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3. Förderung der basalen Teilkomponenten – Leseflüssigkeit

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Leseschwache Kinder und Jugendliche lesen in aller Regel weit langsamer, fehlerhafter und stockender vor als sie sprechen können, und zwar auch dann, wenn der Text keine in ihrer Bedeutung unbekannten Wörter enthält. Für das Lesen in der Muttersprache lässt sich daraus schließen, dass sie die Wortgestalten, vor denen sie stocken, noch nicht in ihren Sichtwortschatz, das mentale Lexikon, aufgenommen haben. Bei Mehrsprachigen ist ggf. nicht nur das der Fall, sie stolpern zudem auch deshalb über einzelne Wörter, weil sie ihnen in allen drei Dimensionen – Lautgestalt, grafische Erscheinung, Bedeutung – unbekannt sind. Dann müssen sie sie wie ein/e Erstklässler/in im Schriftspracherwerb lautierend erlesen und versuchen, dem so Entzifferten eine Bedeutung zuzuordnen. Bei Kindern und Jugendlichen, die in den Lesetests der Leistungsstudien Defizite beim Textverstehen zeigen, lassen sich nicht immer, aber eben sehr häufig Stockungen, Verlesungen, ein insgesamt zu langsames Lesetempo und eine wenig textgerechte Intonation auch bei einfachen Texten beobachten, kurz gesagt: Probleme bei den basalen Teilfertigkeiten von Lesekompetenz, bei der Leseflüssigkeit. Bei der Gruppe der 12- bis 13-Jährigen in der Hauptschule und in den entsprechenden Zweigen von Gesamtschulen ist das der Fall: In Lesetests zeigten sie nicht nur Probleme beim Textverstehen, sondern auch erheblich unterdurchschnittliche Leistungen bei der Lesegeschwindigkeit, die als Indikator für die Leseflüssigkeit gelten kann (vgl. Rosebrock/Rieckmann/Nix/Gold 2010).

Das ausschlaggebende Argument für ein Primat der Förderung der basalen Lesefähigkeiten liegt im Voraussetzungscharakter, den die hierarchieniedrige Fähigkeit Leseflüssigkeit gegenüber den hierarchiehohen Fähigkeiten des Textverstehens hat: Wenn die Wort- und Satzerkennung durch Automatisierung flüssig geworden ist, muss sich der Leser/die Leserin nicht mehr auf die Buchstaben-, Silben- oder Worterkennung konzentrieren. Die Silben, Wörter und Wendungen sind dann in seinem Sichtwortschatz gespeichert. Dieser Sichtwortschatz ist ein mentales Lexikon, in dem die Lautgestalt eines Wortes oder Wortteils, seine grafische Erscheinung und seine Bedeutung miteinander verbunden niedergelegt sind. Ab Schuleintritt wird er systematisch aufgebaut; am Ende der Grundschule sollte der Sichtwortschatz angemessen reichhaltig sein, sodass beispielsweise Texte der Kinderliteratur flüssig gelesen werden können. Flüssig heißt: Auf Wortebene werden annähernd alle Wörter automatisiert und fehlerfrei erkannt und verstanden. Auf Satzebene zeigt sich eine akzeptable Lesegeschwindigkeit von deutlich über 100 Wörtern pro Minute beim Vorlesen (die normale Sprechgeschwindigkeit liegt bei etwa 120–160 Wörtern pro Minute, eine normale Lesegeschwindigkeit erreicht beim stillen Lesen etwa 300 Wörter pro Minute) und eine der Syntax angemessene Prosodie; beides ist beim Vorlesen der natürlichen Sprechgeschwindigkeit bzw. Intonation angenähert (vgl. Rosebrock/Rieckmann/Nix/Gold 2011).

Die Automatisierung der Wort- und Satzerkennung eröffnet eine mentale Entlastung vom Entziffern, die ihrerseits die kognitiven Ressourcen für das Textverstehen freigibt. Man kann sich die Wirkung der Automatisierung am Beispiel anderer komplexer Leistungen vergegenwärtigen: Etwa das Autofahren oder ein Musikinstrument zu spielen sind solche Leistungen. Erst wenn das Schalten, Kuppeln, Blinkersetzen und Abbremsen „in Fleisch und Blut“ übergegangen sind, kann der/die Fahrer/in auch noch den Nachrichten im Radio verstehend zuhören; erst wenn die Finger beim Klavierspielen „von alleine“ wissen, welche Bewegung vollführt werden muss, kann sich der/die Musiker/in mental dem größeren Zusammenhang der Töne, nämlich Melodie und Rhythmus, zuwenden.

Automatisierung wird prinzipiell durch Üben erworben. Das Prinzip des Übens ist die variierende Wiederholung. Auf das Lesen bezogen ergeben sich aus diesen Überlegungen zwei Förderansätze: Mit sogenannten Lautleseverfahren kann der Leseprozess selbst überwacht und ggf. korrigiert werden, und er kann wiederholt werden, bis der Übungstext flüssig erlesen werden kann. Wenn die Übungstexte ausreichend lang sind, können die Wörter und Sätze bei der wiederholten Lektüre nicht mehr einfach memoriert und auswendig daher gesagt werden, sondern müssen erneut erlesen werden. Die Lesung des gleichen Textes kann so oft geschehen, bis er flüssig vorgelesen werden kann, was heißt, dass alle in diesem Text gegebenen Wörter und Wendungen tatsächlich im Sichtwortschatz abgelegt und veknüpft wurden.

Die zweite Option wurde oben schon unter dem Begriff Viellesen genannt: Sie besteht in einer Erhöhung der Dosis. Wenn viel gelesen wird, so die Argumente für eine Wirkung von viel Lektüre auf die Leseflüssigkeit, dann werden Wörter immer wieder auftauchen und auf diese Weise angeeignet, sodass sich Leseflüssigkeit sukzessive einstellt. Man hofft, dass das Interesse an der Story die Lesemotivation aufrechthält, sodass auch tatsächlich gelesen wird (dazu unten ausführlicher). Zudem steigert das viele Lesen das Weltwissen, ebenfalls eine wichtige Teilkomponente von Lesekompetenz.

Mehrsprachige Leseförderung: Grundlagen und Konzepte

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