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2. Die Grenzen des Konzils
ОглавлениеFünfzig Jahre nach dem Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils ist vielerorts Ernüchterung festzustellen. Gewiss, das Bild der Kirche hat sich seitdem in hohem Maße verändert. Die Liturgie ist von Grund auf erneuert. In Weltkirche, Bistümern und Gemeinden ist es zu mehr Teilnahme der Gläubigen an Beratungs- und Entscheidungsprozessen gekommen. Das Verhältnis der Kirche zum Judentum und zum Islam hat eine entscheidende Wende genommen. Die Kirche ist präsent in den großen ökumenischen Bewegungen und im weltweiten Bemühen um mehr Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung. Das erneuerte Kirchenrecht von 1983 geht im Anschluss an die Konzilskonstitution Lumen gentium nicht mehr von der Hierarchie, sondern vom Volk Gottes aus und zeigt so eine neue Perspektive, auch in vielen Einzelfragen.
Und doch ist der Eindruck weit verbreitet, der konziliare Elan habe sich verflüchtigt. Nicht nur in Deutschland wird ein Reformstau festgestellt. So fand das Memorandum von rund dreihundert Theologieprofessoren und -professorinnen zur Krise der Katholischen Kirche vom 4. Februar 20111 Unterstützung auch über die Grenzen Deutschlands hinaus. Der Text mahnt die Freiheit als Grunddimension christlichen Glaubens und christlicher Kirche an und fordert ein Umdenken in den Bereichen von struktureller Beteiligung in der Kirche an Entscheidungsprozessen, Gemeinde und Gemeindeleitung, Rechtskultur, Gewissensfreiheit, Versöhnung und Gottesdienst. Im Bereich Gemeinde wird der gravierende Priestermangel festgestellt, der zu immer größeren, unpersönlicheren Gemeinden führt. Nach Auffassung der Unterzeichner sollte ernsthaft an verheiratete Männer und auch Frauen im Amt gedacht werden. Im Zusammenhang mit der Gewissensfreiheit wird mehr Achtung vor gleichgeschlechtlich orientierten bzw. lebenden Christen gefordert.
Man mag denken, dass solche Forderungen Gedankenspiele von Theologinnen und Theologen vor allem aus dem deutschen Sprachraum darstellen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Kein geringerer als Kardinal Carlo Maria Martini (1927–2012), der langjährige Erzbischof von Mailand (1980–2002), hat in seinen „Jerusalemer Nachtgespräche(n)“2 mit Georg Sporschill (2008) ähnliche Gedanken geäußert. Das Buch ist inzwischen in sechster Auflage erschienen und auch in den wichtigsten Weltsprachen zugänglich. Durchgängig setzt sich der Kardinal für einen wahren Dialog der Kirche mit der Jugend3 auch in Fragen der Sexualmoral4 ein, bei dem die Kirche auch auf die Jugendlichen hört. Die durch die Enzyklika Humanae Vitae (1968) entstandenen Probleme werden nicht verschleiert.5 Der Kardinal tritt für ein neues Zugehen auf Homosexuelle6 ein und zeigt sich offen gegenüber neuen Zugängen zum Amt, auch für verheiratete Männer7 und für Frauen8. Damit sind schon fast alle „heißen Eisen“ genannt. Hinzu kam noch kurz vor dem Tode Martinis sein Interview vom 8. August 20129, das in vielen Zeitungen veröffentlicht wurde und in dem er u.a. zu einem neuen Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen aufforderte (ein Anliegen, das bereits 1993 die Oberrheinischen Bischöfe in einem Hirtenwort formuliert und begründet hatten).
Es ist weit verbreitet, den angesprochenen Reformstau vor allem auf die Pontifikate von Papst Johannes Paul II. (1978–2005) und Papst Benedikt XVI. (2005–2013) zurückzuführen, zumal der letztere Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre unter dem ersteren gewesen war. Es lässt sich jedoch zeigen, dass in den meisten der genannten Fragen schon früher Festlegungen getroffen worden waren, und zwar zur Regierungszeit von Papst Paul VI. Davon soll im Folgenden die Rede sein. Eine neu erschienene Biographie dieses Papstes aus der Hand des Kirchengeschichtlers an der Theologischen Hochschule Brixen kann dabei behilflich sein.10