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Zu den Beiträgen:
Оглавление»Wer sich heute (noch) mit dem Stilbegriff beschäftigt«, zitiert Sabine Huschka in ihrem Beitrag »Stil: Ein indifferentes Merkmal und die Arbeit an Erkenntnis« den Literaturwissenschaftler K. Ludwig Pfeiffer, »gerät schnell in einen eigentümlichen Schwebezustand«. Mit ihm bestimmt Huschka Stil als schwer fassbaren Begriff und ästhetischen Denkraum und zeichnet mit Laurence Louppe Rudolf von Labans Effort-Theorie nach, in der die zentrale Frage nach der Sichtbarkeit von Stil verhandelt wird. Hier macht Huschka – am Beginn des Bandes – deutlich, dass Laban Stil als Wissen um Bewegungsqualitäten konzipiert. Weiter zeigt sie, dass Stile an Umbruchstellen wahrnehmbar werden und führt das an Auguste Vestris aus, einem markanten Tänzer des späten 18. Jahrhunderts, der von tradierten Vorstellungen, wie zu tanzen sei, abwich und die normativen Grenzen der Rollenfächer verschwimmen ließ. Da dieser Rahmen für heutige Choreograph*innen kaum mehr eine Rolle spielt, so Huschka, hat der Stilbegriff an Bedeutung verloren, zugunsten hybrider Bewegungs- und Tanztechniken und der kritischen Reflexion biopolitischer und theatraler Vorgaben für den tanzenden Körper.
Nicht nur im Tanz ist der Bedeutungsverlust des generischen Stils zu diagnostizieren. Auch in bildender Kunst, Schauspiel und Architektur wandelt sich der Stilbegriff. Stil geriet in eine Krise, die mit dem Schwund der Legitimation von künstlerischer Tradition und tradiertem Handwerk zusammen gesehen werden muss. An die Stelle des generischen Stils tritt ein Personalstil. Dem grundlegenden Zusammenhang von Individualisierung und Technik geht Wolf-Dieter Ernst im Rückgriff auf den Soziologen Ulrich Beck in seinem Beitrag »Stil, Technik und Risiko – eine kulturhistorische und kulturökonomische Skizze« nach. In den Fokus rücken Theaterprojekte wie Disabled Theatre von Jérôme Bel und die Dombauarchitektur sowie Fragen nach den gesellschaftlichen Zusammenhängen, welche die Entwicklung technischer und stilistischer Merkmale bestimmen, ermöglichen oder verhindern sowie nach den Regeln, die Stil zu- und umschreiben oder auch verweigern.
Am Stadttheater Osnabrück kamen in den vergangenen Jahren Rekonstruktionen von Mary Wigmans Le Sacre du Printemps und von ihren zwei Totentänzen heraus. Maßgeblich daran beteiligt war die Tanzwissenschaftlerin und Dramaturgin Patricia Stöckemann, die im Gespräch mit Thomas Betz Stil im Ausdruckstanz diskutiert. Der lässt sich trotz Individualitätspostulat dieses »Neuen Tanzes« schwer fassen. Technisch und was die Qualitäten anlangt, hat Rudolf von Laban mit seiner Raumharmonielehre (Choreutik) und seiner Ausdruckslehre (Eukinetik) ein umfassendes System von Bewegung(smöglichkeiten) formuliert, auf dessen Basis dann zahlreiche Tanzschaffende der Epoche arbeiteten, speziell Labans Schüler*innen und Mitarbeiter*innen, zu deren prominentesten Mary Wigman und Kurt Jooss zählen.
Evelyn Annuß untersucht in ihrem Beitrag »Bewegungs- als Regierungskunst: Zum ›tänzerischen Stil‹ Hanns Niedecken-Gebhards« eine bewegungschorische Avantgarde-Ästhetik in ihrem grundlegenden Wandel von der Führungspraktik (im Thingspiel) zur Selbstlenkungspraktik (im ornamentalen Stadionspiel). Die propagandistische Form tänzerischen Regierens reperspektiviert Annuß als Stilfrage der Tanzproganda biopolitisch, »um die gesellschaftlichen Tiefendimensionen einer Bewegungskunst der Massen der Zwischenkriegszeit zu erkunden und die grundlegenden Kräfteverschiebungen zu skizzieren«. Die, so Annuß’ These, auf zeitgenössische Regierungstechniken im Foucault’schen Sinn verweisen, auf deren Dispositive, Wandel und Fortleben.
In einem Oral-History-Projekt fokussieren Claudia Jeschke und der Tänzer Rainer Krenstetter in »Re: George Balanchine – Stil und Divertissement« drei Männer-Variationen in Werken des 1983 verstorbenen Choreographen. Die für die Lecture Performance, die für diese Publikation modifiziert verschriftlicht wurde, untersuchten Ausschnitte aus Divertimento No. 15 von 1956, Serenade (1935) und Stars and Stripes (1958) werden hinsichtlich des von Zeitzeug*innen konstatierten »Balanchine Style« im Hinblick auf Balanchines Umgang mit der Musik, mit dem Schrittmaterial des Ballettrepertoires und mit dem Raum befragt. Identifiziert wird ein »Kinesic Style«. »Der Balanchine-Stil«, so das Fazit, »spiegelt demnach weniger eine Person oder Technik oder Ästhetik, als dass er vielmehr ein Register von Potentialitäten offeriert – Möglichkeiten von kreativer Bewegung, von künstlerischer Repräsentation und von Interpretation.«
Christina Thurner nimmt in ihrem Beitrag »›my dance! my style!‹ Selbstfashioning, Selbstreflexion und Stil im zeitgenössischen Tanz« in den Blick, wie Stil zwischen einem ›Ich‹ und ›Welt‹ vermittelt, indem auf kulturelle Identitäten referiert wird und diese inszeniert werden. Die Exklamation »my dance! my style!« bringt demnach eine relationale, referentielle und dynamische Konstellation auf den Punkt, die von der zeitgenössischen Tanzkunst wiederum aufgegriffen wird, um so Fragen nach dem ›Ich‹, dem ›Eigenen‹ und der ›Welt‹, den ›Identitäten‹, der ›Wahrnehmung‹, dem ›Tanz‹ usw. ästhetisch zu reflektieren. Am Beispiel des Solos Private: Wear a mask when you talk to me von Alexandra Bachzetsis wird verdeutlicht, wie Stil heute als fließende, historisch-, gesellschaftlich- und kulturell-referentielle multiple Situierung aufzufassen ist.
Katja Schneider stellt die Frage, wie Stil konturiert werden kann, um ihn für den zeitgenössischen Tanz produktiv zu machen. Im Fokus ihres Beitrags »›what if a body moved like this through the world?‹ Zu Stil und zeitgenössischem Tanz« steht die Überlegung, dass der Rezeption von Stil eine Einübung in kulturelle Normierungen, in kulturelles Wissen, in Konventionen und kognitive wie sensuelle Wahrnehmungsweisen vorausgeht. An Beispielen von Raimund Hoghe, Jérôme Bel, Trajal Harrell und Richard Siegal zeigt sie, wie Stilphänomene Kontextwissen generieren, funktional verknüpfen, manifestieren und für die Rezeption triggern. Ziel ist es zu skizzieren, dass Stil oder besser das Stilistische sich nicht auf einen formalen Stil reduzieren lässt, sondern den Blick lenkt auf die Artikulation und Wahrnehmung kultureller Bedingungen und Implikationen.
Im letzten Kapitel wird Stil gedacht erstens als eine Art und Weise des Tuns, manifestiert in Praktiken und Techniken, zweitens als eine Art und Weise des Zeigens, des Sichtbarmachens, vermittelt durch Bilder, Merkmale, Markierungen sowie drittens eine Art und Weise des Verhandelns über die Arten und Weisen von Tun und Zeigen, eine diskursive Ebene, die ideologisch, ästhetisch, politisch etc. motiviert sein kann: »Street Dance Stil & Style« ist der Beitrag von Nic Leonhardt gewidmet. Wie, wodurch, worüber? Verstanden als Modi von Stil wird dies diskutiert am Beispiel des Videos A-Z of Dance, an HipHop-Mode und -Marken sowie an Hiplet™. Im Falle der Trias von Street Dance, Stil und Style, so der Befund, sind gerade deren unabdingbarer Bezug aufeinander sowie die Mesalliance von scheinbaren Paradoxa Garant für ihre Beständigkeit.
Mein Dank gilt allen Beiträger*innen des vorliegenden Bandes, Prof. Dr. Christopher B. Balme für die Aufnahme in die Reihe Forum Modernes Theater sowie Thomas Betz für redaktionelle Mitarbeit. Dank auch an den Bayerischen Landesverband für zeitgenössischen Tanz (BLZT) für die Unterstützung dieser Publikation.
Der vorliegenden Publikation ging das Symposium Das Rauschen unter der Choreographie. Überlegungen zu »Stil« voraus, das vom 12. bis 14. Mai 2017 im Theater HochX in München stattfand, in Kooperation von Access to Dance und DANCE 2017, Festival für zeitgenössischen Tanz der Landeshauptstadt München.
Katja Schneider München, im August 2018