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Das Gesundheitssystem: weitgehend immun gegen Impulse von innen und außen
ОглавлениеNiemand möchte die Errungenschaften der modernen Medizin missen, und kaum jemand könnte aufwändige Behandlungen ohne Weiteres aus eigener Tasche zahlen – fast alle erhalten sie dennoch: Anders als in anderen Ländern mit ähnlichem Entwicklungsstand gewährt das deutsche Gesundheitssystem nahezu allen Bürgern Zugang zu gesundheitlicher Versorgung, weil durch die Sozialversicherungssysteme ein gewisser Ausgleich zwischen den verschiedenen Teilen der Bevölkerung (arm /reich, jung / alt, gesund /krank) hergestellt wird.
In seiner Architektur mit solidarischer Gleichbehandlung und einkommensabhängigen Versicherungsbeiträgen hat das deutsche Gesundheitssystem Kriege und Krisen überstanden sowie, seine prinzipielle Anpassungsfähigkeit und relativ hohe Resilienz gegenüber verschiedenen Herausforderungen bewiesen. Es hat in den letzten etwa fünf Generationen sein Leistungsniveau halten und ausbauen können und ist damit als ein prominenter Teil deutscher Kultur zu bewerten.
Doch so erfolgreich sich das System gegen unzählige politische Interventionen gewehrt hat (die der Versorgung häufig wenig Orientierung gaben), so viel Kraft und Zeit kosten mittlerweile selbst kleinere Veränderungen. Gesundheitspolitik schafft heute weniger Lösungen als dass sie durch ihr technokratischkleinschrittiges Handeln Teil des Problems geworden ist: Das Gesundheitssystem scheint geradezu immun zu sein gegen neue Impulse für seine Weiterentwicklung. Manche Kritiker bezeichnen es in seiner gegenwärtigen Verfasstheit als „Krankheitssystem“ – weil es so sehr auf den Kampf gegen Krankheiten fixiert ist und so wenig Ressourcen für die Erhaltung und Förderung von Gesundheit bereitstellt.
Das hat entscheidend mit dem rechtlichen Rahmen des Gesundheitssystems zu tun, der durch Grundgesetz, Landesgesetze und die einschlägigen Sozialgesetzbücher definiert ist. Akteure, die Innovationen vorschlagen, kommen daher nicht umhin, sich damit auseinanderzusetzen, ob und wie der gesetzliche Rahmen ihre Reformvorschläge befördert oder behindert. Die Bearbeitung einer Vielzahl von Einzelfragestellungen und Partikularinteressen hat in der Vergangenheit zu fast ausschließlich pfadabhängigen Lösungen und zu kleinteiligen, oft inkohärenten und in manchen Bereichen selbst für Fachleute zu nicht mehr überschaubaren Regulierungen geführt. Übergreifende Anstrengungen mit dem Anspruch, Weichen neu zu stellen, müssen daher fast aussichtlos wirken – eine Herausforderung, die für Neustart! nicht zu übersehen war.
Weitgehend verschlossen zeigt sich das System auch gegenüber Ansätzen, die seit Jahrzehnten international auf höchster Ebene proklamiert und teilweise praktiziert werden. So hat beispielsweise die Erklärung der Weltgesundheitsorganisation von 1978 zur Stärkung der Primärversorgung (Alma-Ata) die Gesundheitsversorgung hierzulande kaum strukturell prägen können. Auch passt sich das System veränderten Aufgaben nur sehr zögerlich an. Da es vor allem auf die Akutversorgung ausgerichtet ist, vernachlässigt es die kontinuierliche Begleitung chronisch und mehrfach erkrankter Menschen, obwohl diese inzwischen das Krankheitsspektrum maßgeblich prägen. Auch deshalb ist bis heute keine befriedigende Antwort darauf gefunden, wie die vielen alten Menschen in einer Gesellschaft gepflegt werden sollen, die erst am Anfang eines historischen Schubs demografischer Alterung steht. Nicht zuletzt ist die zögerliche Digitalisierung der medizinischen Versorgung ein schlagender Beweis für die mangelnde Flexibilität eines offenbar selbstzufriedenen Systems.
Zusammenfassend lässt sich feststellen: Die Debatten über die ungelösten Probleme der Vergangenheit, über die aktuelle Corona-Krise sowie über die Herausforderungen in der Zukunft stellen den Status quo des Systems grundlegend infrage.