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Die Solidarität der Schuld
ОглавлениеDen Internationalen Gerichtshof in Nürnberg lehnten die beiden Kirchen vehement und in erstaunlicher Einmütigkeit ab. Weder konfessionelle Grenzen noch innerkirchliche Zerrissenheit als Folge nationalsozialistischer Kirchenpolitik (Bekennende Kirche, Bruderräte, intakte Kirchen)4 behinderten eine enge Zusammenarbeit. Gegen den alliierten Versuch einer Strafverfolgung und Entmachtung der nationalsozialistischen Eliten vereinigten sich in einem großen Schulterschluss katholische mit evangelischen Bischöfen, die intakten Kirchen mit den Bruderräten, Pfarrer im Widerstand mit kompromittierten Pfarrern. Der einhellige kirchliche Protest gegen die als „Sieger- und Vergeltungsjustiz“ diffamierte Strafverfolgung und gegen die Entnazifizierungspolitik der alliierten Besatzungsmächte wurde nur von sehr wenigen Stimmen durchbrochen (Vollnhals 1989a; 1989b). Im Allgemeinen sah man das International Military Tribunal in Nürnberg und die Dachauer Folgeprozesse als eine Demütigung der deutschen (Verlierer-)Nation und als eine Einmischung von außen. Von diesen Prozessen erwarteten kirchliche Repräsentanten lediglich Vergeltung und Rache, aber nicht Gerechtigkeit.
Statt Strafverfolgung setzten damals die beiden großen deutschen Kirchen auf die Wirksamkeit christlicher Schuldbekenntnisse als „Tor zur Versöhnung“5. Im Stuttgarter Schuldbekenntnis vom 18./19. Oktober 1945 erklärten die Sprecher der neu konstituierten Evangelischen Kirche in Deutschland (EKiD), „daß wir uns mit unserem Volk nicht nur in einer großen Gemeinschaft der Leiden wissen, sondern auch in einer Solidarität der Schuld.“ (zit. in Besier 1985, 8) Zuvor hatte auch die Fuldaer Bischofskonferenz im August 1945 eine Selbstanklage verabschiedet, in der die katholischen Bischöfe die deutsche Schuld bekannten: „Wir beklagen es zutiefst: Viele Deutsche, auch aus unseren eigenen Reihen, haben sich von den falschen Lehren des Nationalsozialismus betören lassen, sind bei den Verbrechen gegen menschliche Freiheit und menschliche Würde gleichgültig geblieben, viele leisteten durch ihre Haltung den Verbrechen Vorschub, viele sind selber Verbrecher geworden.“ (zit. in Rotherspieler 1982, 200–201) Diese mutigen und innerhalb Deutschlands sehr kontrovers diskutierten Schuldbekenntnisse wurden zu Recht als Voraussetzung für eine Wiederaufnahme internationaler ökumenischer Beziehungen gesehen (Greschat 1985). Die Schuldbekenntnisse „entwaffneten“ die internationale kirchliche Öffentlichkeit und versahen die deutschen Kirchen mit neuer moralischer (und damit auch politischer) Autorität. Allerdings führten die katholischen Bischöfe nicht näher aus, wie die „vielen“ Verbrecher von den „vielen“ Gleichgültigen und den „vielen“ Betörten konkret unterschieden werden sollten und was mit den Verbrechern genau passieren sollte. 1945 lag beiden Kirchen am Herzen, dass nicht das gesamte deutsche Volk für die Verbrechen der Nazis büßen sollte, sondern dass, wie die Bischöfe schrieben, „immer und überall die Schuld von Fall zu Fall geprüft wird, damit nicht Unschuldige mit Schuldigen leiden“ (zit. in Rothenspieler 1982, 201). Wie solche Prüfung geschehen sollte, wurde allerdings nicht genauer ausgeführt. Im Rückblick lässt sich sagen, dass es beiden Kirchen wichtiger schien, das potentielle Leiden deutscher Unschuldiger zu verhindern, als dafür zu sorgen, dass die Schuldigen rechtlich belangt und bestraft wurden. Schon das Stuttgarter Schuldbekenntnis auf evangelischer Seite warnt vor dem „Geist der Gewalt und der Vergeltung, der heute von neuem mächtig werden will“ (zit. in Besier 1985, 8). Beide Kirchen hegten den Verdacht, die alliierte Strafverfolgung von NS-Tätern könne lediglich ein Zeichen von Rache und Vergeltung, also von neuer Gewalt sein. Die kirchlichen Schuldbekenntnisse wirkten nicht als moralische Unterstützung zur Aufdeckung und Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen, sondern legitimierten die wachsende kirchliche Kritik an den Strafverfolgungspraktiken der Besatzungsmächte (Vollnhals 1989; Klee 1991; de Mildt 1996, 22).
Im Anschluss an die letzten Urteilsverkündungen der amerikanischen Nachfolgeprozesse in Nürnberg im April 1949 legte der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland der amerikanischen Militärregierung eine Denkschrift mit dem Titel vor: Memorandum by the Evangelical Church in Germany on the Question of War Crimes Trials before American Military Courts.6 In dieser ins Englische übersetzten Denkschrift, die geheim bleiben sollte und nur nummeriert an befugte Personen abgegeben wurde („Not for Publication. Printed in Numbers“), forderte die Kirche eine grundsätzliche Revision aller Urteile. Im Auftrag des Rates unterzeichneten Bischof Wurm, Kirchenpräsident Martin Niemöller und Prälat Hartenstein.
Die 160 Seiten lange Denkschrift entwickelt keine einheitliche theologische Stellungnahme zur Strafverfolgung, sondern ist eine Materialsammlung unterschiedlichster Texte. Nach einer kurzen, fünfseitigen Einführung, die von biblischen Zitaten gerahmt ist, gliedert sich das Memorandum in zwei Teile: Volume A enthält diverse Beschwerdebriefe7 und Eingaben der evangelischen Bischöfe Wurm (Baden-Württemberg) und Meiser (Bayern), des katholischen Weihbischofs Neuhäusler (München) und der katholischen Bischofskonferenz sowie die jeweiligen Antwortschreiben von Dr. Robert Kempner, dem Deputy Chief of Counsel in Nürnberg, und General Lucius Clay, dem US Militärgouverneur Deutschlands. Volume B umfasst 110 Seiten und präsentiert eine Sammlung unkommentierter Beschwerden und Erlebnisberichte von Betroffenen, Anwälten, Internierten und Verurteilten, welche die „legal deficiencies“ der Verfahren in Nürnberg, Dachau und der sog. Shanghai-Prozesse untermauern sollen. Die Berichte von „Zeugen, Verteidigungsanwälten und Angeklagten“ (Denkschrift 1949, 4) wurden ohne weitere Überprüfung auf Glaubwürdigkeit und Hintergrund lediglich thematisch geordnet. In der Einleitung wird einschränkend bemerkt, der Bericht sei keine „systematische Sammlung“. „It was impossible for the church to examine each case … [and] it is possible, therefore, that the material presented may in some cases be incorrect.“ (Denkschrift 1949, 4) Auf mehrere frappante Falschheiten und Ungeheuerlichkeiten hat Ernst Klee in Persilscheine und falsche Pässe (83–94) bereits hingewiesen.
Der Dokumentenanhang soll die „legalen Mängel“ der Verfahren aufzeigen und begründen, warum „die zwei Kirchen in Deutschland eine detaillierte juristische Überprüfung beantragen.“ (Denkschrift 1949, 20) „Die evangelische Kirche“, argumentiert die Denkschrift, „kann es nicht als ihre Funktion betrachten, Nachfragen und Untersuchungen, die Sache des Staates sind, anzustellen. Es kann nicht die Aufgabe der Kirche sein, die Defekte und Unregelmäßigkeiten, die in individuellen Fällen auftraten, zu diskutieren.“ (20) Stattdessen erwartet die Kirche den Einsatz neuer Richter („möglichst aus neutralen Ländern“), die eine „vollständige Sammlung solchen Materials“, die Mängel und „Irrtümer der Richter“ belegen könnte, vorlegen und auswerten sollen (20). Legitimiert fühlt sich die evangelische Kirche in dieser Forderung von der Heiligen Schrift.
Die theologische Rechtfertigung ihrer Forderung wird über Bibelzitate erreicht, die der Einführung als Prolog und Epilog ohne Auslegung und Kommentar vor- bzw. hintangestellt sind. Im Prolog werden Exzerpte aus den Psalmen 119 und 101 zusammengestellt, den Epilog bilden Verse aus dem Römerbrief (Rom 3, 10–12, 17, 21–24). Dabei entsteht eine theologische Aussage, die sich mit den Anliegen der Täter solidarisiert, ja geradezu identifiziert, ohne dies offen auszusprechen.