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Systematisch vernachlässigt: Sozialmedizin und öffentliche Gesundheit
ОглавлениеDas deutsche Gesundheitswesen ist keineswegs als entwickeltes System gestartet, sondern als Zwangsversicherung gegen Lohnausfall bei Krankheit. Seine Wurzeln reichen zurück in die Zeit der industriellen Revolution: Mit der Kaiserlichen Botschaft von 1881 wurde die Sozialgesetzgebung begründet, die nicht nur zum Ziel hatte, die Menschen vor materiellem Elend im Alter und bei Krankheit zu schützen – sondern auch das junge Reich vor revolutionären Bewegungen. Zeitgleich und dann massiv im 20. Jahrhundert begann der Aufstieg der modernen Medizin. Mit ihren erheblichen Reparaturerfolgen vor allem in der Chirurgie befeuerte sie sowohl die Individualmedizin als auch die Diktionsmacht der Medizinprofession – und prägte damit die Entwicklung der modernen Gesundheitsversorgung. Diese einseitige Ausrichtung des Systems vollzog sich auch deshalb so erfolgreich, weil Sozialmedizin und öffentliche Gesundheit („Public Health“) nach 1945 systematisch vernachlässigt wurden, was einerseits dem Missbrauch durch die Naziherrschaft geschuldet war, andererseits der Illusion, Penicillin würde die Infektionskrankheiten im Wesentlichen besiegen.
Diese Vernachlässigung der Sozialmedizin und die Verengung auf naturwissenschaftliche Betrachtungsweisen verstärkten den Trend zu einer arbeitsteiligen Medizin, die den Körper vor allem in seinen Einzelbestandteilen in den Blick nimmt bis hinein in den molekularbiologischen Bereich. Unter der Annahme einer der vermeintlichen Natur der Frau entspringenden Zugewandtheit und Dienstbarkeit wurde im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse zudem versäumt, die im Mittelalter wurzelnde christlich-abendländische Pflege- und Fürsorgearbeit in die säkularisierte Welt zu überführen. So findet sich das deutsche Gesundheitssystem heute in der eigentümlichen Situation wieder, dass es in der Spitzenmedizin zwar wettbewerbsfähig ist, gleichzeitig jedoch im Pflegebereich immer wieder Personalnotstände zu verzeichnen sind.