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6. Fazit und Vermutungen

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Die wesentlichen Fragen zur Aneignung von Lesekompetenz durch Zweitsprachenlernende wurden empirisch noch nicht in Angriff genommen (so auch Lesaux/Geva 2008): Abgesehen davon, dass Textverstehen generell eine Schwäche von language-minority students ist, wissen wir viel zu wenig über die Natur ihrer Textverstehensprobleme. Es fehlen Informationen bezüglich demografischer und kontextueller Faktoren, z.B. zur Bedeutung der Jahre gezielten Unterrichts in der Zweitsprache im Verhältnis zu den Leistungen in diesem Bereich oder zum Verhältnis von mündlichen zu schriftlichen Sprachleistungen usw. (ebd.: 49). Für Schüler/innen der „Risikogruppe“ mit und ohne fremdsprachlichen Hintergrund kann in Übereinstimmung mit vorhandenen Studien lediglich empfohlen werden, den Förderschwerpunkt auf die grundlegenden Fertigkeiten der Wort- und Satzerkennung und auf eine Erweiterung des Wortschatzes zu richten – was allerdings kein Argument gegen die ganzheitlichen literaturbezogenen Verfahren sein kann! In diesem Sinne argumentiert auch Grabe (2009).

Auch in den höheren Klassenstufen darf die schulische Leseförderung die basalen Lesefertigkeiten nicht aus den Augen verlieren. Denn: Wenn auf der Wort- und Satzebene nur langsam und fehlerhaft dekodiert wird, wie es bei DaZ-Schüler/innen meist auch in der Sekundarstufe oder der Berufsschule der Fall ist, stellen sich Folgeprobleme beim Verstehen des Textinhaltes ein – die disfluente Lektüre erschwert den Aufbau einer kohärenten mentalen Textrepräsentation und behindert unmittelbar das weitere Lernen. Die Maßnahmen zur Förderung der Leseflüssigkeit sollten darauf abzielen, die Qualität und den Automatisierungsgrad des Dekodierens zu verbessern, die Lesegeschwindigkeit zu steigern und die Fähigkeit zur expressiven prosodischen Gliederung auszudifferenzieren. Wer flüssig und angemessen sequenziert liest, stellt bereits Leseverstehen auf der Satzebene unter Beweis. Allerdings sollte im Blick bleiben, dass eigenständiges Lesen mehr Kompetenzen verlangt als das Lautlesen mit seinen portionierten kurzen Texten in geregelten kooperativen Routinen – und dass eigenständiges Lesen das Ziel aller Leseförderung ist und bleibt.

Soweit das Fazit – allerdings resultieren aus den skizzierten Studien mehr offene Frage als gesichertes Wissen. Forschungsdesiderate zur Leseförderung mehrsprachiger leseschwacher Schüler/innen sollen abschließend angeführt werden:

Möglicherweise verbessert sich durch die Lautleseverfahren auch der Wortschatz. Leider haben wir diese Komponente nicht getestet, der Wortschatz wurde nur als Bedingungsfaktor herangezogen. Das könnte für einsprachige Schüler/innen ebenso gelten wie für mehrsprachige. Damit ein geschriebenes Wort aus dem Kontext heraus verstanden und in den Sichtwortschatz aufgenommen wird, braucht es die ggf. mehrfache aufmerksame Lektüre des Wortes, die Lautleseverfahren gewähren. Gesichert scheint, dass die sprachliche Oberfläche der Lesestoffe für die Förderung möglichst einfach sein sollte; erzählende Kinderliteratur ist insofern ideal geeignet. Jeuk (2015: 143f.) schlägt zur Kompensation des kleineren Wortschatzes und der größeren Schwierigkeiten mit der Morphosyntax Textvereinfachungen für die Deutsch-Lernenden vor.

Ein weiterer Bereich des Profits durch Lautlesetandems könnte die Einübung in schriftsprachliche Satzkonstruktionen sein. Wenn genuin literale Satzformen mehrfach gelesen werden, könnte das Verstehen und der Gebrauch von deutschen schriftsprachlichen Satzmustern gewissermaßen über das "Einschleifen" syntaktischer Regeln erworben werden. Auch hier gilt: Das ist überaus sinnvoll für Schüler/innen mit nicht ausreichend entwickelten sprachlichen Fähigkeiten – die es unter den mehrsprachigen wie unter den einsprachigen "Risikokindern" gibt.

Zu Vielleseverfahren kann vermutet werden, dass ihre Voraussetzungsfülle an den fehlenden Effekten auf der Prozessseite des Lesens beteiligt ist. Die Vorstellung, dass durch die Involviertheit in die spannende, interessante oder lustige Geschichte die Lesemotivation so angeregt wird, dass Lesehürden im hierarchieniedrigen Bereich überwunden werden, ist nicht ganz unberechtigt – denn viele Kinder werden ja auf diesem Weg zu Leser/innen. Aber es fallen eben auch zu viele aus diesem Königsweg zum habituellen Lesen heraus und werden schnell von den Lesefortschritten der anderen abgehängt, wenn ihre Kompetenzen nicht zum Lesematerial passen. Auch das betrifft die mehrsprachigen nicht anders als die einsprachigen schwachen Leser/innen.

Eigenständiges engagiertes Lesen ist und bleibt das übergeordnete Ziel aller Leseförderung! Das Setting eines Lautleseverfahrens, bei dem portionierte adaptive Texte vorgelegt werden, bei dem die Lesezeit seitens der Lehrkraft eingeteilt und überwacht wird und bei dem ein/e Partner/in die gemeinsame Aufmerksamkeit aufrecht erhält, entfaltet eine stark unterstützende Wirkung, wie gezeigt werden konnte. Es kann aber nur ein früher Schritt auf dem Weg zum eigenständigen Lesen sein. Ohne eine anregende, vielfältige und auch mehrsprachige schulische Lesekultur ist die Aneignung von Lesekompetenz als die Fähigkeit, Lesen für die eigenen Lebensvollzüge zu gebrauchen, für die Schwächeren wohl kaum erreichbar.

Zusammenfassung

In diesem Kapitel wurden Verfahren zum weiterführenden Lesen im Rahmen des Deutschunterrichts fokussiert auf mehrsprachige Schüler/innen vorgestellt. Beschrieben bzw. diskutiert wurden Verfahren, 1. die auf literarisches Lesen bzw. auf extensive Lektüre von Kinder- und Jugendliteratur zielen, 2. die den Erwerb von Textverstehens-Strategien anzielen und 3. die die Entwicklung der Leseflüssigkeit anstreben. Die Wirksamkeit der Verfahren wurde im Blick auf Flüssigkeit und Textverstehen dargestellt. Insgesamt wurde argumentiert, dass eigenständige Lektüre für die leseschwächsten etwa 20 Prozent der Schüler/innen in der Grundschule und Sekundarstufe mit altersangemessenen Texten tendenziell zu voraussetzungsreich ist, um deutliche Wirkungen für das Textverstehen zu entfalten. Das gilt auch für die üblichen Verfahren zur Strategievermittlung. Lautleseverfahren zeigen dagegen gute Erfolge; ob sie über die Flüssigkeitsförderung und das bessere Textverstehen hinaus auch weitere Profite bei Wortschatz und syntaktischen Fähigkeiten für Mehrsprachige bieten und ob spezifische Strategien für Mehrsprachige entwickelt und im Deutschunterricht vermittelt werden könnten, bleiben offene Fragen.

Studienfragen

1 Was ist mit dem Begriff „Sichtwortschatz“ gemeint? Warum soll bei Lautleseverfahren ein Text grundsätzlich mehrfach gelesen werden?

2 Warum vermutet man, dass die Lektüre von Kinderliteratur die Lesemotivation von Kindern steigert?

3 Welche Lesestrategien können spezifisch für Lernende mit nicht deutscher Familiensprache formuliert werden?

[bad img format]Lektüreempfehlungen

Rosebrock, Cornelia/Nix, Daniel (2017): Grundlagen der Lesedidaktik und der systematischen schulischen Leseförderung. 8., überarbeitete und erweiterte Auflage. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.

Bertschi-Kaufmann, Andrea (2016): Offene Formen der Leseförderung. In: Bertschi-Kaufmann, Andrea/Graber, Tanja (Hrsg.): Lesekompetenz – Leseleistung – Leseförderung. Grundlagen, Modelle und Materialien. 6. Auflage. Seelze: Klett Kallmeyer, S. 170–182.

Mehrsprachige Leseförderung: Grundlagen und Konzepte

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