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1. „Lesen lernt man durch Lesen“ – buchorientierte Verfahren

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Das literarische Lesen steht traditionell bei der Leseförderung im Deutschunterricht in allen Altersstufen im Zentrum. Literarische Lektüre eröffnet, so erhofft man sich, Teilhabe an Kultur und Geschichte der Sprachgemeinschaft; sie unterstützt die Ausbildung einer eigenen Persönlichkeit, fördert die Imaginationsfähigkeit und die Bereitschaft, fremde Perspektiven einzunehmen, und schließlich übt sie auch Lesefertigkeiten ein. Literarische Lektüre sollte entsprechend nicht nur im eigentlichen Literaturunterricht geschehen, sondern auch in leseanimierenden Projekten, dann oft mit weniger anspruchsvollen Texten als beim zielorientierten literarischen Lernen. Solche Leseanimationen sind gleichsam am Rande des Literaturunterrichts angesiedelt, beispielsweise in Form von Büchernächten, Autorenlesungen, Buchvorstellungen, Bibliothekskontakten und Ähnlichem. In leseanimierenden Projekten wird zwar nicht unmittelbar gelesen, aber doch zum Lesen verlockt – ihnen geht es besonders um Lesefreude, um die Motivation und Bereitschaft, literarisches Lesen als persönlichen Modus des In-der-Welt-Seins, als Erfahrungspotenzial zu entdecken, das in die eigenen Lebensvollzüge habituell integriert werden kann (Bertschi-Kaufmann 2016). Stilles Lesen ganzer Bücher gilt schließlich als eine der effektivsten Praktiken zur Unterstützung des Zweitspracherwerbs (Ockey/Reutzel 2010; Neuland/Peschel 2017), Kinder- und Jugendbücher sind wegen ihrer niedrigen Textkomplexität und ihrer thematischen Lebensweltnähe das ideale Medium dafür. Leseförderung durch eine Steigerung der Lesemenge folgt dem Gedanken „Lesen lernt man durch lesen“ (vgl. Manning/Lewis/Lewis 2010). Denn flüssiges Dekodieren ist auf Übung angewiesen, Leseverstehen darüber hinaus auf Welt- und Textwissen: Beides wird durch viel Lektürepraxis erworben.

Allerdings tun sich gerade schwache Leser/innen schwer mit einem Unterricht, der auf diese Verfahren setzt und entsprechend offen angelegt ist. Sie tendieren dazu, den Lektüreprozess selbst zu meiden. Um dem entgegenzuwirken, kann die Lektüre in die Unterrichtszeit verlegt werden oder das regelmäßige Lesen von Kinder- und Jugendbüchern wird über eine längere Zeit hinweg verordnet. Dann wird es mit Anreizen oder Sanktionen versehen, um sicherzustellen, dass tatsächlich gelesen wird. Die Freiheit der Lektürewahl wird aber trotzdem gewährt, um den Freizeit-Charakter des Lesens wenigstens ein Stück weit zu wahren. Solche Vielleseverfahren gehen über Animationen hinaus, indem sie die eigenständige Lektüre von Büchern tatsächlich einfordern (vgl. detailliert Lange 2012). Im Unterschied zum eigentlichen Literaturunterricht inszenieren sie viel Lektüre und wenig oder keine weitere gemeinsame Verarbeitung des Gelesenen, die Menge steht klar im Vordergrund. Gute spätere Leser/innen, so kann man nämlich beobachten, blicken regelmäßig auf Viellesephasen in ihrer Kindheit und Jugend zurück – viel Lesen steigere gewissermaßen von selbst die Motivation und darüber auch die Lesekompetenz, so die optimistische Annahme, die diesen Verfahren zugrunde liegt.

Es liegt nah, in diese mehr oder weniger offenen Konzepte von Leseförderung – in den gezielten Literaturunterricht, in Leseanimationen oder in Vielleseverfahren – literarische Texte in den Herkunftssprachen der mehrsprachigen Schüler/innen einzubeziehen: Kinder- oder Jugendbücher, die außer in Deutsch auch in den Herkunftssprachen vorliegen, können als Klassenlektüre im Literaturunterricht, in leseanimierenden Settings oder auch im Rahmen von Vielleseprogrammen angeboten werden. Dadurch wird das eigenständige Lesen angeregt, die Familiensprache der Kinder wird ebenfalls gefördert, der „monolinguale Habitus“ (Gogolin 1994) in der schulischen Begegnung mit Texten wird relativiert und die Erstsprachen werden wertgeschätzt – das sind alles lesedidaktisch erstrebenswerte Ziele. In Anschlusskommunikationen nach der Lektüre und in weiteren Textverarbeitungsschritten kann Mehrsprachigkeit dann als Ressource für das individuelle Textverstehen und für das interkulturelle Miteinander im Schulunterricht wirksam werden (vgl. Schiedermair 2017; Naphegyi 2015; Jeuk 2017).

Das übergeordnete Ziel des Deutschunterrichts, nämlich die Vermittlung deutscher (Schrift-)Sprache und Kultur, muss in solchen Settings nicht notwendig vernachlässigt werden. Denn nach der Lektüre kann die weitere literaturunterrichtliche Verhandlung des Textes ihren Schwerpunkt im Deutschen haben. Die Zugänglichkeit zur deutschen Textfassung ist für die Migrantenkinder durch die Erstlektüre in der Herkunftssprache erleichtert, sofern die Sprachkenntnisse ausreichend gut sind. Dann unterstützt der Einbezug der anderen Sprachen direkt die sprachlichen und literarischen Lernprozesse, die Mehrsprachigkeit wird als Kompetenz erfahrbar. Wenn man annimmt, dass Migrantenkinder ein gesteigertes Interesse an Themen aus dem Kulturkreis ihres Herkunftslands haben, lässt sich der Erfolg eines solchen Vorgehens theoretisch schlüssig begründen: Das Interesse wirkt sich positiv auf die Wertkognition aus, es erhöht die Anstrengungsbereitschaft und macht den Leseaufwand lohnenswert (vgl. Möller/Schiefele 2004: 117f.), sodass intrinsische Lesemotivation und Erfolgserlebnisse entstehen. Wenn das häufig geschieht, werden solche Leseerfahrungen relevant für das lesebezogene Selbstkonzept und können Buchlesen zur Gewohnheit werden lassen.

Allerdings setzen Vielleseverfahren einige Kompetenzen auf Seiten der Schüler/innen voraus: Bei DaZ-Schüler/innen müssen die sprachlichen Kompetenzen in der Herkunftssprache ausreichend entwickelt sein. Zudem muss sich der Leseprozess selbst in der Herkunftssprache bereits so flüssig vollziehen, dass eigenständiges Textverstehen möglich ist. Schließlich werden lesekulturelle Erfahrungen vorausgesetzt wie beispielsweise Wissen über Textsorten, Erfahrungen mit den eigenen Lesebedürfnissen, Imaginationsfähigkeit und die Bereitschaft, sich emotional an den Geschehnissen zu beteiligen, Zielorientierung und nicht zuletzt ein „langer Leseatem“, der seinerseits Engagement für den Leseprozess selbst verlangt.

Das alles ist bei schwachen Leser/innen, auch bei denen ohne Mehrsprachigkeitspotenziale, regelmäßig nicht der Fall (Jörgens/Rosebrock 2011). Entsprechend wurde in der Folge von PISA die Leseförderung im Rahmen des Deutschunterrichts von den Autor/innen der Studie scharf kritisiert: Diese Konzepte ignorieren die Probleme schwacher Leser/innen. Denn die notwendigen mentalen Strategien des Textverstehens werden nicht explizit gelehrt, sondern vorausgesetzt. Zudem sei die Orientierung der Leseförderung ausschließlich auf literarische Texte nicht zielführend: Schwache Leser/innen müssen die bildungssprachlich verfassten Sachtexte aus den verschiedenen Wissensdomänen, denen sie in den Fächern und später im Alltag und Beruf begegnen, verstehend lesen können (vgl. z.B. Artelt/Schlagmüller 2004: 183). Im Zuge des PISA-Schocks haben sich entsprechend nicht nur die Konzepte der Leseförderung im schulischen Kontext reformiert, sondern der Begriff des Lesens selbst hat sich im gesellschaftlich-kulturellen Maßstab verändert: Bis zur Jahrtausendwende war er deutlich stärker bildungsbürgerlich und literarisch grundiert als es heute der Fall ist. Die Dominanz literarischer Texte in der Lesesozialisation hat sich in den Verläufen der literalen Sozialisation allerdings trotzdem gehalten: Auch gegenwärtig bestimmen die inhaltlich und sprachlich einfacheren Texte der Kinder- und Jugendliteratur faktisch den Übergang vom learning to read in den ersten etwa sechs Schuljahren hin zum reading to learn, das in der Sekundarstufe eingefordert wird. Mit ihnen wird im Verlauf der Lesesozialisation das Lesen soweit eingeübt, dass es selbst mühelos wird – allerdings eben nicht bei allen, wie bereits gesagt.

Mehrsprachige Leseförderung: Grundlagen und Konzepte

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