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Einleitung

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Unter der choreographischen Sprache höre man den wahren Text rauschen, den Subtext, den die französische, 2012 verstorbene Kritikerin und Tanzwissenschaftlerin Laurence Louppe als »Stil« bezeichnete.1 Doch geht sie in dem mit »Stile« überschriebenen Kapitel in ihrer Poetik des zeitgenössischen Tanzes weniger auf Roland Barthes’ »Rauschen der Sprache« ein als vielmehr auf die Effort-Theorie Rudolf von Labans, die sie als Modus des Bezugnehmens auf die Welt erläutert. Stil, für Louppe, manifestiere sich als etwas Unfassbares, »Vages und Ungreifbares«2, als etwas, »was der Zuschauer am unmittelbarsten wahrnimmt, was am schnellsten auf seine Sensibilität einwirkt. […] Er begnügt sich damit, die Wege zu bestimmen, durch die wir den ›Kern‹ der Bewegung erfassen werden.«3 Stil, so Louppe weiter, trägt »als Gesamtheit der Beziehungs-Dispositionen des Körpers die gesamte Botschaft des Tanzes in sich, in einem Infra-Text, dessen Lektüre berücksichtigt werden muss.«4

Louppes dringliche Formulierung motivierte dazu, über einen Begriff nachzudenken, der weder in der Theater- noch in der Tanzwissenschaft aktuell eine bedeutende Rolle spielt. Ganz im Gegenteil zu seiner Verwendung im Bereich der Lebensformen und Alltagsgestaltung, die seit Mitte der 1980er Jahre zu beobachten ist.5 Dieser Trend inflationärer Benutzung scheint ungebrochen.6 Hingegen beziehungsweise zumindest scheint »die ›große Erzählung‹ der stilgeschichtlichen Historiographie« am Ende zu sein, wie Wolfgang Brückle konstatiert.7 Entsprechend sind Publikationen, die sich generell mit Stil beschäftigen, in den letzten Jahren nicht sehr zahlreich.8 Tanzspezifisch widmet sich neben Louppe noch Geraldine Morris explizit dem Stil, und zwar dem des britischen Choreographen Frederick Ashton9.

In der Theaterwissenschaft ist der Stil-Begriff ein eher heikler. Nikolaus Müller-Schöll fasst in seinem Eintrag »Stil« die Problematik zusammen: »Der Bestimmung von St. wirkt praktisch entgegen, dass an jeder Inszenierung viele, einander häufig wechselseitig in Frage stellenden Akteure beteiligt sind. Daneben stößt jeder solche Versuch auf den Zufall und die sog. ›äußeren‹ Umstände im Theater.«10 Als Ausweg erscheint hier der Versuch, mit Roland Barthes’ »drittem Sinn« zu argumentieren, so Müller-Schöll, und dem Wandel des Theaters vom Schauspieler zum Performer Rechnung zu tragen:

Im Rahmen der neuen Aufgabe eines Tuns im Beisein von Gästen oder Teilnehmern (statt eines Vorstellens oder Spielens vor Publikum) werden traditionelle Formen der Stilbildung in der Gestaltung einer Rolle, eines Charakter etc. durch solche ersetzt, die an die je singuläre Besonderheit des einzelnen Performers gebunden sind, etwa an seinen spezifischen Tonfall, seine Stimmlage, seine Physiognomie, seine persönlichen Phantasmen und Einschränkungen.11

An die »Singularität des Darstellers«12 ist eine solche Stil-Skizzierung ange­lagert. Welche weiteren Optionen vorstellbar sind, Stil für zeitgenössisches Theater und zeitgenössischen Tanz produktiv zu machen – darum geht es in diesem Band. Wir zielen nicht in erster Linie auf eine neue Bestimmung von Stil (schon gar nicht eine abschließende), sondern wollen Stil als Suchfigur entfalten. Für unterschiedliche Gegenstände und für unterschiedliche historische Phänomene mit dem Zugriff von heute.

Das Rauschen unter der Choreographie

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