Читать книгу Alt, krank und verwirrt - Группа авторов - Страница 48
»Das Wichtigste ist, dass man sich über alles freuen kann«
ОглавлениеAls Frau Maria G. bei uns aufgenommen wurde, war sie bereits mehr als 90 Jahre alt. Sie hatte ein schwaches Herz, sah sehr schlecht und konnte nur mehr mit großer Mühe gehen. Zudem litt sie an starken, schwer behandelbaren Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule, des Schultergürtels und des Beckens, für die sich lange Zeit keine Ursache fand. Erst viel später stellte sich heraus, dass sie Knochenmetastasen hatte. Mit all diesen Leiden lebte sie, in immer elenderem Zustand, noch viele Jahre bei uns. Frau G. war eine stille und bescheidene Frau. Sie war dankbar für alles, was wir für sie taten und hielt stets für jeden ein Lächeln und ein gutes Wort bereit. Selbst wenn es ihr gerade sehr schlecht ging, behielt sie die Gabe, sich zu freuen, ja nicht selten sogar mitten im Leid in ihr herzliches und ansteckendes Lachen auszubrechen. Als sie nach langer, schwerer Krankheit starb, war sie 99 Jahre alt. Wer sie gekannt hat und ihr nahe sein durfte, wird sie nicht vergessen.
Einmal im Winter, an einem finsteren, unfreundlichen Morgen, stand ich an ihrem Bett. Frau G. war damals 95 Jahre alt. Bereits seit Tagen fühlte sie sich elend, litt an Atemnot, konnte das Bett nicht verlassen, kaum erträgliche Schmerzen quälten sie, und ihre in letzter Zeit rasch nachlassende Sehkraft machte ihr Sorgen. Ich setzte mich an ihr Bett und hörte ihren berechtigten Klagen zu. Plötzlich stahl sich ein schwacher, kraftloser Strahl der Wintersonne für einen Augenblick in das Krankenzimmer und warf seinen blassen Lichtstreifen auf ihre Bettdecke. Unvermutet verstummte Frau G. einen Augenblick lang, lächelte dann ihr strahlendes Lächeln und sagte voll Inbrunst und Hoffnung: »Ich freu’ mich schon so auf den Frühling!« Ihre Stimme war voll Sehnsucht und Zuversicht. In allem Elend hatte sie Trost, Sinn und inneren Halt in dem Gedanken an das immer wiederkehrende Erwachen der Natur gefunden.
In den vielen Jahren, die sie bei uns verbrachte, sind wir einander immer wieder sehr nahe gekommen. In vielen Gesprächen erzählte sie mir von ihrer Vergangenheit. »In einem so langen Leben erlebt man viel Schönes, aber auch viel Trauriges«, sagte sie nachdenklich. An schwere und belastende Erlebnisse dachte sie kaum zurück, aber die vielen schönen Erinnerungen erhellten ihre Tage bis zuletzt. Mit großer Freude erinnerte sie sich vor allem an ihr erfülltes Berufsleben: Sie hatte nie eine eigene Familie gehabt und lange Jahre als Erzieherin in einem Heim für schwererziehbare junge Mädchen gearbeitet. Die Zöglinge kamen aus sehr schlechtem sozialen Milieu und hatten in ihrem kurzen Leben noch nicht viel Schönes kennengelernt: Oft waren Vater und Mutter straffällig geworden. Schließlich wurden die Mädchen irgendwann von der Polizei aufgegriffen und oft gegen ihren Willen in das Heim gebracht. Wen darf es da wundern, dass sie sich auch selbst aggressiv verhielten? Mit viel Geduld und Liebe bemühte sich Frau G., diesen wilden jungen Geschöpfen das Nähen beizubringen. »Es ist immer wieder einmal passiert, dass mir ein Mädchen eine Schere nachgeworfen hat«, erzählte sie lächelnd, »aber im Großen und Ganzen waren sie alle lieb! Sie haben gespürt, dass ich sie von Herzen gernhabe.« Entsprechend groß war die Zuneigung der Kinder zu ihr. Die geliebte Lehrerin wurde zur Freundin, zur Vertrauten, zum Mutterersatz. Sobald Frau G. von »ihren Mädchen« sprach, begannen ihre Augen zu leuchten. Sie war überzeugt davon, dass ihre Schützlinge alle einen guten Kern hatten. Vielen dieser schwer erziehbaren Jugendlichen hat sie zurück in ein normales Leben geholfen. Mit vielen blieb sie über lange Jahre, mit manchen bis zuletzt in Kontakt. Frau G. freute sich noch nach Jahrzehnten über jedes Schicksal, das schließlich doch noch eine positive Wendung nahm. »Ich habe jetzt viel Zeit nachzudenken«, sagte sie, »da fällt mir so viel Schönes ein.« – Einmal fragte ich sie, ob ihr nicht auch genug Böses widerfahren wäre. Sie lächelte mit der Weisheit sehr alter Menschen: »Das habe ich glücklicherweise zum Großteil vergessen.«
Frau G. war eine kluge und gebildete Frau. Sie unterhielt sich gerne mit anderen Menschen, aber unter den Patientinnen fand sie nur selten jemanden, mit dem sie längere, anregende Gespräche führen konnte. Eines Tages meldete sich Frau S., eine schon etwas ältere, bekannte österreichische Schauspielerin bei uns; sie wollte gerne regelmäßig einen kranken alten Menschen besuchen. Ich sagte zu Frau G., dass die Dame, die ich mitgebracht hatte, gerne öfter kommen würde, um mit ihr zu plaudern. Frau G. sah damals schon viel zu schlecht, um viel mehr als Umrisse zu erkennen. Während ich sprach, stand Frau S. still neben mir, dann fragte sie: »Ist es Ihnen recht, wenn ich Sie besuchen komme?« Bereits beim ersten Wort breitete sich ein Ausdruck ungläubigen Staunens auf dem Gesicht von Frau G. aus. »Sind Sie Frau S.?!«, sagte sie mit vor Erregung zitternder Stimme. Erstaunt bejahte die andere die Frage. Frau G. saß da, als wäre eben ein Stern vom Himmel in ihren Schoß gefallen und schaute die Schauspielerin, stumm vor Glück, aus fast schon blinden Augen an. »Frau S!«, rief sie dann, »Frau S., ich habe Ihre Stimme immer so geliebt. Ich habe Sie in allen Rollen gesehen, ich bin Ihnen oft sogar nachgefahren! Ich kann gar nicht glauben, dass Sie wirklich da sind und gerade mich besuchen kommen!« Frau S. hatte Tränen der Rührung in den Augen. Auch wir anderen, die Zeuginnen dieser Begegnung wurden, bekamen feuchte Augen. Wir sahen einander stumm an, gingen dann leise aus dem Zimmer und ließen die beiden allein.
Frau S. besuchte die alte Frau regelmäßig. Frau G. gewöhnte sich nie an dieses große und, wie sie meinte, unverdiente Glück. Jeder einzelne Besuch war ein Fest für sie, sie zog sich besonders schön an und ließ sich, auch wenn es ihr gerade nicht gut ging, vorher die Haare richten. Leider erkrankte die Schauspielerin nach etwa einem Jahr schwer und verstarb innerhalb relativ kurzer Zeit. Frau G. trauerte sehr um sie, aber die Dankbarkeit und die Freude über die schönen Stunden blieben in ihr lebendig.
Ihr ganzes Leben lang hatte Frau G. Kinder und die Natur geliebt. Wann immer möglich, war sie im Freien. Sie saß im Rollstuhl auf der Terrasse und genoss es, wenn sie in den Garten fahren konnte. Als das Projekt »Granny Kids« (Kinder und alte Menschen begegnen einander) an unserer Abteilung Fuß fasste, war Frau G. natürlich begeistert. Was diese Begegnungen für sie bedeuteten, kann Ingrid Zadak, die Initiatorin des Projekts, besser erzählen als ich.