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7.4 Mein Abschied von Frau G. Marina Kojer

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Frau G. spielte in meinem Leben eine wesentliche Rolle. Auch als sie bereits längst erblindet war, sprachen ihre klaren, blauen Augen zu mir. Ihr Lächeln und ihr ansteckendes Lachen lehrten mich, demütig zu sein. Sie war für mich Sinnbild der Größe und Würde menschlichen Lebens, sie öffnete meine Augen für den stillen Wert auch des unscheinbarsten Augenblicks, und oft genug wurde sie mir stille Mahnerin und wies mich zurück auf den Weg, wenn es galt, das Wesentliche vom bloß Augenfälligen zu unterscheiden.

Auch ich habe oft von ihr Abschied genommen. Über lange Zeit dachte ich jedes Mal bange, wenn ich für ein paar Tage wegfuhr: »Werde ich sie noch wiedersehen?« Einmal, als ich meinen Urlaub antrat, ohne vorher noch einmal zu ihr zu gehen, erschrak ich, weil ich versäumt hatte, mich von ihr zu verabschieden. Manche dieser Vor-Abschiede verliefen wortlos. Ich stand an ihrem Bett, meine Hand lag auf ihrer Hand, ihre Augen blieben geschlossen. Ich dachte dann an die vielen Jahre unserer Bekanntschaft, an traurige Zeiten (z. B., als sie die Nachricht vom Tod der Frau S. erhielt), an Zeiten, in denen Schmerzen und quälende Beschwerden sie fast verzweifeln ließen und immer wieder auch an ihre einzigartige Kunst, den Augenblick zu leben und dafür dankbar zu sein.

Wenn sie nur dahindämmerte und meine Berührung spürte, öffnete sie die Augen und schaute fragend. Ich begrüßte sie und nannte, wenn sie mich nicht gleich erkannte, meinen Namen. Dann lächelte sie ihr beglückendes Lächeln: »Wie schön, dass Sie zu mir kommen!« Manchmal sagte sie dann: »Sie waren lange nicht da.« Oft konnte ich darauf ehrlich erwidern: »Doch, ich war bei Ihnen, aber Sie haben geschlafen.« Und sie rief dann leise: »Wie schade, ich freue mich so über Ihre Besuche!« Oft genug konnte ich nichts erwidern; ich wusste, dass sie Recht hatte und schämte mich, weil mir anderes wichtiger gewesen war…

In den vielen Jahren unserer Bekanntschaft war sie kein einziges Mal ungeduldig oder heftig gewesen, hatte nie geschimpft, nie etwas, was ein anderer für sie tat, als selbstverständlich hingenommen, für jede Kleinigkeit »bitte« und »danke« gesagt. Ich erinnere mich an ein kurzes Gespräch, das wir wenige Monate vor ihrem Tod führten. Ich kam zu ihr und las in ihrem verkrampften Gesicht, dass sie Schmerzen hatte. Sie war schlecht gelagert worden und hatte keine Kraft gehabt zu läuten. Das konnte sie mir nicht einmal mitteilen, weil zudem ihr Mund so trocken war, dass ihr die Stimme völlig versagte. Gemeinsam mit einer Pflegekraft lagerte ich sie um, spritzte ihr dann ein Schmerzmittel und gab ihr ein paar Schluck zu trinken. Als sie sich endlich ein wenig entspannen konnte, sagte ich mit mühsam verhaltenem Zorn: »Das darf nicht wieder geschehen! Wer war zuletzt bei Ihnen?« Frau G. sagte den Namen eines jungen Pflegers, nahm dabei meine Hand in ihre beiden fast durchsichtigen Hände und sah mich bittend an: »Sie dürfen nicht böse sein! Er ist nicht schlecht oder faul; er ist nur unbeholfen!« Nur halb besänftigt sagte ich: »Unbeholfen ist dafür viel zu wenig, da gehört zumindest eine ordentliche Portion Dummheit dazu!« Frau G. brach unvermittelt in ihr herzliches Lachen aus: »Dann kann er nichts dafür, er ist ja so auf die Welt gekommen!«

Einer unserer vielen Abschiede, er fand an einem Freitagmittag einige Wochen vor ihrem Tod statt, ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Als ich an ihr Bett trat, dämmerte sie matt mit geschlossenen Augen vor sich hin. Die tiefe Falte zwischen ihren Brauen verriet mir, dass sie Schmerzen hatte. Ich legte meine Hand auf ihre Hand, und sagte sehr leise: »Grüß Gott, Frau G.« Sie drehte sofort freudig den Kopf in meine Richtung und sagte: »Jö! Grüß Gott, Frau Primar!« Ich drückte ihre Hand, und sie erwiderte den Druck. »Es geht Ihnen heute nicht gut?« Frau G. nickte: »Ganz schlecht«. Ich fragte, ob die Schmerzen wieder stärker geworden wären, und wir berieten miteinander über eine sinnvolle Veränderung der Schmerztherapie und über eine weitere Verbesserung der Mundpflege. Da ihr das Sprechen schwerfiel, formulierte ich meine Fragen so, dass sie immer mit Ja oder Nein antworten konnte. Mit dem Vereinbarten war sie schließlich zufrieden. Jetzt gleich wollte sie lieber nichts gegen ihre Schmerzen, es ginge gerade ganz gut. Schließlich schloss sie erschöpft die Augen, hielt aber weiter meine Hand fest. Nach einigen Minuten sagte ich mitfühlend: »Es ist sehr schwer, so alt zu werden«. Frau G. schaute mich interessiert an und antwortete lebhaft: »Ja, das ist wirklich wahr.« Wir sprachen dann, von langen Pausen unterbrochen, über das Leben, das Schöne und auch das Traurige. Ich sagte ihr, wie sehr ich stets ihre Gabe, sich zu freuen, bewundert hatte. Frau G. tauchte von einem Augenblick zum anderen aus Leid und Mattigkeit auf, sah mich mit ihrem unvergleichlichen Lächeln an und sagte mit tiefer Überzeugung: »Ja aber, das Leben ist doch so wunderschön!« Erschöpft schloss sie dann wieder die Augen. Ihr Gesicht war grau und wirkte sterbensmüde. »Ich werde sie nicht wiedersehen«, dachte ich erschrocken und spürte, wie mir die Tränen hochstiegen. Ich wusste, dass unser Gespräch bereits viel zu lange dauerte und sie sehr angestrengt hatte. Doch wider alle ärztliche Vernunft drängte es mich, auch in Worten von ihr Abschied zu nehmen. Nach einer Pause sagte ich daher: »Frau G., Ihr Leben geht bald zu Ende.« Sie nickte still. »Sie haben uns in den Jahren, die sie bei uns waren, unendlich viel geschenkt, und ich möchte Ihnen heute noch einmal von Herzen dafür danken und mich von Ihnen verabschieden. Ich weiß nicht, ob wir einander wiedersehen werden.« Plötzlich machte Frau G. energisch die Augen auf und sagte mit fester Stimme: »Ich weiß, wir sehen einander bestimmt wieder!« Da ich wusste, wie religiös sie war, verstand ich diese Antwort als einen Hinweis auf das Leben nach dem Tod und antwortete ihr entsprechend. »Natürlich sehen wir uns auch dort wieder«, entgegnete sie, »aber wir werden uns noch hier wiedersehen! Ich weiß es!«

Sie hat Recht behalten…

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