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Stilmerkmale der Tanzwissenschaft

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Wie wenig sich Stil gerade im Tanz über qualitativ eindeutige Merkmale bestimmen lässt und definitorisch aus ihnen hervorgeht, zeigt etwa Laurence Louppe in ihrem gedanklichen Parcours über Stile an:

An sich scheint der Stil im Tanz etwas Vages und Ungreifbares zu sein. […] Der Stil ist vollkommen unabhängig von jeglicher formaler Gestaltung: Er liegt nicht im Vokabular und auch in keinem der lexikalischen Parameter der choreographischen Handschrift, sondern innerhalb des Funktionierens dieser Handschrift. Er begnügt sich damit, die Wege zu bestimmen, durch die wir den ›Kern‹ der Bewegung erfassen werden.1

Konzipiert als ein poetologisches Projekt über den zeitgenössischen Tanz erliegt Louppe dem Streben, Stil als Modus von Tanz schlechthin aufzufassen. Stil gehöre demnach einem Unbestimmbaren an und »wäre somit die Seele des Tanzes selbst, die sich in luftiger Art und Weise, in verborgenem Innehalten, an den Grenzen zwischen Beweglichkeit und Unbeweglichkeit aufhält, diesseits und jenseits der Geste, und somit wahrscheinlich in ihrem Herzen«.2 Mit Blick auf konkrete Bewegungsweisen käme Stil durchaus zur Erscheinung, werde er doch quasi in der tatsächlichen Bewegungsperformance transparent und als ›innere Haltung‹ der Tanzenden bemerkbar. Mit explizitem Rekurs auf Rudolf von Labans ›effort‹-Theorie, die Louppe »als einen der Höhepunkte der ästhetischen Reflexion im Tanz«3 bewertet, gründet eine ›innere Haltung‹ auf einer körperlichen Ausgestaltung der aktivierten und wirkenden Kraftmomente. Tatsächlich qualifiziert Laban ›effort‹ kategorial nach eingesetzten Zeit-, Raum- und ›flow‹-Parametern sowie dem körperlichen Einsatz der Schwerkraft, die dichotomisch gegliedert (plötzlich – allmählich, direkt – indirekt, frei – gebunden, fest – zart) die Bewegung prägen. Aus ihrer Kombination und zusam­men­wirkenden Beziehungskonstellationen gehen die grundlegenden Antriebsqualitäten hervor, die Laban in acht Typen scheidet (Drücken, Flattern, Wringen, Tupfen, Stoßen, Schweben, Peitschen, Gleiten).4 Der darin jeweils artikulierte ›effort‹ qualifiziert, so betont Louppe, die stilistischen Merkmale der (Tanz-)Bewegungen, gleichwohl die innewohnende ›innere Haltung‹ nicht mit der Bewegungsqualität identisch und dennoch in ihr bemerkbar ist.5

Die zentrale Frage der Sichtbarkeit und Sichtbarmachung von Stil als innere Haltung stellt sich für Laban als ein zu gewinnender analytischer und erzieherischer Bewegungszugang, der den Modi der Veränderbarkeit und damit den Methoden der Modifizierung und Optimierung wirkender Kräfte in der Bewegung gilt.6 Labans Bewegungsforschungen richten sich in seiner englischen Exilzeit der 1940er Jahre in Zusammenarbeit mit dem Ökonomen F. C. Lawrence genau hierauf: Mit Blick auf bewegungsgestützte Arbeitsprozesse werden körperlicher Energieeinsatz und Kraftaufwand der Ausführenden analysiert und ihre Bewegungsabläufe an Hand gewonnener formaler und emotional-psychischer Strukturen trainiert.7 Rückblickend auf ihre Forschungsergebnisse merken Laban und Lawrence im abschließenden Kapitel »Thinking in terms of effort« ihrer Publikation Effort an:

Modern effort research has led to the discovery of the gradual transmutation of actions through the changes of single elements of effort, as, for instance, speed: But motion has more elements than one, and the harmonious interplay of all of them must be taken into consideration if the aim is to determine how far an operation has been performed efficiently.8

Ihre Analysen und Trainingsmethoden richten sich darauf, Nuancierungen in der Bewegungsausführung zu erzielen und einen harmonischen Ausgleich während der körperlichen Beanspruchung zu ermöglichen. Die individuelle Varianz habitualisierter Bewegungsmuster soll verändert und physisch wie mental optimiert werden. Laban und Lawrence heben hierzu wiederholt die Komplexität der ineinander verschränkten Wirkungskräfte aller beteiligten Bewegungsaspekte – ›flow‹, Gewicht, Zeit und Raum – hervor, denn erst ein bewusstes Zusammenspiel aller Aspekte ermögliche das Changieren zwischen den ›efforts‹ in Bewegung. Laban resümiert dieses Verständnis:

Die Fähigkeit einer Person, die Qualität des Antriebs, also die Art und Weise der Energiefreisetzung zu wechseln, indem Zusammensetzung und Abfolge der Komponenten variiert werden – und dies im Zusammenspiel mit den Reaktionen anderer Menschen auf solche Veränderungen –, macht das eigentliche Wesen der Pantomime [als Teil von Tanz – Anm. S. H.] aus.9

Die offensichtliche Differenz zwischen funktionalen und ästhetischen Bewegungsabläufen ist für Laban dabei eine graduelle. Gegenüber anderen hätten Tänzerinnen und Tänzer ein Denken in ›efforts‹ professionalisiert10 und ein Wissen über das changierende Zusammenwirken der Bewegungsanteile ausgebildet, das stilprägend für ihre Bewegung ist. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum für Laban Stil letztlich in einem qualitativen Vermögen gründet, ein Zusammenspiel differenter Bewegungsanteile als changierendes ›effort‹-Spektrum zu erwirken. So merkt er an:

Ins Auge fallende, ungewöhnliche Bewegungskombinationen markieren häufig die entscheidenden Stellen […], die feineren Stilnuancen werden erst erkennbar, wenn man intensiv den rhythmischen Gehalt der inneren Einstellungen studiert hat, aus denen heraus eine bestimmte Abfolge von Antriebskombinationen entstanden ist.11

Louppe perspektiviert Labans ›effort‹-Theorie unterdessen unter der Frage nach der Sichtbarkeit des Stilistischen, oder genauer unter der Frage, wie Stil als qualitatives Kennzeichen der Körperbewegung bemerkbar wird. Hierzu betont sie, dass Labans grundlegendes analytisches Interesse an den körperlich und individuell geprägten Antriebskräften (›efforts‹) nicht vordergründig der Bewegungsaktion gälte, der sichtbaren Gestalt einer Bewegung oder äußeren Form einer Geste. Seine Forschungen zielten vielmehr auf »qualitative Dispositive, die mit den ›inner attitudes‹ zusammenhängen.«12

Gegen Ende seines Lebens, als das Exil und die visionäre Suche nach dem Sinn der Bewegung ihn vollkommen vom Tanz entfernt haben, interessiert sich Laban nicht mehr dafür, was der Tänzer oder der ›Bewegende‹ tut, sondern dafür, was in seiner Bewegung liegt – und sogar noch vor der Bewegung, in ihrer Initiationsphase, wo sich die qualitativen Schattierungen aufbauen.

Denn besonders durch den stilistischen (qualitativen) Aspekt jener Beziehungsdispositive wird eine Bewegung, tänzerisch oder nicht, zum Träger dessen, was Laban die moralischen oder philosophischen ›Werte‹ (values) nennt, die uns im wahrsten Sinne des Wortes ›begeistern‹ (›animieren‹).13

Stil zeigt für Louppe demnach den ›Kern‹ der Bewegung an und artikuliert eine der Bewegungsperformance vorgängig eingenommene und ausgebildete Haltung, die sich in der Bewegung wirksam zeigt. Es ist eine artikulierte, dem Subjekt zugeordnete Kraft der Verwandlung, die nicht mit einem ›effort‹ identisch und doch aus dem Wissen seiner wandelnden Gestaltungskräfte hervorgeht. Der Modus des Wahrnehmbarwerdens von Stil ist gleichsam einem Aufmerken geschuldet, das gerade nicht der sichtbaren Formgestaltung der Bewegung gilt. Vor dem Hintergrund dieser bewegungstheoretischen Perspektivierung fasst Louppe die qualitative Dimension von Stil folgerichtig als »Subtext«, ja sogar als »wahren Text« der Bewegung, »den man unter der choreographischen Sprache rauschen hört.«14

Die ›Werte‹, die von unseren Intentionen getragen werden, siedeln sich in den Randbereichen des Sichtbaren an und können oft durch eine Geste, das Aushalten einer Dauer oder eine Orientierung im Raum erscheinen.15

Doch was vermag ein solcher Stilbegriff als ästhetischer Denkraum zu leisten, der gleichsam auf einen unsichtbaren und doch wahren Kern von Bewegungen zielt? Louppes Indienstnahme des Stilbegriffs, der einer wirkenden und doch der Sichtbarkeit entzogenen Gestaltungskraft gilt, erfüllt genau jene wissenschaftliche Funktion, die Pfeiffer für den Stilbegriff herausgestellt hat: »Mit ihm kennzeichnen wir die expressive Prägnanz, die von sprachlichem wie nichtsprachlichem Verhalten und Handeln ausstrahlt. […] Im Begriff des Stils versammeln wir nunmehr jene expressiven Reste an Werten und Normen, an Kohärenz und Totalität, ohne welche wir an Phänomenen wohl nicht mehr interessiert wären.«16 Da Louppe mit dem Stilbegriff kein qualitatives bewegungsästhetisches Terrain erschließt, das mit einer tanztechnisch verankerten Bewegungskompetenz der Tanzenden und deren potentiell ausdifferenzierbaren Merkmalen übereinkommt,17 eröffnet sie einen ästhetischen Denkraum, der einem Wahrheitsdiskurs angehört. Hervorgekehrt werden Qualitäten expressiver Prägnanz, deren Wert eine intentionale Haltung im Bewegen beschreibt. Doch hat Louppe weder die von Laban ausgearbeitete tänzerische Verwandlungsgabe zwischen differenten Bewegungsqualitäten im Blick, noch spürt sie einer ästhetischen Struktur von Schönheit nach, die jenseits eines totalitären Denkens eine mitgeführte Ungeheuerlichkeit bedenkt. Um so dringlicher stellt sich die Frage nach der Funktion eines solchen ästhetischen Diskurses, der letztlich einem mystischen Moment tänzerischen Ausdrucks gilt.

Das Rauschen unter der Choreographie

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