei größeren Aktionen dieser Art ist vorher die zivile Verwaltung in Kenntnis zu setzen.“52 Was waren die Gründe für diesen plötzlichen Schwenk, der den Spielraum der Truppe beträchtlich einschränkte, weil er die Initiative für Großaktionen anderen Formationen überließ, erstmals die Übergabe zusammengetriebener Juden in Ghettos regelte und bei eigenen größeren Einsätzen eine strikte Informationspflicht gegenüber der Zivilverwaltung vorschrieb?

Den Auslöser für diesen überraschenden Befehl lieferte eine veränderte Lage. Sie war ablesbar an zwei Ereignissen. In Slonim waren am 14. November auf Befehl des Gebietskommissars Erren und unter Leitung eines Kommandos der Sicherheitspolizei aus Baranowicze 9500 jüdische Menschen aus dem Ghetto getrieben, mit LKWs zu den vorher ausgehobenen Gräben transportiert und dort von sich abwechselnden Exekutionskommandos erschossen worden.53 Die Mordaktion war sorgfältig geplant und unter den beteiligten Formationen – Sicherheitspolizei, Gebietskommissariat, Gendarmerie Slonim, RPB 69 (Todt), Ortskommandantur – vorher minutiös abgesprochen worden.54 Die am Ort stationierte 6. Kompanie des IR 727 war eingesetzt, in allen Phasen und in allen Funktionen: beim Ausheben der Gräben, beim Zusammentreiben der Juden, als Absperr- und Begleitkommando an der Exekutionsstelle, zum Einsammeln von Kleidern und Wertsachen und als Schützen.55 An einem Tag wurde mehr als die Hälfte der in Slonim lebenden Juden vernichtet. Der Tatort des zweiten Ereignisses war Minsk. Das mit 30.000 Insassen größte Ghetto Weißrußlands sollte nach dem Willen Heydrichs ab November vorübergehend auch zum Vernichtungslager für Zehntausende westeuropäischer Juden werden. Die offizielle Mitteilung über diesen Beschluß und die Ankündigung der ersten Deportationszüge für den 11. November sorgten im Reichskommissariat Ostland für große Aufregung und lösten einen regen Briefwechsel mit Reichsminister Rosenberg aus.56 Aber die Sicherheitspolizei hatte schon eine Antwort darauf erteilt: Ein Sonderkommando, unterstützt von litauischer und weißrussischer Hilfspolizei, erschoß in Minsk zwischen dem 7. und 11. November 6624 und am 20. November noch einmal etwa 5000 Juden.57

Bechtolsheims Befehl vom 24. November reagierte auf diese Entwicklung der Lage. Der Befehlshaber der 707. ID hatte wesentlich zu ihr beigetragen, indem er das exekutive Vakuum gefüllt hatte, das zwischen dem Abzug der Fronttruppen und der Etablierung von Zivilverwaltung und Sicherheitspolizei entstanden war. Dabei war er mehr als ein Lückenbüßer gewesen. Die von ihm betriebene Politik der Ausmerzung der Juden hatte eine Tatbereitschaft und ein Tötungsklima produziert, das nicht nur auf seine Division, sondern auch auf andere Institutionen der Besatzungsmacht Einfluß gehabt haben dürfte und die in der Folgezeit festzustellende Eskalation der Gewalt in Weißrußland verständlicher macht. Die Wehrmacht konnte sich nun von einer Tätigkeit zurückziehen, die sie vorübergehend und stellvertretend wahrgenommen hatte, die jetzt aber diejenigen Formationen weiterführen würden, zu deren Auftrag sie genuin gehörte. Die Heeresverbände konnten sich nunmehr wieder auf ihre originären militärischen Aufgaben besinnen. Insofern handelte es sich bei Bechtolsheims Schritt vom 24. November weniger um einen „Kurswechsel“,58 eher um eine Bestätigung seiner Linie. Der Rückzug erfolgte aber auch aus zusätzlichen Gründen. Für die jetzt angeordnete Zuführung der Juden in die Ghettos fehlten die Transportmittel und wohl auch das Personal, denn die dramatische Lage an der Front hatte mittlerweile auch die Etappe erreicht. Einheiten, die bisher der 707. ID zur Verfügung gestanden hatten, wurden plötzlich von der kämpfenden Truppe angefordert,59 und die verbliebenen Kräfte widmeten sich dem verstärkten Aufbau weißrussischer Hilfsverbände und Lehrgängen über die Bekämpfung der Partisanen.

Am 17. März 1942 wurden Bechtolsheim und seine 707. ID durch die 202. Sicherungsbrigade abgelöst und ins rückwärtige Heeresgebiet Mitte verlegt.60 Dort führten sie in der Zeit vom 24. März bis 7. April einen Großeinsatz gegen Partisanen südlich von Bobruisk durch. Das Ergebnis des unter dem Codenamen „Bamberg“ laufenden Unternehmens waren 3423 erschossene „Partisanen und Helfer“. Dem standen eigene Verluste von 7 Toten und 8 Verwundeten gegenüber.61 Schon dieses Mißverhältnis läßt ahnen, was die Verlaufsberichte im einzelnen bestätigen: Die meisten der Opfer wurden außerhalb von Kampftätigkeit bei „Befriedungsaktionen“ erschossen, waren also unbewaffnete Zivilisten.62 Unter den gegnerischen Kräften, so wurde vor und während der Aktion immer wieder gemeldet, befänden sich zahlreiche Juden.63 Nach Abschluß des Unternehmens „Bamberg“ wurde die Division aus Weißrußland abgezogen und in die Gegend von Brjansk verlegt.64 Dort ging es um andere Aufgaben – um die ausschließliche Bekämpfung von wirklichen Partisanen.65 Im Kampf mit ihnen hatte sich Bechtolsheim, wie eine Beurteilung seines Vorgesetzten belegt, offensichtlich gut geschlagen: „Vor dem Feind bewährt. Im Kampf gegen die Banden gute Erfolge gehabt.“66 Als er aber mit seiner Einheit direkt an die Front verlegt wurde, zeigten sich seine Grenzen als Truppenführer. Er wurde in die Führerreserve versetzt und tat ab 1. April 1943 als Wehrersatzinspekteur in Heidelberg, später in Regensburg Dienst.67 Alle Versuche, als Leiter einer Kommandantur erneut im besetzten Gebiet Verwendung zu finden, um auf diese Weise doch noch seine Beförderung zum Generalleutnant zu erhalten, wurden wegen mangelnder Eignung abgelehnt.68

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