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7 Frau Maria G. 7.1 Wer gibt, wer nimmt? Marina Kojer

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Unser Weg in die Palliative Geriatrie war von Anfang an das tastende Voranschreiten in ein noch unbekanntes Land. Mit jedem Schritt schienen sich uns neue Einsichten, neue Denkmodelle, neue Erfordernisse zu eröffnen. Aber gelang es uns auch tatsächlich, schwerkranke Hochbetagte immer besser zu verstehen und uns von ihren Wünschen und Bedürfnissen leiten zu lassen? Liefen wir nicht oft Gefahr, einer Fata Morgana nachzulaufen? Immer wieder plagten mich Zweifel, ob uns unser Bemühen, die Pfadspuren zum Du zu entdecken, in die richtige Richtung führte.

Fänden wir unterwegs keine Wegweiser vor, wie sollten wir jemals darauf vertrauen dürfen, noch auf dem richtigen Weg zu sein? Diesen Weg konnten uns nur die Alten selbst weisen. Es waren ihre Gefühle, ihr Verhalten, ihre Reaktionen, die uns Tag für Tag weiterhalfen. Unter den vielen Lehrmeisterinnen gab es einige, die uns darüber hinaus, einfach durch ihr So-Sein, durch ihr Leben, Leiden und Sterben, die Augen für die Kostbarkeit jedes Augenblicks menschlichen Seins und für den Sinn eines Lebens bis zuletzt geöffnet haben.

Einer dieser Menschen war Frau Maria G. Ihr Leben bei uns war, von außen betrachtet, nur eine Zeit der Schmerzen und Verluste. Sie musste laufend mehr Abstriche von allem machen, was für sie wichtig war. Das Leben nahm ihr leise und unbarmherzig anscheinend alles weg, was für sie wertvoll war und ihr Dasein noch lebenswert machen konnte. Sie war nie schmerzfrei, sie konnte innerhalb kurzer Zeit nicht mehr gehen, bald auch nicht mehr selbstständig im Rollstuhl fahren, schließlich nicht einmal mehr im Rollstuhl sitzen. Sie erblindete und war jahrelang vollständig hilflos. In all dem Leid fand sie stets noch etwas, was für sie schön und erlebenswert war. Sie konnte sich bis zuletzt über Kleinigkeiten freuen, die andere Menschen meist gar nicht bemerken oder achtlos mit Füßen treten.

Wir haben von ihr gelernt, dass das Leben ein Geschenk und die Zeit bis zum letzten Augenblick kostbar ist. Von ihr haben wir erfahren, was Geduld bedeuten kann, was Hoffnung ist, und was es heißt, selbst im Leiden und Sterben noch immer zum Leben Ja zu sagen. Sie hat uns vor Augen geführt, wie viel ganz kleine, scheinbar nebensächliche Gesten, Worte oder Gedanken oft für einen anderen Menschen bedeuten, dass dann unscheinbare Kleinigkeiten zu Geschenken werden, die dem Leben zu neuer Lebendigkeit verhelfen.

Gerade im Zusammenhang mit sehr alten Menschen sind wir stets der Gefahr ausgesetzt, die Orientierung zu verlieren, Palliative Care als ein »sanftes Zudecken« misszuverstehen und »Ruhig- und Entspanntsein« auch dort für das einzig erreichbare Gut zu halten, wo ein Mensch noch lebendig Anteil nehmen, weinen und lachen möchte.

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