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7.3 Die letzte Lebenszeit Snezana Lazelberger

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Ich lernte Frau G. im Juli 1999 kennen. Sie war damals schon über 97 Jahre alt und sehr schwach. Trotzdem verbrachte sie noch den Großteil der Zeit im Rollstuhl. Die schönen Sommertage verlebte sie am liebsten auf der Terrasse. Sie war so bescheiden: Die frische Luft genießen zu können, genügte ihr bereits, um sich über den ganzen Tag zu freuen. Auch im Jahr darauf – ihr Zustand war damals schon sehr schlecht – gab es für sie nichts Schöneres, als zumindest noch im Bett auf der Terrasse liegen zu können. An einem der seltenen, schönen warmen Tage im Spätherbst 2000 konnten wir ihr diesen Wunsch das letzte Mal erfüllen und sie, fest bis zur Nasenspitze zugedeckt, für ein paar Stunden auf die Terrasse bringen.

Ab Herbst 2000 ging es mit dem Gesundheitszustand der fast 99-Jährigen zusehends bergab. Ihre Schmerzen nahmen zu. Die Therapie musste laufend an die neuen Erfordernisse angepasst werden. Immer wieder kam es, aus heiterem Himmel oder im Rahmen eines akuten Infekts, zu massiven gesundheitlichen Einbrüchen, die sie jedes Mal in unmittelbare Todesnähe brachten. Wir haben oft von ihr Abschied genommen. Jedes Mal erholte sich Frau G. schließlich völlig überraschend, begann zu essen und zu trinken und freute sich wieder über die Musik aus ihrem Radio. Aber jeder dieser Schübe ließ sie doch ein Stück matter und müder zurück. Ihre Kurzatmigkeit nahm zu, die Stimme wurde immer schwächer, das Sprechen strengte sie an und machte ihr zusehends Mühe. Sie war nun vollständig blind und konnte nicht einmal mehr hell und dunkel unterscheiden.

Selbst wenn sie sich elend fühlte, aus der denkbar schlechtesten Situation heraus, konnte sie sich freuen, die Augen aufmachen, lachen und strahlen. Frau G. liebte Veilchen. Im letzten Frühling ihres Lebens brachte ich ihr so oft ich konnte ein Veilchen aus meinem Garten mit, hielt es ganz nahe zu ihrer Nase und ließ sie daran riechen. »Jö, ein Veilchen!«, rief sie begeistert und atmete den Duft tief ein. Sie streckte die Hand aus, nahm die kleine Blume, hielt sie ganz vorsichtig und behutsam zwischen Daumen und Zeigefinger und sagte inbrünstig: »Ist das schön!« Obwohl sie nichts sah und eine ausgeprägte Sensibilitätsstörung im Bereich der Finger hatte, hielt sie das Veilchen immer am Stiel, niemals an der Blüte.

Da ich wusste, wie sehr Frau G. Kinder liebte, erzählte ich ihr häufig von meinen beiden Söhnen. Sie genoss diese Unterhaltungen und lachte oft herzlich über ihre Streiche. Wenn ich zu ihr kam, fragte sie auch von sich aus immer nach ihnen. »Kinder sind ein Geschenk!«, sagte sie mit tiefer Überzeugung und staunte: »Ein neugeborenes Kind ist ein richtiges Wunder. Nach so kurzer Zeit im Mutterleib kommt es ganz komplett auf die Welt. Alles ist da und schon ganz fertig, es muss nur mehr wachsen!« Immer wieder erzählte sie von den Mädchen, die sie im Heim betreut hatte. Eines dieser »Mädchen« (sie ist mittlerweile auch schon eine alte Frau) kam sie bis zum Schluss besuchen.

Da Frau G. keine Familie hatte und ihre gleichaltrigen Freunde längst tot waren, bekam sie nur von wenigen Menschen Besuch. Eine Klosterfrau kam in regelmäßigen Abständen. Sie brachte immer ein wenig Obst der Saison mit; Frau G. freute sich sehr darüber. Ihre wichtigste Bezugsperson war »Helga«, eine Dame in mittleren Jahren, die regelmäßig einmal in der Woche für zwei Stunden auf Besuch kam. Helga saß bei ihr, plauderte mit ihr, brachte ihre heiß geliebten Soletti und auch etwas zum Naschen mit. Die Beziehung zu Helga war sehr innig und brachte viel Freude in ihr Leben. Helga behandelte Frau G. mit großem Respekt. Sie saß bei ihr, passte sich in allem, was sie tat oder sagte, an das Tempo der alten Frau an, plauderte mit ihr, las ihr vor oder war nur einfach da und streichelte sie. In ihrem letzten Lebensjahr rief Frau G. im Erwachen, aber auch wenn es ihr gerade sehr schlecht ging, oft nach ihr.

Großen Halt fand Frau G. bis zuletzt in ihrem Glauben. Wenn es ihr schlecht ging und sie Schmerzen hatte, sagte sie: »Es ist schwer für mich, aber Gott wird schon wissen warum«. Oft stellte sie auch fest: »Womit habe ich es verdient, dass Gott mir so ein langes, erfülltes Leben geschenkt hat? Ich habe sehr viel Grund, dankbar zu sein!« Niemals haderte sie mit ihrem Schicksal, niemals empfand sie ihr Dasein als sinnlos oder als Last. Bis zuletzt bewahrte sie die Fähigkeit, sich über kleine Dinge zu freuen: Im letzten Sommer brachte ich ihr einmal ein Butterbrot mit frischem Schnittlauch. Sie aß es Stück für Stück bedächtig und mit dem größten Genuss, dann seufzte sie begeistert: »Gott, war das gut!« Im vergangenen Winter, als es schon zu kalt war, um sie im Bett auf die Terrasse zu schieben, freute sie sich jeden Tag, wenn wir das Fenster aufmachten und sie den frischen Luftzug spürte. Einmal, es hatte in der Nacht geschneit, breitete sich, kaum dass ich das Fenster geöffnet hatte, ein frohes Lächeln über ihrem Gesicht aus. Sie sog hörbar die Luft ein und stellte begeistert fest: »Es riecht so gut nach Schnee!« Bis in ihre letzten Lebenstage, zu einer Zeit also, zu der ihr Bewusstsein immer mehr dahinschwand, freute sie sich immer noch, wenn wir ihr von ihren Soletti anboten, aß auch mit Freude und Genuss ein klein wenig davon.

Frau G. starb langsam, in ruhigen Wellen, die sich über mehr als ein halbes Jahr erstreckten. Ihr Sterben war wie ein langes, würdevolles Abschiednehmen. Das Leben nicht nur einfach zu beenden, war für sie bestimmt wichtig. Ich glaube, sie nahm sich für ihren Loslösungsprozess die Zeit, die sie brauchte. In dieser Phase zog sie sich mehr und mehr zurück und ruhte – wie der Garten im Herbst. Während ich sie so gut ich konnte auf dieser letzten Wegstrecke begleitete, fiel mir oft ein Satz ein, den ein alter Herr vor langer Zeit zu mir gesagt hatte, als sein Leben dem Ende entgegen ging: »Mädel, es hat alles seine Zeit …«

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