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7.2 Gemeinsam statt einsam Ingrid Zadak

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Viele unserer Patientinnen hatten kaum mehr persönlichen Kontakt mit Kindern. Das trug sicher viel zu den so häufig geäußerten Zweifeln am Sinn des Lebens bei: »Keiner braucht mich – ich bin nichts mehr wert – ich gehöre schon weg.« Wie sollte es da gelingen, alten Menschen wieder Mut zu machen, sie zu motivieren, das Bett zu verlassen und mit großer Mühe kleine Leistungen des Alltags neu zu erlernen? Leben muss lebendig sein; alles was ein Mensch tut, muss für ihn Sinn haben. Nur so ist er bereit, Schwierigkeiten als Herausforderungen zu betrachten und zu überwinden.

Unser Projekt »Granny Kids« brachte Leben von »draußen« in den Stationsalltag. Das GZW hatte einen eigenen Betriebskindergarten. Was lag näher, als die kleinen Buben und Mädchen zuerst nur mit den »Omis«, später auch mit etlichen »Opis«, zusammenzuführen? Gemeinsam wurde erzählt, gespielt und gesungen. Gemeinsam wurden Feste gefeiert, Ausflüge und (kurze) Urlaube gestaltet. Entscheidend dabei war, dass die Schranken fielen, die Alt und Jung in unserer Gesellschaft meist trennen, und Alltägliches ganz selbstverständlich miteinander erlebt werden konnte.

Frau G. war fast 98 Jahre alt, als die regelmäßigen Besuche der Kinder an unserer Station begannen. Zu diesem Zeitpunkt war sie praktisch blind und konnte nur mehr für kurze Zeit aus dem Bett herausgehoben und in den Rollstuhl gesetzt werden. Anfangs nahm sie noch im Rollstuhl am wöchentlichen Kindernachmittag teil. Damit hatte die Woche für sie einen Höhepunkt bekommen. Später musste sie die meiste Zeit im Bett verbringen; die Tage boten wenig Abwechslung. Auf die Kinder musste sie auch jetzt nicht verzichten: Wenn es ihr Gesundheitszustand zuließ, schoben wir sie mitsamt dem Bett in den Tagraum, und sie freute sich von Herzen darüber, dabei sein zu können. War das einmal nicht möglich, kamen die Kinder sie auch in ihrem Zimmer besuchen. Wenn die Zeit für den Besuch näher rückte, strengte die alte Frau ihre Ohren an: Schritte am Gang, Kindergeplapper – für Frau G. ging die Sonne auf! Wenn die kleine Horde in ihr Zimmer stürmte, strahlte sie: »Wenn ich bei den Kindern bin, vergesse ich meine Schmerzen und meine schlechten Augen!«

Eine Zeitlang verschlechterte sich ihr Allgemeinzustand bedenklich. Wir dachten alle, dass ihr Leben nun wohl zu Ende ginge. Sie machte kaum mehr die Augen auf, reagierte nicht auf unsere Stimmen und ließ auch Pflegehandlungen nur einfach über sich ergehen. An einem dieser Tage kamen die Kinder wieder auf die Station. Drei Kinder fragten nach der »G.-Oma«, wie sie sie liebevoll nannten. Wir erklärten, dass sie sehr krank und müde wäre. Daraufhin baten sie, sie doch wenigstens kurz besuchen zu dürfen, sie würden bestimmt ganz brav und leise sein. Natürlich durften sie das tun! Vorher erklärte ich ihnen: »Die G.-Oma ist sehr krank und schläft jetzt viel. Sie kann nicht so mit euch plaudern wie sonst immer!« Die Kinder nickten ernsthaft mit den Köpfen, und wir gingen gemeinsam ins Zimmer. Mit meinen Prophezeiungen hatte ich mich allerdings gründlich geirrt! Kaum war die Tür zu ihrem Zimmer offen und Frau G. hörte die Stimmen der Kinder, richtete sie sich plötzlich ohne Hilfe im Bett auf und rief: »Die Kinder!« Sie strahlte, begrüßte alle drei freudig und plauderte ein wenig mit ihnen. Nach ca. einer Viertelstunde sagte sie: »Ich bin jetzt sehr müde und kann nicht mehr länger sitzen. Aber ich habe mich sehr über euren Besuch gefreut!« Die Kinder verabschiedeten sich von ihr und versprachen, bald wieder zu kommen. Frau G. schaute sehr glücklich aus. Sie schlief gleich darauf mit einem Lächeln auf dem Gesicht ein.

Zweimal, 1998 und 1999, verbrachte Frau G. gemeinsam mit anderen hochbetagten Frauen einen viertägigen Urlaub mit den »Granny-Kids« in Rust am Neusiedler See. Für Frau G., die große Kinderfreundin und begeisterte Naturliebhaberin, waren diese Tage das Paradies auf Erden. Während des ersten Aufenthalts verhalf das strahlende Sommersonnenlicht ihren fast blinden Augen noch einmal dazu, die Wasseroberfläche und die vorbeifliegenden Vögel zu sehen. Von diesem beglückenden Erlebnis zehrte sie, solange sie lebte. Wieder im Geriatriezentrum zurück, erzählte sie immer wieder von den wunderschönen Tagen: »Ich habe den See glitzern gesehen«, sagte sie mit großer Dankbarkeit, und bewahrte diese Kostbarkeit als unvergängliches Geschenk in ihrem Herzen. Im Jahr darauf war ihr Zustand schon so schlecht, dass sie nicht mehr mitfahren konnte. Ich erwartete, dass sie darüber sehr traurig sein würde. In der Zeit vor der Reise kam ich daher besonders oft auf einen Plausch zu ihr. Es tat Frau G. natürlich weh, dass sie nicht mit dabei sein konnte, aber sie war im Grunde nicht traurig. »Ich bin glücklich, an diese Erlebnisse zurückdenken zu können«, sagte sie. Ihre Augen begannen zu glänzen, und ein Lächeln machte sich in ihrem Gesicht breit. Sie schwärmte von dem Balkon vor ihrem Zimmer, von dem aus sie, soweit es ihre Augen noch zuließen, auf den glitzernden See und die vorbei fliegenden Schwalben blicken konnte, sie erzählte von den Kindern, von ihren hellen Stimmen und von dem fröhlichen Lachen, das sie über alles liebte. »Ich weiß zwar nicht mehr, was ich gestern gegessen habe«, lächelte sie, »aber Rust mit den Kindern vergesse ich nie!«

Alt, krank und verwirrt

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